Jung-Stilling in Gedichten bei Max von Schenkendorf

JUNG-STILLING IN GEDICHTEN

BEI MAX VON SCHENKENDORF

von

Dr. Erich Mertens,

Lennestadt

Leicht veränderte, autorisierte Online-Fassung aus Michael Frost (Hrsg.): Blicke auf Jung-Stilling. Festschrift zum 60. Geburtstag von Gerhard Merk. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1991, Seite 135 bis 159. – Die gewerbliche Nutzung des Textes bedarf der schriftlichen Zustimmung des Copyright-Inhabers, der Jung-Stilling-Gesellschaft e.V., Siegen (Deutschland)

Nur von wenigen Kennern und Liebhabern des Schönen wird heute noch die schöne Sitte gepflegt, zu besonderen Ereignissen im Leben eines Menschen diesem durch eine poetische Gabe Freude zu schenken. Im allgemeinen fasst man derartige Texte unter dem Begriff “Gelegenheitsdichtung” zusammen. Noch Martin Opitz rechnete diese Dichtung unter die hohe Poesie, warnte aber in seinem “Buch von der Deutschen Poeterey” vor dem Missbrauch dieser vom Epigramm bis zum Festspiel reichenden Dichtungsform. Er befürchtete, dass die Würde der Poesie gefährdet werden könnte durch das Erscheinen solcher Texte auf allen Schüsseln und Kannen.

Aber die Gesellschaft wandelte sich wie der Poesiebegriff und das Selbstverständnis der Poeten. Die Meinung des Publikums über diese Dichtungsart änderte sich ebenfalls. Man schätzte diese auch “Carmina” genannten Texte weniger und verwendete sie nicht mehr so häufig; ja, sie verschwanden nahezu.

Erst Johann Wolfgang Goethe sah wieder Sinn in Gelegenheitsgedichten. So forderte er seine Zeitgenossen in den “Zahmen Xenien” auf, der Gelegenheit ein Gedicht zu schaffen. Das individuelle Erlebnis überlagert von nun an das äussere Ereignis, das zum Anlass, zur Gelegenheit wird, zum Teil ganz anderes auszudrücken.

A. Schenkendorf und Jung-Stilling

Wenn im folgenden nun Gelegenheitsgedichte des ostpreussischen Dichters Max von Schenkendorf vorgestellt werden, so soll er damit nicht auf eine Stufe mit Johann Wolfgang von Goethe gestellt werden. Dazu gibt es zu grosse Unterschiede! Aber auch in den Poesien Schenkendorfs verbirgt sich neben dem je konkreten Anlass eine ganz persönliche Einstellung des Autors zu der Gelegenheit, dem äusseren Anlass. Viele seiner Gedichte beginnen mit einem einleitenden “An …”, “Auf …”, “Bei …”, “Während …”, “Zu …”. Sie zeigen so die konkrete Situation an.

Hier soll nun Schenkendorfs Einstellung zu dem in den Gedichten gefeierten Johann Heinrich Jung-Stilling dargestellt werden. Lediglich sechs Texte Max von Schenkendorfs sind jetzt von Interesse. Zwei davon gehören nur bedingt in die Darstellung. Das eine ist nicht an Johann Heinrich Jung, sondern an seine Tochter Karoline gerichtet. Das andere entstand im Sommer 1815 in Baden-Baden während eines Kuraufenthaltes. Es bleiben eigentlich nur vier Gedichte übrig, die näher betrachtet werden sollen: drei ‘Geburtstagsüberraschungen’ und ein Lied zur Silbernen Hochzeitsfeier Jungs.

Die Kombination der biographischen Daten mit der Entstehungszeit dieser Gelegenheitsdichtungen zeigt die Verschränkungen von Gelegenheit, Anlass, Erlebnis und Empfindung. Da an anderer Stelle ausführlich die Biographie Schenkendorfs in ihrem Zusammenhang mit Johann Heinrich Jung-Stilling dargestellt ist, sollen hier nur die wichtigsten Daten gegeben werden, die zum Verständnis notwendig sind.

1812.07.?? Schenkendorf verlässt Königsberg, um seiner Geliebten, der verwitweten Henriette Elisabeth Barklay geb. Dittrich, nach Karlsruhe nachzuziehen, die dort mit Barbara Juliana von Krüdener in der Umgebung Jung-Stillings lebt

1812.08.29 (ante) Schenkendorf trifft, aus Königsberg kommend, bei Johann Heinrich Jung-Stilling in Karlsruhe ein

1812.12.15 Eheschliessung Henriette E. Barklay und Max v. Schenkendorf; Jung-Stilling erwirkte die Heiratserlaubnis; Geburtstag der Frau von Graimberg

1813.01.01 Jung-Stilling trägt sich in Schenkendorfs Stammbuch ein

1813.04.20 Schenkendorf verlässt Karlsruhe, um am Befreiungskriege teilzunehmen

1813.11.19 Elisabeths-Tag, Namenstag der Gattin Schenkendorfs; Hochzeitstag Jung-Stillings; Schenkendorf kehrte am 10.11. aus dem Felde nach Karlsruhe zur Gattin zurück; er ist Agent des Zentralverwaltungsrates unter dem Freiherrn vom Stein und feiert bei Jung-Stilling mit

1814.09.12 An Vater Stillings Geburtstag, den 12ten September 1814. (‘Dem Büchlein dein bin ich so hold’)

1815.06.?? Vater Stillings Tisch in Baden-Baden 1815 (‘Hier steht ein Tisch’)

1815.06.30 Elisabeth Jung trägt sich in Baden-Baden abschiednehmend in Schenkendorfs Stammbuch ein

1815.07.01 Caroline Jung trägt sich am Abreisetag Schenkendorfs in Baden-Baden abschiednehmend in dessen Stammbuch ein

1815.07.14 b. a. w. Schenkendorf als Verwaltungsbeamter in Aachen

1815.09.12 Gesang zu Vater Stillings Fest, den 12. September 1815. (‘Erschalle laut aus frommer Brust’)

1815.11.01 Allerheiligenfest. An Karoline Stilling, 1815. (‘Träumt’ ich ewig doch den Traum’)

1815.11.19 Zur Stillingschen silbernen Hochzeitsfeier. Karlsruhe, am 19. November 1815. Gedichtet und gedruckt zu Köln am Rhein. (‘Licht und Recht strahlt weit und breit’; ‘Wir singen unsern Herrn’)

1816 bis zum Tode Schenkendorf als Verwaltungsbeamter in Koblenz

1816.09.12 Dem sieben und siebzigsten Geburtstag seines verehrungswürdigen väterlichen Freundes Heinrich Jung genannt Stilling gewidmet durch Max von Schenkendorf. Karlsruh, am 12. September 1816. (‘Der Herbst hat seinen Thron genommen’)

1817.03.22 Tod Elisabeth Jungs im Alter von 61 Jahren

1817.04.02 Tod Johann Heinrich Jung-Stillings im Alter von 77 Jahren

1817.12.11 Tod Max von Schenkendorfs im Alter von 34 Jahren

1821.05.10 Tod Caroline Jungs im Alter von 32 Jahren

1840.09.28 Tod Henriette Elisabeth von Schenkendorfs im Alter von 66 Jahren.

Schenkendorf hat – nach der ersten persönlichen Bekanntschaft mit der Familie Johann Heinrich Jung-Stillings – nahezu alle Feste, die ihm zu besingen möglich waren, mit einem lyrischen Text bedacht. Es fällt auf, dass dreimal der Geburtstag des gebürtigen Siegerländers, einmal ein Familienfest – die Silberne Hochzeit, – einmal eine Gelegenheit während der gemeinsamen Kur in Baden-Baden und einmal ein katholischer Feiertag der Anlass waren, poetisch tätig zu werden. Nicht immer war der Dichter der Carmina selbst bei den Feiern anwesend.

 

B. Gleichklang der Grundüberzeugung

Jung-Stilling bemühte sich, das Leben eines rechtschaffenen, wahren Christenmenschen zu führen. Ihm ging es um das Bewahren der alten, rechtgläubigen Lehre, die sich in der eigenen Lebensführung zeigen sollte. So wird er – auch gegen die Aufklärung – zum ‘Patriarchen der Erweckung’. Zugleich zeigte ihm sein Lebenslauf, dass er – im schlichtesten Wortsinne – ‘DEI GRATIA’ – ‘von Gottes Gnaden’ – war; also Zeichen und Anerkenntnis des allwaltenden göttlichen Willens. So zählte er sich wohl in Anlehnung an Psalm 35, 20 zu den Stillen im Lande und wird seitdem zu den Pietisten gerechnet. Im Kreis um Frau Barklay in Königsberg und in dem um Jung-Stilling in Karlsruhe lebte man aus dem Bewusstsein, dass Gott der Ursprung aller Lust, aller Freude ist, die man weitergeben muss. Zugleich weiss man, dass Gott das Ziel ist, dem das Leben gilt. So überrascht nicht, was Jung-Stilling in Max v. Schenkendorfs Stammbuch eingeschrieben hat: “Die Liebe zu Christo ist der Magnet [,] der die Seele ins ewige Göttliche Element zieht.”

Dieses Ziel des Lebens, das Ende der Lebenswanderung, des Lebensweges ist für Schenkendorf klar: “Denn auf gleichen Wegen Ziehn wir einem Land, Einem Heil entgegen!” – Nicht ohne Grund hat er sein erstes Stammbuch unter das Motto von 1. Korinther 3, 11 gestellt: “Einen anderen Grund kann niemand legen ausser dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus” In dem 1814 in den Christlichen Gedichten erstmals gedruckten Lied Sehnsucht heisst es:

“Hätt’ ich Flügel, hätt’ ich Flügel, […],
Folgt’ ich immer meinem Herrn: […]
Der uns rufet, der uns leitet,
Unser holder Freund verschwand.
Aufgehoben, aufgenommen
In den Himmel ist er nur;
Herrlich will er wiederkommen,
Seine Treuen, Stillen, Frommen
Folgen immer seiner Spur.”

Und in “Der Weltgeist”, schon 1808 in den Studien publiziert, klingt auch Jakob Böhme an, wenn es heisst:

“Was soll dies Sinnbild sagen Am Himmel aufgestellt? Verweist es unsre Klagen Auf eine bessre Welt? Wird sich ein Morgen röthen? Kann nichts den Glauben tödten? Steht ihm die Heimath offen? Und darf er mehr als hoffen?
Du bist es, der die Musen, Die himmlischen, uns schenkt, Der in des Menschen Busen Die ew’ge Sehnsucht senkt. Du hast ihr die Aurore Der Hoffnung aufgestellt, Und der die Abendhore Erinn’rung zugesellt.”

Schenkendorf sieht in seinem Leben ebenfalls Gottes Fügung und Vorsehung walten, wenn er schreibt, dass er z. B. einen Ämtertausch bei seiner Versetzung nicht dulden kann: “besonders [,] wenn man ein Amt als eine göttliche Berufung ansieht, und gewohnt ist [,] des Glaubens an eine besondere göttliche Lenkung zu bedürfen.” Aber er kennt auch innerhalb dieser akzeptierten PROVIDENTIA DEI den Kampf ums Recht; den Kampf um das eigene Recht, was zeigt, dass man bereit ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um dem selbstgesetzten Lebensziel bei Wahrung der Überzeugungen zu folgen: “Wo wir auch sind und unser Werk und Wanderschaft treiben, sind wir doch des Herrn stellt er einmal fest.”

An anderer Stelle, im Gedicht “Der Stuhl Karls des Grossen”, heisst es: “Und was Gott will, mag geschehn”. Drückt doch hier das Wort ‘mag’ aus, dass es ein sich Ergeben in Gottes Willen ist, dem man sich hingibt. So ist er schliesslich bereit, “seinen Stab weiter zu setzen und hinzugehen, wohin Gott mich schickt, denn Gott ist uns doch noch etwas mehr als ein Feldherr und Er und die Liebe, und die Sterne, und Deutschland sind ja dort [in Magdeburg] wie hier” [in Koblenz].

Und dennoch: Der Mensch ängstigt sich vor der Zukunft. Jung-Stilling greift 1810 das Beispiel des Schmetterlinges – und damit ein altes christliches Auferstehungsbild – auf. Dieses Symbol des Seidenwurms, der sich ängstigt und ringt und endlich als Schmetterling Ruhe findet, stellt er seinem Gottvertrauen voran.

So auch Max von Schenkendorf. Er akzeptiert Jung-Stillings Wahlspruch “Der Herr wird’s versehen”, meint aber dennoch: “Die Zeit hat uns zwar genugsam gelehrt, daß Gott anders rechnet als wir – aber doch soll man seinen Verstand gebrauchen”. Und an Frau von Auerswald schreibt er 1816: “Mich macht nichts irre in dem Glauben [,] den ich der Zeit abgewonnen habe. Ich fühle gleichsam den Hauch der Verjüngung und sehe den lebendigen Gott durch die Welt schreiten. Wohl allen [,] die sich nicht ärgern und ihn nicht verläugnen!”

Schenkendorf weiss: “Es ist eine schwere Zeit, die Regen wie die Thränen-Wolken hängen dicht über einem, aber doch sind sie geröthet von dem himmlischen Licht, welches nicht nachläßt zu arbeiten und sich Bahn zu schaffen durch Wolken wie durch die Winde [,] welche ein Herz umziehen möchte”. Schon 1813 heisst es: “Stillings wunderbare Führung, und der durch dieselbe in ihm unerschütterliches Grundprinzip gewordene Glaube an spezielle Leitung und Gebetserhörung Gottes mußte wohl manchen ärgern. Doch hielt man ihn nur für einen unschädlichen Schwärmer”; und weiter: “Er gilt für einen Schwärmer – Doch wer gilt nicht dafür? und bald wird das wohl ein Ehrentitel seyn”.

Auch heute, so meine ich, hat es “das Schiff, das sich Gemeinde nennt”, schwer, in den – im biblischen Sinne “abendlichen Stürmen” zu steuern, fehlt doch häufig dieses Gottvertrauen. Jung-Stilling und Schenkendorf waren bereit, die Ankunft des Herrn jederzeit zu erwarten. Auch heute noch sollte man als Christ die Öllampen brennend und bereit halten, wie die klugen Jungfrauen es in Mt 25, 1–13 tun. Von Jung-Stilling und Max von Schenkendorf wurden die klugen Jungfrauen als Vorbild betrachtet.

 

C. Familiengedichte

 

I. An Vater Stillings Geburtstag

Diese einleitenden Bemerkungen helfen, die an Jung-Stilling gerichteten Texte zu verstehen. Das Gedicht “An Vater Stillings Geburtstag” erinnert an die zunächst nur literarische Bekanntschaft mit Jung-Stilling durch die Lektüre von dessen Werken, der dann die persönliche folgte. Alle Vorurteile verschwanden mit der Begegnung, die dem Ostpreussen einen Mann zeigte, der “Am Hof und in der losen Welt treu sein Stillings Herz bewahrt hatte”. Angeredet als “Biedermann, Gotteszeuge und Christus-Held” zeigt sich Jung-Stilling als der Rechtschaffene, der wahrhaft christlich Gesinnte. Er gehört damit zu den Treuen, die in einer feindlichen Umwelt einen “Wiederschein vom ew’gen Licht”, also von “Gottes Treue, Gottes Kraft” zeigen.

Damit wird deutlich, dass Jung-Stilling sich vorbildlich verhält. Nicht ohne Grund hatte Schenkendorf 1813 geschrieben: “Hier [in Karlsruhe] gedeiht wenig von dem [,] was uns das heiligste ist, es ist das auch nicht füglich möglich in einer kleinen Residenz [,] die nur von Offizianten und den 1000 Ab- und Rüksichten derselben bewohnt wird, (Rüksichten sinds die unsern Geist berücken, zur Absicht jede Aussicht gleich erkalten) an einem Hofe [,] der nicht teutsch [,] nicht französisch ist”. Und an einem solchen Hofe galt Jung-Stilling bei der gewöhnlichen Welt für einen Religionsschwärmer, er war aber ein echt christlich-frommer Mann, höchst einfach, der die Philosophie der Lebenserfahrung geltend machte. So empfand es das Fräulein von Scharnhorst, die Hofdame der Königin Friederike von Schweden.

Das Paradox von “Der alten Sagen junge Lust” zeugt davon, dass der “riesenhafte fromme Geist der alten Zeit” nun auf den Traditionen des mittelalterlichen Reiches und der frohen Botschaft des Christentums neu in einer dieser Botschaft fremd gegenüberstehenden Welt zum Tragen kommt. “Der alte Gott lebt noch, unser Glaube, unser gute Wille auch!” ruft Schenkendorf einmal aus. Er bekennt an anderer Stelle: “ich habe Ehrfurcht vor der Kirche, dem Thron, dem Testament der Väter, und jenen Nahmen [,] die so alt als unsre Geschichte mit allen Erinnerungen derselben und den Wurzeln unsers Volkes verwachsen sind”. Das Wort “alt” beinhaltet bei ihm immer etwas Treues, Liebes, Ehrwürdiges, Teueres, Wahres.

Es sind also Wertvorstellungen, denen er einen hohen Rang einräumt. Im Jahr 1813, gleich nach der Bekanntschaft mit Jung, schreibt er in der angespannten politischen Lage: “so soll es meine Bemühung und mein Stolz seyn, in dieser Zeit des allgemeinen Falles ein rechtes Bild der Dauer und Beständigkeit darzustellen”. Im Jahr 1817 heisst es dann: “ich meine aber [,] unsre Jünglinge bedürfen etwas anders [,] als sentimentale Spatziergänge; Gelehrsamkeit, lebendige Erscheinungen aus der alten Zeit, in Bildern und Gebärden, und dann ein grosses und würdiges bürgerliches Gesamtleben mit dem Schatze von Realien der nothwendig damit verbunden ist”, ist unumgänglich. Dies sieht er durch Jung praktiziert. Herzlich, innig verbunden ist Schenkendorf also schon von Beginn an dem Wahl-Karlsruher im Verfolg dieser Ziele.

Die persönliche Bekanntschaft wandelt dann die Vorstellungen in “höherm Strahl” um zu einem Erleben. Stillings “Haus wird” später zum “Haus der alten Treue”, wie die Bibel es im 2. Korinther 5, 1 und 2 Petrus 1, 12 f. meint. In seinem Lied “Warum er ins Feld zog” heisst es:

Ich zieh’ ins Feld, dass ferner gelte
Mein Adel, meine Wappenzier,
Dass mich der Ahnen keiner schelte
Einst an des Paradieses Tür.

Nach Stillings Tod schreibt Schenkendorf rückblickend, recht eigentlich die Leistung Jung-Stillings würdigend: “Es frägt sich überhaupt ob man etwas Grosses Allumfassendes will, oder ob man [wie Jung] bescheiden ist, ob man mit dem Zeitgeist, dem schlechten, gehen, oder dagegen kämpfen soll. Freilich scheint es, als könnte der Muth und der Wille nicht hoch genug seyn. Aber Was wäre dem Muthe, der Treue, dem Glauben und der Liebe unmöglich! Jung-Stilling gehört zu denen, die ein rechtes Bild der Dauer und Beständigkeit sind, der einmal treu und rein und schwer genug befunden [werden] wird in der Wa[a]ge des Weltenrichters”. Denn er hat in seinem Leben die hohen Massstäbe erfüllt, die an einen Christen gestellt werden.

Schenkendorf erbittet dann für sich Stillings Segen ebenso, wie dessen Kinder ihn empfangen, und bietet ihm – neben dem üblichen Gruss – auch sein Herz an. Er sieht sich als dessen Kind, sprich auch in einem Brief vom “kindlichen Verhältnis”, in dem er zu Jung-Stilling stehe. Hier hatte ein Freundschaftsbund im Geiste begonnen, den Johann Heinrich Jung später ebenfalls mit Roxandra Stourdza schloss und dem Zar Alexander I. sich anzuschliessen wünschte. In dieser Bitte um Segen anerkennt Schenkendorf in Jung denjenigen, der (durch Gott) berechtigt ist, anderen Gutes zu wünschen, zuzusprechen. So ist Jungs Gesicht – ein Anklang an Matthäus 17, 2 – verklärt, zeigt damit dessen Auszeichnung vor anderen Menschen durch Gott, der immer in seiner Kraft und Treue bei ihm ist.

II. Gesang zu Vater Stillings Fest

Im “Gesang zu Vater Stillings Fest” wird dieser Bezug durch die Vielzahl der biblischen Anklänge noch verdeutlicht. Gott hat Jung-Stillings Haus “Ein Bild aus alten Zeiten” werden lassen. Die “alten Bilder an der Wand” sind Schenkendorf auch die “Bilder beßrer Zeiten”, die er wieder zurücksehnt. Johann Heinrich Jung ist Abbild, Bild des “ew’gen Vaters”, und verkündet durch sein geprüftes Leben Gottes Lob. Das Gedicht greift auf, was im ersten anklang und verdeutlicht hier das Gottvertrauen, in dem der Verfasser lebt.

Schenkendorf hat – wie der Adressat – die ewige Liebe Gottes verspürt, die niemals “die Seinigen” verlässt. Gott als Ursprung aller Freude gibt Jung-Stilling die Kraft, sein schweres Leben zu führen. Dafür müssen ihm Danklieder gesungen werden. Im ernsten Gang der Zeiten klingen die “100 Tage Napoleons” an, die damals als Zeichen der Endzeit gedeutet wurden; sind doch Gottes “Boten Sturmwinde und Feuerflammen”. Die Einbildung der Menschen war zu gross; “Da musste Gott durch einige handgreifliche Denkzettel, Recidive [Rückfall; Wiederkehr einer Krankheit] und dgl. zu verstehen geben, wovor [… man] sich noch immer zu hüten hätte, d. i. vor dem […] zu frühen Stehen auf eigner Kraft”.

Der Mensch, so meinten sie, brauche manchmal Gottes Knute, denn “Ein solcher Schmerzenskelch ist ja zugleich auch ein Liebeskelch, und wer leerte dann nicht gerne bis auf den Grund” Nämlich, so lautet es im “Frühlingsgesang an das Vaterland”: “Alte Sünden müssen sterben In der gottgesandten Flut”. Dies alles, um dem Reiche Gottes den Weg zu bereiten. Gebete der Menschen erflehen dieses Reich, das ihre Heimat ist. So schrieb sich Caroline Jung nach der Zitation von Johannes 9, 4 u. a. mit den Worten “Unser stilles Gebet begleitet Sie auf allen Ihren Wegen, so wie unsere treue Liebe, die mit hinüber geht, in die ewige Heimath” in Schenkendorfs Stammbuch ein. Gebete waren es, die einen kleinen Kreis der Getreuen um Stilling zusammenhielten. In den Briefen, die man damals wechselte, ist immer wieder die Bitte zu hören: Beten Sie für mich, so, wie ich es für Sie tue! – Jungs Gattin Elisabeth schrieb nur einen Tag zuvor in dasselbe Stammbuch unter Betonung der Freundschaft: “Was von dem Ewigen kom[m]t bleibt Ewig stehn”.

Darf der Christ mehr erhoffen als die Huld Gottes, wie sie Joseph in Genesis 39, 21 und hier dem Hause Stillings gewährt wurde? Auch in diesem Gedicht ist wieder vom Hause die Rede und von den nimmermehr veraltenden Wahrheiten: Gottes Liebe bleibt ewiglich bei den Menschen, wie es Jeremia 50, 5 und das Symbol des Friedens-, des Regenbogens Genesis 9, 13ff und Offenbarung 4, 3 versprechen. Die Häuser der Patriarchen sind Vorbild, sind Verpflichtung. Auch die Ahnenbilder der eigenen Familie im “Brief in die Heimat” spornen zu tugendhaftem Tun an: “Die alten Bilder an der Wand, Ich dürfte sie [sonst] nicht grüssen”. Ähnliches lässt sich finden in dem Gedicht “Die altdeutschen Gemälde”: Die Tradition, das Alte, das Wahre, und damit der Grund des Glaubens und des Lebens, werden in die eigene Zeit gewünscht, gesehnt.

III. Zur Stillingschen silbernen Hochzeit

Das dritte, hier näher zu besprechende Gedicht “Zur Stillingschen silbernen Hochzeitsfeier” sandte Max von Schenkendorf aus dem fernen Aachen nach Karlsruhe.

Vier Gründe sprechen für seine ausführlichere Behandlung:

– zum einen, weil es aus der Mitte des zu behandelnden Zeitraumes stammt;

– zum anderen, weil es von einem Zitat aus Johann Heinrich Jungs Lebensgeschichte eingeleitet wird;

– zum weiteren, weil es im Siegener Museum als hier erstmals zu beschreibendes Seidenband aufbewahrt wird;

– und zum letzten, weil es als Separatdruck erhalten ist.

Den Einzeldruck bewahrt die Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Berlin, ehem. Preuss. Staatsbibliothek, im “Nachlass Meusebach 4: Max v. Schenkendorf, Nr. 85” auf.
1 Doppelblatt im Format 107 x 165 mm; = 4 Seiten; ohne Wasserzeichen und Rippung. Auf S. 1r unter Zeile 3 runder Stempel; Inschrift “Ex Biblioth. Regia Berolinensi”. Textverteilung: Seite 1r = Zeile 1–15; Seite 1v = Zeile 16–39, Seite 2r = Zeile 40–63, Seite 2v = Zeile 64–73.

Dasselbe Gedicht auf Seidenband gedruckt ist Besitz des Siegerlandmuseums in Siegen und hat die Signatur “J. St. 30”.

Gezwirnte, flache Seide (Stick-/Plattseide); äusserst dicht gewebt, heute leicht bläulich/grünlich schimmernd bei insgesamt silbernem Farbeindruck. Der Text scheint durch das Band durch, ist aber nicht durchgedruckt bzw. durchgefärbt. Zackenmuster am Rande, Fransen oben und unten. – Gesamtlänge: 1192 mm; Seidenband 1120 mm incl. je 3 mm Steg oben und unten + goldfarbige, oxydierte kordelartige Fransen (evtl. vergoldetes Silber?) oben 37 mm, unten 35 mm lang; oben 46, unten 44 Fransen. Breite: 60 mm. Steg: Das Seidenband nach hinten umgeschlagen, die Fransen vorne aufgesetzt und mit weisser Seide (?) vernäht. Die Webkante ist als Zackenmuster ausgeführt, bei dem je sieben Fäden im Abstand von 2 mm pikotähnliche Zacken ergeben. Auf 100 mm finden sich rund 13 dieser Rapporte. Am linken Rand wiederholt sich der Rapport 161, am rechten Rand 162 mal. In der Höhe des Textes “Ein Viertel vom Jahrhundert” fehlt links ein Muster (= 53. von unten; = 109/110); rechts sind vom drittletzten Muster nur noch Reste vorhanden (= 160. von oben; 159/160). Titel beginnt bei Schussfadenrapport 57/58, die Namensunterschrift findet sich bei Muster 112/113. Zwischen diesem Muster und dem bedruckten Seidenband findet sich links und rechts ein 2 mm breiter Randbereich, in dem die Kettfäden nicht die Dichte des übrigen Bandes haben. — Bedruckt nur 370 mm, frei oben 370, unten 380 mm. Insgesamt ist der Text schief auf das Band gedruckt; oben beträgt der rechte Rand 3 mm, unten 1 mm. — Proportionalschrift, Fraktur, Spatium vor Kommata. Majuskelhöhe: 2 mm. Die Schmucklinien haben (betrachtet in der Reihenfolge von oben nach unten) eine Länge von 14; 19,5; 33 und 25 mm. Die Namensunterschrift ist um 14 mm eingerückt. Sollte das Band vielleicht einem Geschenk umgebunden gewesen sein? Die langen unbedruckten Seidenteile eigneten sich gut als Schleife.

Beide Texte scheinen von demselben Druckstock hergestellt worden zu sein; selbst die Textdiagonalen der Strophen lassen keinen Unterschied feststellen. Allein Zeile 15a ist im Seidenband hinzugekommen, da hier nicht die Trennung durch den Seitenwechsel darauf aufmerksam macht, dass ein Zitat vorliegt.

Nicht unerfahren war Schenkendorf im Gestalten von Silbernen Hochzeiten. Im Jahre 1807 hatte er das Fest des Kriminalgerichtsdirektors Ernst Gottlob Morgenbesser mit dem Festspiel “Die silberne Hochzeit bei den Zigeunern” begangen. Den Tag der Silbernen Hochzeit seiner Eltern feierte der Dichter 1808 mit der gesamten Familie in einem Saale, an einem Tische. Nun hatte er die Freude, seinem “frommen, weichen und kindlichen Stilling” eine Überraschung zukommen zu lassen. Eine ausführliche Schilderung des Festes gibt Christine Jung in ihrem Buch “Aus den Papieren einer Tochter Jung-Stillings”, Barmen 1860, im Achten Bild. Erwähnt wird Schenkendorfs Text nicht, doch ist er später – wie andere seiner Gedichte – abgedruckt.

Der erste Abschnitt des Gedichtes zitiert die achte Strophe des Liedes “Hört, ihr lieben Vögelein”, das der Jubilar selbst 37 Jahren zuvor in seinen Jünglingsjahren veröffentlicht hatte. Dort steht es an der Stelle, da sich Jung-Stillings Leben einem neuen Abschnitt zuwandte. Hier ehrt es den Jubilar durch die Zitation, und sicherlich sind die Anklänge an die Kirchenlieder “Die güldene Sonne” von Philipp von Zesen und von Paul Gerhardt nicht zufällig.

Ein solcher Feiertag ist ein Tag des Dankes, und so beginnt das Lied mit einem Dank im Ton eines Kirchenliedes: Gott wird gedankt für seine Unterstützung, die sowohl geistiger als auch leiblicher Art ist. So ist ebenfalls der Bund von Mann und Frau von ihm selbst gesegnet und zu einem verklärten “Erdentraum” geworden. Diese Ehe ist vorbildlich, so dass Gott gebeten wird, die Pforte des Hauses zu salben: Danach werden die Übel “Kummer, Neid und Zorn” wie die ägyptischen Plagen an Jung-Stillings Heim vorübergehen. Jakob Böhme klingt wieder an in den Begriffen “Quelle” und “Kräfte”; ein “frischer Born Des Wassers” mag in diesem Haus entstehen, wie es Offenbarung 22, 1–5 angedeutet ist. So wird “Liebe, Fried’ und Segen” auch auf den verschlungenen Wegen sein, die das Paar noch zu gehen hat. “Stillings (Lebens-)Fahrt” ist damit weiterhin für alle Mitmenschen vorbildlich, macht sein Haus zum “Bild Von alter deutscher Art”. Die Gattin ist dabei unermüdlich tätig.

Im Siegerland wurde der Grund gelegt für diesen “Ehrenschatz”. Dort wurde bewahrt, was alt und treu am Ursprung geblieben war. Wie damals “Vater Stilling” schon, wie Deuteronomium 33, 16 nahelegt, gesegnet war, so ist nun Jung-Stilling ausgezeichnet und gesegnet. Die silbergrauen Haare, der biblische Schmuck des Alters, deuten es an. Er ist auf der “Fahrt”, und das doppelte “Mit Gott!” zeigt, dass man auf dem Wege ist, wie die Wege-Texte im Evangelium nach Lukas es ausweisen.

Die Zeichensetzung ist hier in einigen Ausgaben unterschiedlich: “Mit Gott! Mit Gott! fortan!” meint, dass man auf den verschlungenen, sich “drehenden” Lebenswegen, “fortan”, also ferner, weiterhin nur mit ihm unterwegs sein will. Ohne Zusatz steht der Ausruf hier, was zeigt, dass er alles und dies alles allein mit Gott meint. “Mit Gott! Mit Gott! fortan Gefragt nicht, noch verwundert”; dagegen bedeutete, dass fernerhin jeder Zweifel sich verbiete. Dies setzt aber bestehende Zweifel voraus, die von nun an durch Gottvertrauen übertönt werden. Beides ergibt Sinn durch die beiden letzten Verse. Die Zeitstufe der Gegenwart deutet meines Erachtens aber eher auf die erste als auf die zweite Möglichkeit hin, zumal die beiden vorausgehenden Verse dies unterstützen:

Heil ihm [d. i. Gott], Heil dem, was kommt!
Wie sich die Wege dreh’n,
Wir wissen, dass uns frommt,
Was ist und wird gescheh’n!

Gottes Vorsehung und Fürsorge, die PROVIDENTIA DEI, werden akzeptiert, denn

Er sprach das ew’ge Wort,
Ist nah’ und fehlet nicht
In keinem Land und Ort.

Er ist bei denen, die wie die klugen Jungfrauen seine Ankunft erwarten.

IV Dem sieben und siebzigsten Geburtstag

Das letzte an Jung-Stilling gerichtete Gedicht, “Dem sieben und siebzigsten Geburtstag …”, blickt dagegen zurück auf das gastliche Stillingsche Haus, als der Dichter Karlsruhe endgültig verlassen musste, um für immer in Koblenz zu bleiben. So trägt es auch in Caroline Jungs Papieren den Titel “Abschied an Stilling”.

Dieses letzte gemeinsame Fest gibt dem “Wandersmann” noch den erneuten Segen, als er den Herd des Patriarchen, das “Haus der alten Treue” verlässt. Im doppelten “Fahr wohl” erwidert dankbar der “Wandersmann” diese Gabe. Der Umgang der Familienglieder liess Besucher die Nähe Gottes erahnen, so dass der Segen Jung-Stillings und die Erfahrung dieses Familienlebens Schenkendorf den Frieden Gottes zusprach. So kann er über sein Familienleben dann – das Vorbild vor Augen – dankend sagen: “das häusliche Leben übt sein altes und heiliges Recht aus”.

War im ersten Text Schenkendorfs noch Eberhard Jung der Patriarch, so ist es nun Jung-Stilling selbst, dem die Flamme des “Patriarchenherdes” noch lange glühen soll. Das “vielgeprüfte Haupt” darf sich auch weiterhin nicht neigen, denn es muss noch vielen anderen Menschen den Weg zu Gott zeigen; muss andere empfänglich machen für die Liebe Christi, die “die Seele ins ewige Göttliche Element zieht”. Dazu diente die weitreichende Korrespondenz des Patriarchen, der – wie Dorow meinte – “in seiner einfach frommen, aber tief eindringenden Rede wie ein wahrer Apostel der ersten Christenheit erschien”.

In seinem Kondolenzbrief an Jungs Schwiegersohn Schwarz schreibt dann Schenkendorf: “Das war wieder einmal der Tod eines ErzVaters, der die Kinder und Enkel um sich gesammelt, und sie segnet und prophetische Worte spricht. Was wir mit unsern Augen gesehen, und an unser Herz gedrückt haben [,] das soll uns, ein heiliges Bild, durch unser Leben begleiten.

Versteht man die Wörter im übertragenen Sinn, so beginnt der Text trotz der düsteren Hinweise auf den Lebensabend, das Lebensende, dennoch “frö[h]lichchristlich”: Am Ende der Reise richtet man sich – wie im täglichen Leben – traulich ein. Es ist die ersehnte eigentliche Heimat, die den langen Winter, die Nacht im biblischen Sinn, das Erdenleben, erträglich macht. In Erwartung dieses Eintretens in die eigentliche Heimat ist auch Schenkendorf ganz ruhig, weiss er doch: “Gottes ewige Liebe ist immer bei ihm.”

Selbst die Familienglieder Jungs werden im Text erwähnt: Die Gattin wird mit dem umschlingenden Efeu verglichen, die so den Gemahl schmückend und stützend umgibt. Ein kleiner Hinweis nur auf die Bedeutung dieser dritten Frau Jungs, die an ihrem Jubeltage der Silbernen Hochzeit einen Efeukranz getragen hatte. Sie half dabei, dass Jung-Stilling “Mit jenem und mit diesem Reich die Blicke teilen konnte, da sie — wie es im vorigen Lied heisst — nie müde war Zu schaffen und zu pflegen”.

Caroline Jung ist die “Führerin der blühnden Schaar” der im Graimbergschen Erziehungs-Institut lebenden Kinder. Bekanntlich hatte Caroline seit Juni 1816 die Leitung dieser privaten Töchterschule inne. Selbst “die jüngste Stillingsblume”, der Urenkel Heinrich Vömel, von Stillings Enkeltochter Amalie Schwarz am 3. September 1816 geboren, ist Zeuge des Festes.

Etwas problematisch ist der grammatische Bezug des Wortes “sie” in der vorletzten Zeile: Bezieht es sich auf die Engel oder aber auf die beiden Patriarchen Abraham und Lot? Vom Sinn her scheinen die waltenden Engel gemeint sein, die in Jung-Stillings Haus ebenfalls am Werke sind. Sie sind bedeutsam, denn Schenkendorf bitte einmal: “Alle Engel Gottes mögen die Geliebteste schützen und freundlich geleiten! Sie […] mögen auch mit mir sein, dass ich thue und wähle, was recht und löblich ist. Der Wille des Herrn geschehe! Amen.”

Von Engeln ist häufig die Rede in den Papieren der Christine Jung. Das Erscheinen von Engeln – zumindest im Traum – war damals nichts Ungewöhnliches; man denke nur an Jungs Schutzengel Siona! Auch eine Bekannte, Sophie von Graimberg, z. B. hatte nach einem fieberhaften Infekt die Erscheinung dieser Boten Gottes. Bei Schenkendorf heisst es 1808 im “Weltgeist”: “Engel kommen, ihn zu grüßen. Ein Engel war es dann auch, der ihn in einem wunderbaren Rathschluß […] noch vor Thoresschluß, gleichsam wie der Engel den Habakuk beim Schopf ergrif, fortgeführt hat aus dem Getriebe” des Königsbergs von 1812. Aufatmend konnte er dann aus dem erreichten Karlsruhe schreiben: “Es ist mir manchmal [,] als ob der Himmel mir einen seiner Engel gesendet hätte [,] mich zu begleiten, und lange wird mein Glük mir noch wie ein Traum vorkommen!” Als Abschiedswunsch kann man bei ihm lesen: “Der Herr begleite Sie und sende seine Engel, dass Sie Ihren Fuß an keinen Stein stoßen.

 

D. Gelegenheitsgedichte

Aus dem gesetzten Rahmen fallen die Gedichte “Vater Stillings Tisch” und “Allerheiligenfest”.

I. Vater Stillings Tisch

In dem einen verbirgt sich eine konkrete Situation in Baden-Baden, wo die Familie Jung nahezu jährlich einige Zeit verbrachte. Dies deutet das vorhergehende Gedicht in den “Versen Auch du bist wieder heimgekommen Von Badens mildem Quellenrand” an. Der hier gemeinte Aufenthalt war im Mai und Juni 1815. Hier lebten Amalie und Sophie von Graimberg gemeinsam mit Roxandra von Stourdza und der Familie Jung in einem Haus an der Eichenallee, während sich im Haus gegenüber Schenkendorf mit seiner Familie einquartiert hatte. Frau von Graimberg pflegte regelmässig zu gemeinsamen “Liebesmahlen” einzuladen. Zu einem solchen dürfte das Gedicht entstanden sein.

Es könnten sich in ihm freimaurerische Anklänge verbergen; doch sind trotz der Trias “Weisheit, Schönheit, Stärke” und der Ausdrücke “Werkstatt und Meister” eher biblische Anklänge zu vermuten. Die Vierheit von Mut, Treue, Glaube und Liebe ist oben schon erwähnt. Ein “gutes” Wort soll an diesem Tisch geschrieben werden.

Schon 1813 sprach Schenkendorf von der “weltverbreiteten Korrespondenz” Jungs. Zu erinnern ist daran, dass Stillings Tagewerk darin bestand, Briefe in alle Himmelsrichtungen zu schreiben, um Rat zu erteilen. Dies war schon früher Zacharias Werner aufgefallen, der als Grund anführte: “da ihn ein grosser Theil der protestantischen Christenheit als Papst anbete”. Heutige Schätzungen gehen von 15 000 Briefen Jung-Stillings aus, und Jesaja 39, 8 und 2. Könige 20, 19 deuten an, welches gute Wort geschrieben werden soll: Das Wort des Herrn, die Verkündigung der Frohen Botschaft! Der Abendmahls-Tisch wird ebenfalls in dem Gedicht “Dem sieben und siebzigsten Geburtstag…” erwähnt, wo die Töchter Stillings “kredenzten [,] Als ob das Brod ein Andrer bräch”.

II. Allerheiligenfest

In dem anderen stellt Schenkendorf einen Traum dar, der auf den ersten Blick einen katholischen Feiertag beinhaltet: Allerheiligen. Allein schon durch das trochäische Metrum fällt dieses Gedicht auf; denn alle anderen genannten Gedichte haben jambisches Versmass. Die Schreibweise des Wortes ist wichtig: Hier heisst es in der achten Strophe: “Aller Heil’gen Tag, Welchen Gott gegeben, Dass er laben mag Uns im längsten Leben! Tag aller Heiligen” – Allerheiligen: Im Vaterunser beten evangelische Christen, dass sie an die Gemeinschaft der Heiligen glauben. Später ist es die “Schar der Heiligen”, hier sicherlich der Engel, mit denen zusammen die noch Lebenden Gott loben sollen. Erste und letzte Strophe umrahmen den Traum, der die Heimat zeigt. Vereint wie im idealisierten Mittelalter sind “Priester, Mönch und Ritterheld”: bilden sie eine fröhliche, strahlende, betende Gemeinde.

Schon 1808 hiess es in dem Sonett “Kinderträume”: “Der Himmel offenbart sich nur in Träumen, So lang’ wir noch im Erdenthale wallen!” Zu diesem Garten Eden, dem im Quell die reine Glaubens-Lehre entspringt, zieht es die Gläubigen hin; er ist ihre Heimat. Nach diesem Reich haben sie das “Heimweh”. So schreibt Schenkendorf: Denn es gilt nicht nur [,] dass rein bleibe [,] was rein ist, höher und höher sollen wir dringen, von Vollkomenheit zu Vollkomenheit, von Verklärung zu Verklärung, bis die verlorne Urgestalt, bis das Bild Gottes wieder in uns Allen hergestellt werde zur Freude Gottes, der Menschen u. der Engel.

Die angerufene Schwester mag Caroline Jung sein, kann aber auch die Schwester im Glauben sein, der er zuruft:

Schwester gib die Hand,
Denn auf gleichen Wegen
Ziehn wir einem Land,
Einem Heil entgegen!

Allerheiligenfest, Maria, Mönch und Priester deuten auf die römisch-katholische Glaubenslehre hin. Die katholisierende Strömung der Zeit hat Schenkendorf beeinflusst, wenn er ihr auch nicht nachkam wie andere. Inwieweit Schenkendorf hier katholisches Glaubensgut an Karoline Jung-Stilling weitergibt, das bedürfte einer umfangreicheren Studie auf gesicherterer Quellenbasis. Schenkendorf konnte füglich nur in einer reformierten Gemeinde am Abendmahl teilnehmen, wenn er auch die katholisierenden Tendenzen der Zeit, die Sehnsucht nach einem Oberhaupt auch in der Kirche teilte. So schreibt er: “Es kam der Kirche, als einem Ewigen oder doch aus ewiger Idee Hervorgegangnem auch die Ober Gewalt zu. […] und der Römische Stuhl hatte damals nicht ganz unrecht [,] als er auf Einheit der Form und der Sprache in den Liturgien bestand. Denn diese waren das Gefäß in welchem die Tradizion und die Hoffnung, oder der Glaube, aufbewahrt und der Nachwelt überliefert werden sollte, das mithin rein gehalten werden mußte”.

Trotz aller zeittypischen Sympathien für den Katholizismus blieb Schenkendorf evangelisch. (Die Gattin liess für 18 Reichsthaler am 3. Januar 1818 in der Kölner Kirche Am Elend die katholischen Exequien für den verstorbenen Gemahl lesen, wie aus dem Tagebuch Eberhard de Grootes zu erfahren ist. de Groote, doch etwas befremdet von dem Ansinnen der evangelischen Witwe, erfüllte es erst nach Rücksprache mit seinem Vater und seufzte dazu am selben Tage: “Die vielen kleinen Messen sind ein wahrer Unfug”.)

 

E. Abschliessende Bemerkungen

Max von Schenkendorf und Johann Heinrich Jung-Stilling begegneten einander auf der Grundlage christlicher, evangelischer Überlieferung; und der Jüngere brachte dem Älteren mehr als nur freundschaftliche Gefühle entgegen: er sah sich als Kind in die Familie des gebürtigen Siegerländers aufgenommen.

Typisch ist für den ostpreussischen Dichter, dass ältere Menschen – wie die Gattin – von besonderem Einfluss auf ihn waren. Seiner mütterlichen Freundin Albertine von Auerswald schrieb Schenkendorf 1814, was er sicherlich über Jung-Stilling ebenfalls so hätte äussern können: “möge Ihr ganzes künftige Leben Ihnen mild und freundlich seyn! Mögen Sie noch lange und ungetrübt sich erfreuen können der beginnenden Freiheit und Herrlichkeit unsres Vaterlandes. Gott sieht ja wie Sie den Zweck erfüllen um desswillen er Sie zu uns gesendet hat, er sieht wie vielen Sie Trost und Licht und Freude und unentbehrlich sind, er wird Sie diesen lassen, und Ihnen endlich wohl die Ruhe und Heiterkeit gönnen, welche nach so manchen Stürmen der zärtlichen Brust gewis Noth ist”. Jung-Stilling nun verdankte er zudem die Eheschliessung, die sein Glück wurde: “Verdanke ich ihm doch die Freude und den Segen meines Lebens, einen Segen [,] der uns bis übers Grab hinaus begleiten soll, denn ich habe einen Engel zur Frau”.

Die grosse zeitgenössische Tradition, restaurative, katholisierende Tendenzen und die Ansicht, dass die Parusie, die Wiederkehr Christi zum Endgericht, nahe sei, haben ihre Spuren deutlich in den Texten hinterlassen. Dies konnte hier aber nur angedeutet werden. Eine wissenschaftliche Literatur dazu gibt es. Stellvertretend für viele Titel – in die sich die Werke des mit dieser Festschrift zu ehrenden Jubilars Gerhard Merk einreihen – sei an dieser Stelle nur verwiesen auf das grosse Werk von Max Geiger “Aufklärung und Erweckung” aus dem Jahre 1963. Zur Biographie Max v. Schenkendorfs ziehe man die gute, knappe, alles Wesentliche enthaltende Darstellung von Klaus Bruckmann: Max von Schenkendorf – Ein deutscher Dichter. I. Teil: Schenkendorfs Leben. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Kulturgeschichte und Landeskunde. 19 (Lüneburg 1986) H. 81, S. 36–88 heran. Zum Verhältnis Jung-Stillings zu Max von Schenkendorf siehe man Erich Mertens: Max von Schenkendorf und Johann Heinrich Jung-Stilling. In: Jung-Stilling-Studien von Johannes Harder und Erich Mertens. 2. durchges. u. erw. Aufl. Siegen: Selbstverlag 1987. S. 26–114 (Schriften der J. G.-Herder-Bibliothek Siegerland e. V. Bd 15). – Leider fehlt bis heute eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Ausgabe der Werke Max von Schenkendorfs. Neben den seltenen Ausgaben Ernst August Hagens wird i. a. die weitverbreitete Ausgabe von Edgar Gross heranzuziehen sein.

 

Anhang: Die besprochenen Texte

An Vater Stillings Geburtstag
den 12ten September 1814.

“Dem Büchlein dein bin ich so hold”
Sang Stollberg vor gar langer Zeit.
Auch mich hat früh das reine Gold
Aus diesem klaren Bach erfreut.

Wie hohen Patriarchen gleich
Der Eberhard sein Haus regiert,
Und wie sein Dortchen fromm und weich
Der treue Wilhelm heimgeführt.

O Köhlerlust im hohen Wald,
Ihr alten Schlösser kühn gebaut,
In Stillings besten Liedern schallt
Von euch noch immerfort ein Laut.

Auf Bergen deine Wanderschaft,
Der alten Sagen junge Lust,
Und Gottes Treue, Gottes Kraft,
Die immer nah war deiner Brust.

Deß Alles war mein Herz so voll,
Wir waren innig und bekannt,
Eh man des Fremdlings Namen wol,
Des Unbekannten, dir genannt.

Doch Alles schwand vor höherm Strahl
Als ich nun endlich selber kam
Und manchen Gruß und manches Mahl
In deinem frommen Hause nahm.

Dein ganzes langes Leben stand
Verklärt auf deinem Angesicht,
Wie Botschaft aus dem Vaterland,
Ein Wiederschein vom ew’gen Licht.

Du Biedermann von alter Art,
Du Gottes Zeuge, Christus-Held,
Der treu sein Stillings Herz bewahrt
Am Hof und in der losen Welt.

O segne mich, du Biedermann,
Auch mich in deiner Kinder Kreis,
Und meinen Gruß mein Herz nimm an,
Du lieber frommer starker Greis.

M a x v. S c h e n k e n d o r f.

Vater Stilling’s Tisch
in Baden-Baden 1815.

Hier steht ein Tisch,
Um stark und frisch
Ein gutes Wort zu schreiben,
Auch andres Werk zu treiben.

Ein jeder Tisch soll heilig sein,
Um welchen gute Menschen treten,
Sey’s, ihres Daseyns sich zu freun,
Sey’s, um ein Gratias zu beten.

Zur Werkstatt geht mit Lust der Meister,
Zum Lehrstuhl wie zu anderm Werke,
Denn überall sind gute Geister,
Und herrschen Weisheit, Schönheit, Stärke.

Gesang zu Vater Stilling’s Fest
den 1. September 1815.

Erschalle laut aus frommer Brust,
O heller Klang der Lieder!
Der Herr, der Ursprung unsrer Lust,
Blickt segnend auf uns nieder.
Der nimmer von den Seinen läßt,
Hat Stilling’s Haus und Stilling’s Fest
Mit reicher Huld gesegnet.

Der auf dem Friedensbogen stand,
Als es genug geregnet,
Der segnend in dem fremden Land
Dem Abraham begegnet,
Er läßt schon so viel tausend Jahr
Die, welche sein wird, ist, und war,
Die ew’ge Liebe walten.

Komm aus dem alten Zederhain,
Aus Patriarchen-Hütten,
Komm, Einfalt, züchtig, fromm und fein
Mit kindlich milden Sitten!
Laß unser Leben, unsern Gang,
Dies Haus auch bleiben dir zum Dank,
Ein Bild aus alten Zeiten.

O Vater, freundlich, stark und mild,
Der hier im Hause waltet,
Bist uns des ew’gen Vaters Bild,
Der nimmermehr veraltet.
So blühe fort in Gottes Stärk’,
Gleich rüstig stets zum frommen Werk,
Du theure Zier der Greise.

Die Zeit geht ihren ernsten Gang,
Doch Gott ist’s, dem wir wallen;
Hallelujah, der Lobgesang
Soll ewig ihm erschallen!
Und Stilling, der geprüfte Mann,
Führ’ lang noch seine Kinder an
Zum süßen Lobe Gottes.

M a x v. S c h e n k e n d o r f.

Allerheiligenfest.
An Karoline Stilling, 1815.

Träumt’ ich ewig doch den Traum,
Der mir diese Nacht erschienen,
Säh’ ich offen stets den Raum,
Wo die Himmelmayen grünen!
Garten, der hier blüht,
Bächlein die entspringen,
Wunderbares Lied,
Das ich hörte klingen!

Blumen roth und weiß und blau
Hatten diese Flur umzogen,
Und die allerreinste Frau
Saß auf einem Sternenbogen,
Englein schwebten da
Gleich wie Blüthenflocken,
Läuten fern und nah,
Wie von hellen Glocken!

Priester, Mönch und Ritterheld
Gingen traulich auf und nieder;
In den Büschen, auf dem Feld
Saßen Frauen hin und wieder;
Kindlein fromm und mild
Sah ich Blumen pflücken,
Bald ein Kreuzesbild,
Bald ihr Haar zu schmücken.

Jeder trug ein weißes Kleid;
Viele doch mit rothen Kränzen
Schienen vor den Andern weit
In dem reinsten Licht zu glänzen.
Wie des Abends Glut,
Leuchtend als wie Kerzen,
Dunkelroth wie Blut
War die Blum’ am Herzen.

Einer, welchen ich gefragt
Aus der Schaar der Schönen, Frommen,
Hat mir treu Bericht gesagt,
Wo sie Alle hergekommen.
Aus der Trübsal Noth,
Aus der Gluth und Aschen
Ward so weiß und roth
Ihr Gewand gewaschen.

Plötzlich scholl ein heller Klang
Lockend aus den grünen Zweigen,
Und die ganze Schaar verschlang
Sich in einem frohen Reigen.
Ach es war ein Tanz,
Wie sich Sterne drehen,
Solch ein heller Glanz,
Solch ein lindes Wehen!

Aber nun der Herr erschien,
Der Geliebte, Schönste, Eine,
Lagen All’ auf ihren Knie’n,
Eine betende Gemeine.
Alle sah er an,
Grüßt’ sie Schwestern, Brüder,
Segnend schwand er dann
Aus den Blicken wieder.

O der übergroßen Freud’,
Welche nicht ist auszusagen,
O der Zier und Herrlichkeit,
Welche Gottes Heil’ge tragen!
Aller Heil’gen Tag,
Welchen Gott gegeben,
Daß er laben mag
Uns im längsten Leben!

Himmelan die Augen klar,
Himmelan das Herz gehoben,
Daß wir mit der Heil’gen Schaar
Unsern Hirt und Meister loben!
Schwester, gib die Hand,
Denn auf gleichen Wegen
Ziehn wir einem Land,
Einem Heil entgegen!

Zur Stillingschen silbernen Hochzeitsfeier.

Karlsruhe, am 19. November 1815.
Gedichtet und gedruckt zu Köln
am Rhein.

Licht und Recht strahlt weit und breit,
Vater S t i l l i n g sieht mit Wonne,
Wie nach schwerer Prüfungszeit
Glänzt die unbewölkte Sonne,
Die versöhnte Königinn,
Auf des Lieblings Scheitel hin. ³

Wir singen unsern Herrn,
Wir Großen und wir Kleinen,
Der uns den hellen Stern
Am Himmel ließ erscheinen.
Er gab das ew’ge Licht,
Er sprach das ew’ge Wort,
Ist nah’ und fehlet nicht
In keinem Land und Ort.

Der Jedem Kräfte gab,
Womit er wirk’ und schaffe,
Er ist des Greisen Stab,
Des Schwachen Wehr und Waffe.
Er schenket Brod und Wein,
Ernähret Seel und Leib,
Und segnet selber ein
Den Bund von Mann und Weib.

Herr, salbe dieses Haus
Und heil’ge seine Schwelle,
Geuß deinen Segen aus,
Du rechte Lebensquelle!
Laß einen frischen Born
Des Wassers hier entsteh’n,
Und Kummer, Neid und Zorn
Von diesen Pforten geh’n. ³

Wie klingst du doch so schön,
O Lied aus alten Tagen,
Auf Siegens alten Höh’n,
Da wohnen treue Sagen,
Der Väter Wort und Lust,
Der Väter Sitt’ und Art
Wird noch in frommer Brust.
Ein Ehrenschatz bewahrt.

Du S t i l l i n g s Silberhaar
Sollst lange dich noch kräuseln,
Und Lüfte warm und klar
Um seine Schläfe säuseln;
Er liebet Feld und Baum,
Und Weib und Kind und Heerd,
Und diesen Erdentraum,
Den Gott einst schön verklärt.

So wandle fort, o Paar,
In Liebe, Fried’ und Segen!
Du, die nie müde war
Zu schaffen und zu pflegen,
O Gattin, treu und mild,
Begleite S t i l l i n g s Fahrt,
So bleibt sein Haus ein Bild
Von alter deutscher Art. ³

Mit Gott! mit Gott! fortan!
Gefragt nicht, noch verwundert;
Ein Tropfen Zeit verrann,
Ein Viertel vom Jahrhundert.
Heil ihm, Heil dem, was kommt!
Wie sich die Wege dreh’n,
Wir wissen, daß uns frommt,
Was ist und wird gescheh’n!

M a x v o n S c h e n k e n d o r f.

Dem
sieben und siebzigsten Geburtstage
seines verehrungswürdigen väterlichen
Freundes
Heinrich Jung
genannt Stilling
gewidmet
durch
Max von Schenkendorf.

Karlsruh, am 12. September 1816.

Der Herbst hat seinen Thron genommen,
Die liebe Jahreszeit verschwand;
Auch du bist wieder heimgekommen
Von Badens mildem Quellenrand.
So kehret jedes von der Reise
Und zieht in seine Heimat ein,
Und richtet sich auf seine Weise
Zum langen Winter traulich ein.

Nur ich muß wieder dich ergreifen,
Du vielgebrauchter Wanderstab,
Und muß mit meiner Liebe schweifen
In fernes Land, den Rhein hinab.
Wohlan, die grünen Wellen bringen
Mir stündlich holde Grüße zu,
Und Wellenschlag und Lieder singen
Mein Herz in die gewünschte Ruh.

Und wie dem Wandersmann im Dunkeln
In einer langen Winternacht
Die Sterne Gottes tröstlich funkeln
In ihrer ewgen Liebespracht,
Gibt Stilling’s Fest mir noch den Segen
Zu guter Letzt, zum Abschied mit
Und leuchtet mir auf meinen Wegen
Bey manchem schwanken Steg und Schritt.

Fahr wohl, o Haus der alten Treue,
Fahr wohl du gastlich offnes Thor,
Ihr Lieben, täglich schaut aufs neue
Zu euern Bergen dort empor!
Die Berge hab’ ich oft durchzogen,
Wenn ich zu spät am Abend kam,
Dort ist so mancher Schmerz entflogen,
Geheilt so mancher bittre Gram.

Ich kann es nimmermehr vergessen
Wie alles hier so freundlich war,
Wie ich an diesem Tisch gesessen
So manchen Tag und manches Jahr,
Wie Vater Stillings Augen glänzten
Im frölichchristlichen Gespräch,
Und wie die Töchter uns kredenzten
Als ob das Brod e i n A n d r e r bräch. –

O du, von reinen Himmelsblüten
Von ewgen Kränzen schön umlaubt,
Dem sechs und siebzig Sonnen glühten,
Du theures vielgeprüftes Haupt,
Du darfst noch lange dich nicht neigen,
Den Aehren gleich von Segen schwer,
Mußt vielen noch die Wege zeigen
Zum Throne Gottes stark und hehr.

O schau die jüngste Stillingsblume,
Die deiner Tochter Kind gebar,
Schau drüben in dem Heiligthume
Die Führerin der blühnden Schaar,
Sieh neben dir die Gattin weilen
Die dich umschlang dem Epheu gleich;
So magst du deine Blicke theilen
Mit jenem und mit diesem Reich.

Fahr wohl, zwar fernhin muß ich ziehen,
Doch bleibt mein Gastrecht unversehrt;
Noch lange soll die Flamme glühen
Auf diesem Patriarchenherd;
Die Engel kamen zu den Alten,
Zum Abraham, zum frommen Lot;
Mir ist, als fühlt’ ich hier sie walten,
Fahr wohl – und alle grüß euch Gott!

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