Jung-Stillings Leben, Denken, Wirken – Ein Überblick
JUNG-STILLINGS LEBEN, DENKEN, WIRKEN EIN ÜBERBLICK von Dr. Dr. Gustav Adolf Benrath, Leicht veränderte, autorisierte Online-Fassung aus Michael Frost (Hrsg.): Blicke auf Jung-Stilling. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1991, Seite 9 bis 18. – Die gewerbliche Nutzung des Textes bedarf der schriftlichen Zustimmung des Copyright-Inhabers, der Jung-Stilling-Gesellschaft e.V., Siegen (Deutschland). |
A. Das Besondere am Leben Jung-Stillings1
“Die vergnügtesten Stunden hatten sie alle zusammen des Sonntags Nachmittags, dann gingen sie oben ins Haus in eine schöne Kammer, deren Aussicht ganz herrlich war; hier las ihnen Stilling aus einem Buch vor …, es handelte von den Niederländschen Geschichten und Kriegen … nebst den wunderbaren Schicksalen des Prinzen Morizens von Nassau; hierbey verhielt sich nun Jung-Stilling wie ein Professor, der Lehrstunden hält; er erzählte ein und anderes dazwischen, und seine Zuhörer waren ganz Ohr. Erzählen ist immer so seine Sache gewesen, und Uebung macht endlich den Meister …”.2
Dieses Idyll, aus der Vielzahl der Kleinbilder seiner szenenreichen Selbstbiographie eher willkürlich herausgegriffen, verklammert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer einzigen Perspektive. Es zeigt uns im Rückblick den geistig regsamen 21jährigen Siegerländer Schneidergesellen in glücklichen Tagen im Bergischen Land; es enthält gleichzeitig die verklärende Stilisierung aus der Gegenwart des inzwischen 38jährigen praktischen Arztes, Augenarztes und Schriftstellers in Elberfeld; und es weist schließlich auch noch auf die nahe Zukunft voraus, auf seine im Jahre 1778 bevorstehende Berufung zum Professor an die Kameralhochschule in Kaiserslautern, wo er dann tatsächlich Lehrstunden zu halten hatte, nicht zwar über Geschichte, wohl aber über so verschiedene Wissensgebiete wie Landwirtschaft, Technologie, Handelswissenschaft und Veterinärmedizin. Daß Jung-Stilling auf seiner Laufbahn als Professor für ökonomische Wissenschaften von Kaiserslautern weiter nach Heidelberg, nach Marburg und zurück über Heidelberg schließlich auch noch an den Hof des greisen Karl Friedrich von Baden nach Karlsruhe geführt werden sollte, lag damals allerdings noch jenseits jeder Möglichkeit einer Ahnung und Andeutung in der Zukunft verborgen.
Jung-Stillings Leben mit seinem erstaunlichen sozialen Aufstieg vom Kleinbauernsohn zum Professor und Hofrat war ein außerordentliches Leben, reich an Erfolgen und – Enttäuschungen, an kleinen Freuden und – großen Betrübnissen. Sein Denken war zur Zeit der Vorherrschaft der Aufklärung in Europa ein im Widerstreit zwischen Bibelglauben und rationaler Weltanschauung besonders angefochtenes Denken. Und selbst in seinem beruflichen Wirken, das er doch zeitlebens rückhaltlos in den Dienst seiner Mitmenschen stellte und das daher auch vielfache Anerkennung fand, stieß er immer wieder auf Kritik und Gegnerschaft.
Einige Aspekte dieses ungewöhnlichen Lebens, Denkens und Wirkens wollen wir uns vergegenwärtigen. Es sei dies gleichsam als Hinführung zu den folgenden Beiträgen getan, in denen Persönlichkeit und Lebenswerk Jung-Stillings aus verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet werden wird.
B. Zum Lebensweg Jung-Stillings
Zunächst zum Leben Jung-Stillings3. Gewiß gab uns die Jung-Stilling-Ausstellung mit ihren zeitgenössischen Zeugnissen (sie wurde, von Gerhard Schwinge mit großer Sorgfalt vorbereitet, in Karlsruhe, Siegen, Marburg und teilweise in Kaiserslautern gezeigt) eindrucksvoll zu erkennen, in wieviele Richtungen Jung-Stillings Lebensarbeit zu seiner Zeit ausgestrahlt hat. Aber es sind eigentlich nicht in erster Linie derartige Zeugnisse, so lehrreich sie sind, die uns den Einblick in sein Leben vermitteln. Dafür kommt vielmehr die von ihm selbst verfaßte Lebensgeschichte in Betracht, eine der beachtenswerten deutschen Autobiographien des 18. Jahrhunderts. In fünf einzelnen Teilen in den Jahren 1777/78, 1789 und 1804 erschienen, ist sie mit den Lebensstufen des Autors gleichsam mitgewachsen. Sie spiegelt die gleichbleibenden Elemente ebenso getreulich wider, wie die im Lauf der Jahre – wie bei jedem Menschen – sich verändernde Lebensanschauung und Selbstbeurteilung.
Den allerersten Teil hat, wie bekannt, der 28jährige Goethe, zu jener Zeit noch Jung-Stillings Gönner und Freund, ohne dessen Wissen, aber mit seinem Schriftstellernamen unter dem Titel “Henrich Stillings Jugend” in Berlin und Leipzig zum Druck gebracht (1777). Die “Jugend” war es vor allem, die Jung-Stilling in Deutschland bekannt machte und ihm erste literarische Anerkennung eintrug. Die ersten drei Teile – “Jugend”, “Jünglingsjahre”, “Wanderschaft” – haben von ihrem ursprünglichen Reiz bis auf den heutigen Tag so gut wie nichts verloren, und man möchte sie jedem, der sich für deutsche Kultur und Literatur des 18. Jahrhunderts interessiert, zur Lektüre empfehlen. Wenn sie ihm gefallen, wird er sich übrigens mit so verschiedenen Lesern wie Ferdinand Freiligrath, Friedrich Nietzsche4, Ernst Jünger und mit vielen anderen im Einklang befinden.
Die entbehrungsreichen, in der Großfamilie aber gleichwohl geborgenen Jahre der Kindheit nach dem frühen Tod der Mutter, die strenge Erziehung durch den verwitweten Vater, die jahrelangen Schwierigkeiten der Berufsfindung in wechselnder Stellung als Junglehrer, Erzieher, Schneidergeselle und Kaufmannsgehilfe im Siegerland und im Bergischen Land, das Medizinstudium des spätberufenen, verheirateten 30jährigen Studenten in Straßburg, aber auch die Erfolge und — häufiger noch – Mißerfolge des niedergelassenen praktischen Arztes und Augenarztes in Elberfeld – hier erlebte er unter dem Druck von Geldschulden, häuslicher Krankheit und mißgünstigem Publikum eine qualvolle Zeit, – dazu die arbeitsreichen Jahre des akademischen Lehrers in Kaiserslautern (1778–1784) und Heidelberg (1784–1787) – mit dem Tod seiner ersten Frau, der Konkurrenz der Kollegen, der Anfeindung bei der kurfürstlichen Regierung und dem Zerbrechen so mancher freundschaftlichen Verbindung – und schließlich die , auf ganze gesehen, glücklicheren sechzehn Lebensjahre in Marburg, – dies alles vermag die Aufmerksamkeit des Lesers auch heute noch auf sich zu ziehen; obschon die Darstellung, wie oftmals bemerkt und von jedermann zu bemerken, allmählich langatmig und prosaisch wird und chronikartig vordergründig ausläuft.
Der abenteuerliche Aufstieg ins Gebirge in frischer, klarer Morgenluft ist eben immer etwas Spannenderes als das mühsame Klettern im Fels in der Mittagshitze und am Nachmittag, wenn Dunst und Wolkenschleier dem ermatteten Wanderer die Aussicht nehmen. Ohne Bild gesprochen: Die Ereignisse im Leben des gesetzten Mannes, der nichts mehr erobern kann, sondern, was er hat, eher mühsam verteidigen muß, verlieren an Erlebnis-tiefe; der Bericht davon fällt dürftiger aus, und die Lust an der Lektüre läßt entsprechend nach.
Hier verstärken sich, wie in so mancher Biographie, objektive und subjektive Faktoren zu nachteiliger Wirkung: Wer erlebt in der Regel schon gerne das Alter, wer schreibt schon gerne darüber und wer liest schon gerne davon? Kurz vor seinem Tod (1817) griff Jung-Stilling noch einmal zur Feder, um auch noch seine badische Zeit seit dem Jahre 1803 zu schildern. Aber “Heinrich Stillings Alter”, der sechste und letzte Teil der Lebensgeschichte, der besonders für Karlsruhe interessant hätte werden müssen, blieb ein unbedeutendes Fragment. Jung-Stillings letzte vierzehn Lebensjahre sind daher aus der Selbstbiographie nicht mehr zu erheben.5 Hierfür ist man auf seine Schriften und Briefe angewiesen.
Nun handelt es sich bei der Lebensgeschichte Jung-Stillings aber keineswegs nur um das Produkt aus spannenden Erlebnissen, bewegenden Eindrücken, aus der Erzählfreude und Darstellungskunst ihres Verfassers. Jung-Stilling hat mit ihr von Anfang an eine ganz bestimmte Absicht verbunden: die religiöse. Er verstand seinen Lebenslauf religiös, das ist: von Gott geleitet und an Gott gebunden, und zwar nicht nur im großen und ganzen, sondern bis in die Einzelheiten hinein.
Dieses religiöse Verständnis seines Lebens wollte er seinen Hörern und Lesern nicht nur eben mitteilen, sondern so überzeugend nahebringen, daß sie für ihr eigenes Leben womöglich ein ähnliches religiöses Verständnis gewinnen konnten. “Sein Glaube duldet keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott”, so charakterisierte ihn Goethe, der ihn in Straßburg kennen und achten lernte.6 Goethe war zwar feinfühlig genug, ihn wegen dieser seiner grundlegend religiösen Lebensanschauung nicht zur Rede zu stellen oder gar zu bespötteln. Im Gegenteil: er schätzte ihn und er schützte ihn gegen Zweifler und Spötter. Aber für sich selbst blieb er reserviert: “… die Art, auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu anmaßlich …”.
Ganz anders dagegen urteilte später Goethes Arzt in Weimar, Christoph Hufeland, der auch Schiller, Herder und Wieland zu seinen Patienten zählte. Hufeland schrieb Jung-Stilling noch nach vielen Jahren: “daß ich Ihrem Stilling einen großen Teil meiner religiösen Bildung, meines Glaubens, meines Vertrauens auf Gott verdanke …”.7 Die Anregungen gingen also in beide Richtungen. In jedem Fall waren die Anstöße, die Jung-Stilling mit seinem Leben und mit der Sinngebung seiner Lebensgeschichte gab und heute noch gibt, von Anfang an in ihr enthalten; sie werden von ihr ausgehen, wann und wo immer man diese “wahre Geschichte” lesen wird.
C. Zum Denken Jung-Stillings
Damit sind wir schon beim Denken Jung-Stillings angelangt. Es war von seiner frühen Kindheit an durch und durch religiös bestimmt. Die Bibel, der reformierte Heidelberger Katechismus und die Sagen der später sogenannten deutschen Volksbücher waren die geistige und geistliche Speise, mit welcher der Vater nach dem Tod seiner Frau das Vorschulkind fütterte. Das Ergebnis war entsprechend: “Das erste wonach er fragte, wenn er von jemand etwas las oder reden hörte, bezog sich auf seine Gesinnung gegen Gott und Christentum”7. Ergötzlich ist die Szene geschildert, wie der noch nicht Neunjährige den selbstbewußten Ortspfarrer, der ihm hatte auf den Zahn fühlen wollen, seinerseits katechisierte:
“Wie betest Du denn? fragte er ferner.
Ich bete: Lieber Gott! gieb mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.
Das ist recht, mein Sohn, so bete fort!
Ihr seyd nicht mein Vater.
Ich bin dein geistlicher Vater.
Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; ihr seyd ein Mensch; ein Mensch kann kein Geist seyn.
Wie, hast Du denn keinen Geist, keine Seele?
Ja freylich! wie könnt ihr so einfältig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.
Kennst Du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater?
Heinrich lächelte. Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?
Du kannst ihn ja doch nicht sehen.
Heinrich schwieg, und holte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Römer I, V. 19. und 20.”8
Dort war zu lesen: “Denn daß man weiß, daß Gott sei, ist ihnen offenbar, denn Gott hat es ihnen offenbart, damit daß Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man das wahrnimmt an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt. Also daß sie keine Entschuldigung haben.”
Fast ist man versucht, dieses Lächeln des Kindes zu übertragen und kollektiv zu nehmen. War nicht um 1750 in ganz Deutschland der Glaube an Gott den Schöpfer und gütigen Vater der Menschen selbstverständliche Grundüberzeugung eines jeden, des Kindes ebenso wie des Erwachsenen und des Greisen, der Fürsten und der Gelehrten ebenso wie der Bauersleute? Gewiß, die Aufklärung hatte inzwischen überall in Europa ihren Siegeszug angetreten. Aber sie wurde in Deutschland doch weithin zu einer “frommen Aufklärung”, unter der man nicht litt, sondern deren man sich erfreute. “Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?” – das war damals eine rhetorische Frage. Der christliche Gottesglaube gehörte im Denken des Zeitalters zum Menschsein hinzu.
Im Lauf seiner Jünglingsjahre vertiefte sich dieser Glaube bei Jung-Stilling einmal durch jene feste Überzeugung, auf seinem persönlichen Lebensweg von der Vorsehung Gottes geführt zu sein, zum anderen durch die Einsicht, daß Enttäuschungen, Kummer und Leid die Mittel seien, womit ihn die Vorsehung läuterte und vor dem Abgleiten in schnöde Selbstsucht bewahrte. Der Fünfundzwanzigjährige wandte sich dann ernsthaft der Philosophie zu. Er las Christian Wolff, Johann Ch. Gottsched, Gottfried W. Leibniz und andere Schriften der deutschen Aufklärung; zunächst mit Schwung und mit Freude. Aber allmählich stellte er fest: “Sie erstickten wahrlich alle kindliche Empfindung des Herzens gegen Gott.”9 Der Leibniz-Wolffsche “Determinismus”, wie er ihn nannte, mit seiner durchgehenden Verkettung von Ursache und Wirkung schien für eine persönliche Gottesvorstellung keinen Raum mehr zu lassen; das Bittgebet des Frommen schien gegenstandslos, vergeblich. So löste sich schließlich die bisherige Einheit von Denken und Glauben für ihn auf. Religion und Philosophie gerieten bei ihm in einen Widerstreit, der ihn ganze zwei Jahrzehnte hindurch immer wieder quälte und lähmte.10
Kein Geringerer als Immanuel Kant war es, der Jung-Stilling aus seinem Dilemma endlich erlöste. Im Jahre 1788 las Jung-Stilling die “Kritik der reinen Vernunft”. Er entnahm ihr nicht nur den von Kant geführten Nachweis, daß das menschliche Erkenntnisvermögen strikt auf diese unsere Welt, die Welt der Erscheinungen, beschränkt sei, sondern er zog daraus eine Folgerung, die Kant zwar so nicht gezogen hatte, die er ihm aber auch nicht verwehrte. Vielmehr schrieb Kant auf seine briefliche Anfrage “die ihm ewig unvergeßlichen Worte”: “Auch darinnen thun Sie wohl, daß Sie Ihre einzige Beruhigung im Evangelio suchen, denn es ist die unversiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausgemessen hat, nirgends anders zu finden sind.”11
Der Widerstreit zwischen Denken und Glauben war damit in Jung-Stillings Augen endlich wie durch einen Schiedsspruch behoben. Das vernünftige Denken war die Quelle der Wahrheit für das diesseitige, irdische Leben; Offenbarung, Bibel und Glaube aber hatten ihr Recht und ihre Autorität im Bereich der jenseitigen, ewigen Wahrheit. An dieser Wahrheit war für ihn alles gelegen. Die Bestätigung der Berechtigung und der Notwendigkeit des Glaubens war ihm das wichtigste. Erfreut notierte er in sein Notizbuch: “Merkwürdige Veränderung in meinem ganzen System durch das Studium der Kantischen Philosophie … wohltätiger Einfluß in meinen innern und äußern Würkungkreyß …”.12 Er fühlte sich seitdem wie befreit, erneuert, beflügelt.
Bald nach dieser positiven Wendung trugen die ihn bedrückenden Ereignisse der Französischen Revolution von 1789 zur Veränderung seines Denkens und Wirkens ebenfalls bei. Früher hatte er an das Weltende kaum gedacht. Was jetzt geschah, konnte er anhand der Bibel aber nur noch als die Einleitung zu dem “großen letzten Kampf zwischen Licht und Finsterniß”13 verstehen, und für sich selbst gewann er die Überzeugung, er müsse zu diesem Zweck für den christlichen Glauben als “Missionarius in der Aufklärung”14 erweckend und rettend tätig werden. Das befreite Denken und der gefestigte Glaube forderten ihn zu neuartigem Wirken heraus.
D. Zum Wirken Jung-Stillings
An diesem Wirken Jung-Stillings wird für immer die Energie und die Vielseitigkeit bemerkenswert bleiben. Auf dem Kleinbauernhof hatte der Junge morgens bis abends zu beobachten, zu lernen und tätig zu sein, – sofern er sich nicht mit Eifer dem Lesen hingab. Trägheit und Unfleiß kannte er nicht. Aus der Dürftigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse ergab sich der Zwang zum Tun, zur handwerklichen Selbsthilfe aller Art wie von selbst. Die Arbeit auf dem Feld und im Wald, das Schneiderhandwerk und das Schulehalten war für den Vierzehnjährigen nach dem Vorbild des Großvaters, des Vaters und des Oheims schon vorgezeichnet. Mühelos durchlief er die Lateinschule, und die Elemente von Mathematik, Astronomie und Geodäsie waren ihm vertraut. Aber sein Wunsch, Theologie zu studieren und Pastor zu werden, war unerfüllbar, weil finanziell unerschwinglich.
Die nahezu siebenjährige Lehrzeit im Hause des Fabrikanten und Handelsmanns Peter Johannes Flender führte ihn dann über seine Anfänge weit hinaus, nicht nur was Lebensart, Menschenkenntnis und Weltläufigkeit angeht; bei Flender war vielmehr, wie er später schrieb, “meine Academie, wo ich Oeconomie, Landwirthschaft und das Commerzienwesen aus dem Grund zu studiren Gelegenheit hatte”.15 Er lernte damals im Privatunterricht zusätzlich Französisch, Griechisch und Hebräisch, und im Selbststudium eignete er sich auch die theoretischen Grundlagen der Medizin an, während ihm der katholische Geistliche Johann Baptist Molitor wertvolle Rezepte zur Augenheilkunde überließ. So mündeten diese Vorarbeiten in das Universitätsstudium der Medizin und der Augenheilkunde in Straßburg.
Von seiner Begabung, seinem Wissensdurst und seinem rastlosen Fleiß einmal abgesehen, waren es die vielfältigen Grundkenntnisse, auf denen er aufbauen konnte, so daß es ihm später als Professor gelang, innerhalb von vierzehn Jahren nicht weniger als elf Lehrbücher zu verfassen, darunter seine “Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften”, seine “Forstwirthschaft”, “Staats-Polizey-Wissenschaft”, “Finanz-Wissenschaft”, die “Cameral-Wissenschaft” und die “Grundlage der Staatswirthschaft”.16 Zwar lagen alle diese Wissenszweige im vortechnischen und vorindustriellen Zeitalter näher beisammen und waren leichter zu überblicken, als es heute der Fall ist. Gleichwohl darf die Reichweite der theoretischen und praktischen Interessen und Kenntnisse Jung-Stillings auch für seine Zeit als außergewöhnlich gelten.
Was Jung-Stilling auf seinen drei großen Arbeitsgebieten als Arzt und Augenarzt, als Wirtschaftswissenschaftler und als Schriftsteller im Vergleich mit seinen Zeitgenossen und innerhalb der Geschichte der Medizin, der Ökonomik und der Literatur im einzelnen geleistet hat, werden die Fachgelehrten am besten beurteilen: Hier sei gefragt, wie Jung-Stilling auf seine Mitmenschen gewirkt hat.
Mit seinem Tatendrang und seinem raschen, rastlosen, unablässigen Tätigsein war Jung-Stilling vielen seiner Kollegen überlegen – und unbequem. So konnte es geschehen, daß er schon in Elberfeld bei ihnen in Verruf kam, er sei “ruhmsüchtig, emporstrebend, und ihnen den Rang ablaufend.”17 Er wirkte aber diesem Mißverständnis nicht nur nicht entgegen, sondern gab ihm immer wieder neue Nahrung! Denn die allzu offene, vertrauensselige Art, die ihm eigen war, ließ ihn zu wenig vorsichtig sein; diplomatisches Verhalten blieb ihm zeitlebens fremd. So wurde er auch in Kaiserslautern zum Objekt von Intrigen, und noch in der Heidelberger Zeit hatte er sich zu beklagen: “seine Thätigkeit und die Menge seiner Schriften erzeugte Neid; man suchte, so viel wie möglich … ihn in einem schiefen Lichte zu zeigen.”18 Zwar wiederholte sich in Marburg dergleichen kaum mehr. Aber dort nahm sein anfänglich großer Lehrerfolg Mitte der 1790er Jahre im Gefolge der Französischen Revolution drastisch ab: Die neue “allgemeine Richtung der deutschen Cameral-Politik” vertrug sich mit seinen älteren Grundsätzen nicht mehr. Der Besuch seiner Vorlesungen ging zurück.19 Dieses ihn bedrückende Ergebnis bestärkte ihn in jener in ihm wachsenden Überzeugung, eine rein geistliche Aufgabe übernehmen zu sollen! Er sah sie als das Ziel des in ihm seit jeher lebendigen religiösen Grundtriebes und als die Erfüllung seines Lebens an.
Karl Friedrich von Baden war es, der ihm im Jahre 1803 den Übergang aus Marburg nach Heidelberg und Karlsruhe (1807) ermöglichte. Jung-Stilling schrieb ihm damals: “Der Herr hat wahre Wunder der Gnade an mir getan: Von Geburt zum Bauern- und Handwerksstand bestimmt, führt er mich ohne irdisches Vermögen einen zwar sehr schweren und langwierigen Prüfungsgang; er hatte mir einen unüberwindlichen Trieb in das Herz gelegt, aus allen Kräften mich der Religion zu widmen und nur ausschließlich dem Herrn zum Besten seines Reiches zu dienen, aber erst am Schluß meines 63sten Lebensjahrs, nachdem er mich durch viele Umwege geläutert und durch viele und mancherley Erfahrungen unterrichtet hat, lenckt Er so gnädig das Herz Ew. Kurf. Durchlaucht dahin, mich nun auf den Standpunct zu stellen, wozu ich von der Wiegen an und allen meinen inneren Anlagen bestimmt bin. Dencken sie nicht, Mein allertheuerster Fürst! daß ich in Heidelberg müsig sitzen werde – Nein! jetzt will ich erst anfangen zu würcken, Alles! Alles soll nun auf den einen grosen Gesichtspunct Christum und sein Reich gerichtet seyn.”20
Karl Friedrich bestätigte Jung-Stillings Berufung ausdrücklich, und zwar mit einer bemerkenswerten Begründung im Blick auf sich selbst: “… ich habe von Jugend auf den Wunsch gehabt, der Religion und dem Christenthum alle meine Kräfte zu widmen; allein Gott hat mir das Regentenamt anvertraut, dem ich alle meine Kräfte schuldig bin; Sie sind nun der Mann, den Gott zu diesem Zweck zubereitet hat. Ich entbinde Sie daher von allen irdischen Verbindlichkeiten, und trage Ihnen auf, durch Ihren Briefwechsel und Schriftstellerey Religion und praktisches Christenthum an meiner Stelle zu befördern; dazu berufe und besolde ich Sie.”21
Widerstände blieben zwar auch in der Folge nicht aus. So wurde zum Beispiel die “Theorie der Geister-Kunde” von 1808, in der Jung-Stilling die Realität eines Geisterreichs zwischen Diesseits und Jenseits bejaht, zugleich aber vor jedem Versuch eines vorwitzigen Eindringens in dieses Zwischenreich gewarnt hatte, von den aufgeklärten Staatsbehörden im Elsaß, in Basel und in Württemberg, aber auch bei der Herrnhuter Brüdergemeine verboten. Die Gegnerschaft richtete sich damit zwar nicht gegen ihn selbst, wohl aber gegen seine Glaubensmeinung.
Nebensächliches an seiner Person fiel in diesen Jahren ohnehin immer mehr von ihm ab; sein Glaube und sein Bekenntnis hingegen traten immer stärker hervor. Auf diese Weise hat er auch in seinen Altersjahren auf die verschiedensten Zeitgenossen, nahe und fern wohnende, jüngere und ältere, einfache und vornehme, tief beeindruckend gewirkt.
Um zum Schluß nur einen einzigen, unverdächtigen, unsentimentalen Zeugen zu nennen: Der 42jährige Johann Peter Hebel hat den 64jährigen Jung-Stilling ein einziges Mal in seinem Leben gesehen (1804). Im Blick auf dieses Zusammentreffen sprach er von Menschen, “die wie aus einer andern Welt zu uns zu kommen scheinen, und die Bürgerschaft einer andern Welt uns mit Blick und Ton und Wort ins Herz zu legen wissen” . “So einer, dachte ich, ist dieser Mann — und ich wäre gerne auch so einer … Eine Minute unter solchen Menschen schafft mich zum frommen, gläubigen Kinde um, das alle hebräische und griechische Weisheit und Torheit vergißt …”22
Anmerkungen
1 Erweiterte Fassung eines Vortrags anläßlich der Eröffnung der Ausstellung “Jung-Stilling. Arzt, Kameralist, Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung” im Altbau der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe am 12. Juni 1990. – Zu dieser Ausstellung erschien unter gleichem Titel der wertvolle Ausstellungskatalog, hrsg. von der Badischen Landesbibliothek, Karlsruhe (Badische Landesbibliothek), 1990. Er ist über den Buchhandel (ISBN 3-88705-027-4) zu beziehen.
2 Bei Meister Stöcker in Solingen; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte, (hrsg. von Gustav Adolf Benrath, 3. verbesserte und durchgesehene Aufl. 1992, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) S. 195. – Siehe auch Erich Mertens: Jung-Stilling im Bergischen Land. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1995, S. 14 f. (Jung-Stilling-Studien, Bd. 3).
3 Eine sachkundige Lebensbeschreibung ist dem verehrten Jubilar Gerhard Merk zu verdanken: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1989. Darüber hinaus hat sich der Jubilar durch seine bisher fünf Jung-Stilling-Editionen (sämtlich im Verlag Duncker & Humblot, Berlin) große Verdienste erworben: – (1) Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (1987), – (2) Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen (1988), – (3) Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs akademische Festreden (1988), – (4) Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem “Volkslehrer” (1990) und – (5) Gesellschaftliche Mißstände. Eine Blütenlese aus dem “Volkslehrer” (1990). – Mehr die innere Entwicklung im Leben von Jung-Stilling zeichnet sachkundig und einfühlend nach Otto W. Hahn: Selig sind, die das Heimweh haben. Johann Heinrich Jung-Stilling: Patriarch der Erweckung. Gießen (Brunnen Verlag) 1999 (Geistliche Klassiker, Bd. 4).
4 Siehe zur Frage einer möglichen Bearbeitung der “Jugend” durch Johann Wolfgang Goethe ausführlich Leo Reidel: Goethes Anteil an Jung-Stillings “Jugend”. Neu hrsg. und bearbeitet von Erich Mertens. Siegen (J. G. Herder-Bibliothek) 1994 (Schriften der J. G. Herder-Bibliothek Siegerland, Bd. 29). — Reidel kommt aufgrund verschiedener überzeugender Beweise zu dem Schluss, dass Goethe keinen Eingriff in das fertige Werk vorgenommen hat, sondern allenfalls vor dessen Abfassung auf die Person des Autors einwirkte. “Infolge des Verkehrs mit Goethe hatte sich in seiner [nämlich Jung-Stillings, GAB] Lebens- und Weltanschauung ein großer Wandel vollzogen…. Jung verdankte ihm und Herder seine ästhetische und literarische Bildung. Er huldigte in dieser Hinsicht allen ihren Ansichten” (S. 69).
5 Auf Friedrich Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches II/2, S. 109 unter der Überschrift “Der Schatz der deutschen Prosa”) verweist Reinhard Düchting in seinem Nachwort zu Johann Heinrich Jung-Stilling: Über den Geist der Staatswirthschaft. Heidelberg (Manutius Verlag) 1990, S. 42.
6 Ein willkommener literarischer Beitrag, der die vorerst noch füllbare Lücke schließen hilft, bei Johannes Harder und Erich Mertens: Jung-Stilling-Studien. Siegen (Schriften der J. G. Herder-Bibliothek Siegerland, Bd. 15) 1984.
7 Gerhard Schwinge: Prophet und Weltkind – Jung-Stilling und Goethe, in: Jung-Stilling – Arzt, Kameralist, Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung, Ausstellungskatalog (Anm. 1) Karlsruhe (Badische Landesbibliothek), 1990, S. 112–141; Zitate S. 115, 118. — Das ansprechende Taschenbuch Johann Heinrich Jung-Stilling: Herr zeig mir stets die rechte Spur. Geistliche Erzählungen und Gedichte. Zum 250. Geburtstag des “Patriarchen der Erweckung” ausgewählt und hrsg. von Gerhard Schwinge, Lahr-Dinglingen (St. Johannis Druckerei) 1990, ist dem verehrten Jubilar Gerhard Merk und dem Autor dieses Beitrags gewidmet.
8 [Jakob Jung:] Sendschreiben geprüfter Christen an weiland den geheimen Hofrath Jung-Stilling. Aus dessen Nachlasse gesammelt und geordnet für sein Freunde. Karlsruhe (Müller) 1833, Nr. 109, S. 235. – Siehe auch Klaus Pfeifer: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) und Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), in: Siegerland 47 (1970), S. 89 ff.
9 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 50 f.
10 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 232
11 Max Geiger: Johann Heinrich Jung-Stilling. Christlicher Glaube zwischen Orthodoxie und Moderne. Historisch-theologische Meditation anlässlich des 150. Todestages. Zürich (EVZ-Verlag) 1968. (Theologische Studien, Bd. 97).
12 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 450 ff., Zitat S.450.
13 Gustav Adolf Benrath: Jung-Stillings Notizbuch aus den Jahren 1778–1813, in Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 39 (1990), S.85–113; Zitat S. 97.
14 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 483.
15 Gerhard Schwinge: Jung-Stilling und seine Beziehung zur Basler Christentumsgesellschaft, in: Theologische Zeitschrift 44 (1988), S. 32–53; Zitat S. 39.
16 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 231.
17 Knappe Kennzeichnung bei Wolfgang Lück: Jung-Stilling als Wirtschaftswissenschaftler. Ausstellungskatalog (Anm. 1), S. 71–80 sowie bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Briefe eines reisenden Schweizers über die Einrichtung der Pfälzischen Fruchtmärckte herausgegeben von einem Pfälzischen Patrioten. Aus der Handschrift übertragen und mit Anm. versehen von Anneliese Wittmann. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1993, S. 14 ff. (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 6).
18 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 351.
19 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 426.
20 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 493 f.
21 Jung-Stilling an Karl Friedrich von Baden, Marburg, 28.08.1803. Generalarchiv Karlsruhe, Großherzogliches Familienarchiv 5, Correspondenzband 31, Nr. 24.
22 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 631 – Für den gesamten Zusammenhang ist jetzt zu vergleichen: Hansmartin Schwarzmaier: Jung-Stilling und der Karlsruher Hof, Ausstellungskatalog (Anm. 1 und 6), S. 143–164.
23 Johann Peter Hebel an Friedrich Wilhelm Hitzig (September 1804); Druck: Johann Peter Hebel: Briefe, hrsg. von Wilhelm Zentner. Karlsruhe (Müller) 1957, S. 214 f. – Das Original des Briefes, das sich in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe befindet, wurde in der Ausstellung gezeigt, vgl. Ausstellungskatalog (Anm. 1 und 6), S. 233. — Siehe auch Gerhard Schwinge: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung. Eine literatur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1795–1816 und ihres Umfelds. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1994, S. 362 (Register, Stichwort “Hebel, Johann Peter”). (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32).
Who does not fear GOd could never love men.
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