Diesseits und Jenseits sind Eins

Bericht über eine wohlannehmliche nachtodliche Belehrung in Zürich

durch

den hochangesehenen, berühmten und bis anhin unvergessenen Herrn

Konsistorialrat Johann Caspar Lavater (1741–1801),

weiland Stadtpfarrer an Sankt Peter in Zürich


Bei Nachhauskunft anvorderst mit behöriger Genauigkeit ohne Verweilung zum fruchtbaren Erspriessen gemeinen Nutzens aufgeschrieben; hinfüran zur Erzielung dieses lichtfreundlichen Zweckes durch fügliche Vorkehrungen anmit für das World Wide Web werkstellig gemacht, dabei alle Leser gÖttlicher Obhut und englischen Schutzes auf das innigste empfehlend

von

Achtnicht Ihrenhohn

in Lichthausen, Grafschaft Leisenburg*

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Markus-Gilde e. V., Siegen

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info@jung-stilling-gesellschaft.de

Gang durch die Innerstadt von Zürich

Von kleinauf mir die Stadt gefiel
Am See, der Limmat und der Sihl.1
Im Grab liegt mancher Ahne dort,
Drum ist mir sonders wert der Ort.

Im Mai traf dort ich wieder ein;
Ich hatte Zeit und war allein.
So zog ich quer durch jene Stadt,
Die soviel Sehens-Wertes hat.

 

Johann Caspar Lavater lädt mich ein

Just bin ich an Sankt Peter2 schon,
Da ruft es: “Achtnicht Ihrenhohn!”
In raschen Schritten kam im Nu
Ein Herr, sehr vornehm, auf mich zu.

Die spitze Nase, das Gesicht
Beliessen mir der Zweifel nicht:
Der Mann, so nobel, fein und hehr
Ist Johann Caspar Lavater!3

“Herr Achtnicht”, sagte er zu mir,
“Ich freue mich, dass ihr seid hier.
Recht herzlich lade ich euch ein
Ins Pfarrhaus auf ein Gläschen Wein.”4

Gern nahm das Angebot ich an.
Wir sprachen lange Zeit sodann
Vom Glauben, seiner Neuerung
Von Wissenschaft und Hofrat Jung.5

 

Er wollte manches von mir wissen;
Auch ich liess Fragen nicht vermissen.
Zum Thema: Leben nach der Zeit
Verwies er auf die “Ewigkeit”.6

 

Lavater besitzt erstaunlich viel aktuelles Wissen

Erstaunt war ich, dass viel er frug,
Was bloss zu Siegen hat Bezug.
Ihm offenbar schien mehr bekannt
Als mir ist kund vom Siegerland.

Insonders fiel mir staunend auf,
Dass Dinge kannte er zuhauf,
Die unlängst erst sich zugetragen,
Allein noch im Verdeckten lagen.

Ich darob einen Vorstoss tat.
“Verehrter Pfarrer, lieber Rat”7
Begann danach ich ihn zu fragen –
“Sie sind in allem wohl beschlagen!

Wie wissen um die Fälle sie,
Obgleich sie dorten waren nie?
Sind sie denn nicht recht lange schon
Bei GOtt, in himmlischer Region?”

 

Geister können in jede Zeit eintauchen

Vergnüglich lachte er mich an.
“Ihr glaubt wohl nicht, mein lieber Mann,
Dass jeder Geist zu jeder Zeit,
Durchqueren kann die Erde weit?

Indessen ist Voraussetzung,
Dass GOtt schenkt die Vergünstigung.
Die meisten freilich, die es könnten,
Dem Himmel niemals je entrönnten.

Erfüllt sind ganz sie, seins-vollendet,
Durch GOtt, der SEine Liebe spendet.
Mich zieht es manchmal noch hierher:
Zu helfen Menschen ich begehr.

 

Irdische Verbindungen setzen sich im Jenseits fort

Dass weiss ich viel vom Siegerland,
An Stilling5 liegt, mit dem umspannt
Mich enge Bruderschaft auch dort:
Sie wirkt im Jenseits nämlich fort.8

Nun wisst ihr ja besonders gut,
Wie Stilling, was er kann, auch tut,
Um Menschen hier für GOtt zu werben,
Bewahren sie vor dem Verderben.

Doch kann auch er nur Seelen mahnen;
Der Gnade GOttes Wege bahnen;
Denn jeder Mensch ist hierin frei:
Es kennt GOtt keine Zwängerei.

Dass Stilling ihr – wie mich jetzt – seht
Als Geist nicht, doch als Mensch konkret,
Ist nicht die Regel, sondern Gnade,
Die GOtt verliehen uns gerade.”

Lavater sprach dann zum Beschluss
Ein Dankgebet: ein Herz-Erguss,
Der mich in meiner Seele rührte
Und dessen Kraft ich lang noch spürte.

 

Als ich hinaustrat drauf ins Laute
Und auf die Armbanduhr nun schaute,
Da sah ich, dass die Zeit ganz ruhte:
Die Uhr schritt vor nicht die Minute.9

 

Lästergespei ist vorhersehbar

Heut gab ich den Bericht komplett
Zum Download in das Internet,
Damit sich alle Stillings-Treuen
An dieser Botschaft recht erfreuen.

Doch ach! Wie ist die Welt verrückt!
Man sagt nicht Dank, ist nicht beglückt,
Dass diese Botschaft wird verbreitet:
Dem Guten so der Weg bereitet.

Oh nein! Sie schreien: “Spiritismus,
Gespenster-Wahnsinn, Okkultismus,
Bezauberung, Nekromantie:
Beschwörung Toter: Blasphemie,

Verruchte Götzendienerei
Dämonenhafte Zauberei
Empörende Provokation:
Der Hölle Manifestation!”

Ach: zieht euch doch an eurer Nase,
Um zu entkommen Zorn-Gerase,
Das andren Dingen passend wäre,
Nicht aber dieser Jenseits-Lehre.

Es gibt doch wirklich nun zu Hauf
Der Gründe, sich zu regen auf
Ob dessen, was verdrehte Leute
Dreist setzen vor der Masse heute!

 

Entladet euren Unmut dort,
Und schimpft doch nicht auf jenes Wort,
Das Boten euch auf Pfingstes-Schwingen
Von jener Welt ins Diesseits bringen.

Lasst es um euretwillen sein,
Zu dreschen stets aufs Neue ein
Voll Hohn und Missgunst ohne Pausen
Auf Achtnicht dorten zu Lichthausen.

Erläuterungen, Quellen und Anmerkungen

* Grafschaft Leisenburg = bei Jung-Stilling das ehemalige Fürstentum Nassau-Siegen (mit der Hauptstadt Siegen); –  durch Erbfolge ab 1743 Teil der Nassau-Oranischen Lande (mit Regierungssitz in Dillenburg, heute Stadt im Bundesland Hessen); –  im Zuge der territorialen Neuordnung Deutschlands durch den Wiener Kongress ab 1815 Bezirk in der preussischen Provinz Westfalen (mit der Provinzhauptstadt Münster); –  nach dem Zweiten Weltkrieg von 1946 an bis heute Bestandteil im Kreis Siegen-Wittgenstein des Regierungsbezirks Arnsberg im Bundesland Nordrhein-Westfalen in der Bundesrepublik Deutschland (mit der Landeshauptstadt Düsseldorf).

Siehe Karl Friedrich Schenck: Statistik des vormaligen Fürstenthums Siegen. Siegen (Vorländer) 1820, Reprint Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1981 sowie Theodor Kraus: Das Siegerland. Ein Industriegebiet im Rheinischen Schiefergebirge, 2. Aufl. Bad Godesberg (Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung) 1969 (Standardwerk mit vielen Karten, Übersichten und Rückblenden auf den Entwicklungsverlauf; leider auch in der Zweitauflage ohne Register.

Lichthausen = bei Jung-Stilling die ehemalige selbständige, durch den Bergbau geprägte Gemeinde Littfeld im vormaligen Fürstentum Nassau-Siegen; seit 1. Januar 1969 Teil der Stadt Kreuztal im Kreis Siegen-Wittgenstein. Durchflossen wird der Ort von der rund 13 Kilometer langen Littfe, einem wasserreichen Zufluss in den rund 24 Kilometer langen Ferndorfbach, der seinerseits ein rechten Nebenfluss der Sieg ist und im Zentrum von Siegen-Weidenau in die Sieg mündet. – Die Littfe ihrerseits wird im Ortsgebiet von Littfeld von Osten durch den Heimkäuser Bach (offizieller Name im Gewässerverzeichnis des Landes NRW: Die Heimkaus, 4,7 Kilometer lang) und von Westen durch den Limbach (2,1 Kilometer lang) gespeist.

Der Name Littfeld leitet sich ab aus dem keltischen Wort “Let” für “Lehm”. Die in vielen Gewässernamen der Gegend vorzufindende Endsilbe “-phe” ist die sprachlich abgeschliffene Form von “apha“ = der Bach.

Aus Littfeld kam die Mutter Johanna Dorothea Fischer (1717-1742) von Jung-Stilling; dort wirkte auch sein Patenonkel Johann Heinrich Jung. – Siehe zu dieser herausragenden Persönlichkeit Gerhard Merk: Oberbergmeister Johann Heinrich Jung (1711-1786). Ein Lebensbild. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1989.

Im wirtschaftsgeschichtlich in vieler Hinsicht bemerkenswerten Siegerland ist der hochintelligente und vielseitig begabte Jung-Stilling (siehe Anmerkung 5) geboren, herangewachsen und dort hat auch seine ersten beruflichen Erfahrungen als Köhlergehilfe, Schneider, Knopfmacher, Vermessungs-Assistent, Landarbeiter, Dorfschulmeister und Privatlehrer gesammelt.

1 Stadt am (Zürich)See sowie den Flüssen Limmat und Sihl gelegen = die schweizerische Kantonshauptstadt Zürich.

Die Limmat ist ein rechter Nebenfluss der Aare, 140 Kilometer lang, entspringt als Linth in den Glarner Alpen, durchfliesst den Walen- und Zürichsee (danach erst Limmat genannt) und mündet bei Baden. Der Name Limmat leitet sich aus dem lateinischen LINDIMACUS (auch: LIMAGA und LIMAGUS) her. Strittig ist, warum die Römer den Fluss so benannt haben (nach einer Siedlung gleichen Namens?).

Die Sihl ist ein linker Nebenfluss der Limmat. Sie entspringt im Kanton Schwyz, durchfliesst das gewerbereiche Silhltal und mündet nach 73 Kilometer in Zürich. Die Römer nannten den Fluss SILA, was von SILACEUS, A, UM = ockergelb hergeleitet wird.

2 Sankt Peter = ursprünglich romanische Langhauskirche im Stadtzentrum von Zürich, im Jahr 1705 umgebaut. An ihrer nördlichen Aussenseite liegt das Grab von Johann Caspar Lavater. – Siehe Peter Ziegler: St. Peter in Zürich. Von den Ursprüngen bis zur heutigen Kirchgemeinde. Hrsg. von der Kirchenpflege der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde St. Peter, Zürich. Zürich (NZZ-Verlag) 2006 (mit Literatur-Verzeichnis, S. 265 ff.).

3 Johann Caspar (Caspar manchmal auch mit K geschrieben) Lavater (1741–1801) = Dichter und Schriftsteller der Geniezeit; Begründer der modernen Physiognomik als der Lehre vom Zusammenhang zwischen äusseren Erscheinungen (des Körpers, des Gesichtes) und der inneren Verfassung (Gemütszustand, Temperament, Charakter); vertrauter Freund von Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817).

Siehe – (1) zur Biographie allgemein Christian Janentzky: Johann Caspar Lavater. Frauenfeld, Leipzig (Huber) 1928 (Die Schweiz im deutschen Geistesleben; Bd. 53) sowie Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1991 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, № 1556 (beides leicht lesbare Kurzbiographien) – (2) zur Tätigkeit im Zürcher Kirchendienst Theodor Hasler: Johann Caspar Lavater: der Hirte seiner Gemeinde. Zürich (Schulthess) 1942 (Kleinschrift) und – (3) zur Aufnahme in den Himmel Heinrich Jung-Stilling: Szenen aus dem Geisterreich, 7. Aufl. Bietigheim (Rohm) 1999, S. 202 ff. (“Lavaters Verklärung”).

4 Lavater, 1762 ordiniert, wirkte ab 1778 als Diakon, ab 1786 bis zu seinem Tode als Pfarrer an Sankt Peter in Zürich. Zuvor war er Diakon und (seit 1775) Pfarrer an der Waisenhauskirche in Zürich.

Der Name Lavater leitet sich nach der Herkunft aus dem Städtchen Lavant in Kärnten ab; siehe Viktor Schobinger, Alfred Egli, Hans Kläui: Zürcher Familiennamen. Entstehung, Verbreitung und Bedeutung der Namen alteingesessener Zürcher Familien. Zürich (Zürcher Kantonalbank) 1994, S. 112.

Siehe Grundsätzliches zum Wiedereintritt Verstorbener in diese Welt Johann Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geister=Kunde, in einer Natur= Vernunft= und Bibelmäsigen (so!) Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße (so, also mit Eszett). Nürnberg (Raw’sche Buchhandlung) 1808 (Reprint Leipzig [Zentralantiquariat der DDR] 1987 und öfters), S. 220 ff. sowie Martin Landmann: Ahnungen, Visionen und Geistererscheinungen nach Jung-Stilling. Eine ausdeutende Untersuchung. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1995, insbes. S. 85 ff. Dieses Buch ist als Download-File kostenlos erhältlich bei der Adresse <http://www.uni-siegen.de/fb5/merk/stilling>

5 Hofrat Jung = Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817), der Weltweisheit und Arzneikunde Doktor, Kurpfälzischer Hofrat. – Siehe zum Verhältnis zwischen Lavater und Jung-Stilling mehr bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe, mit Anmerkungen hrsg. von Gustav Adolf Benrath, 3. Aufl. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1992, S. 776 (Register, rechte Spalte unten) und ausführlicher nachgezeichnet bei Gustav Adolf Benrath: Die Freundschaft zwischen Jung-Stilling und Lavater, in: Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, hrsg. von Bernd Möller und Gerhard Ruhbach. Tübingen (Mohr-Siebeck) 1973, S. 251 ff.

6 “Ewigkeit” = in mehreren Ausgaben erschienenes und in viele Sprachen übersetztes vierbändiges Werk von Johann Caspar Lavater mit dem Titel: “Aussichten in die Ewigkeit”, erstmals 1768–1778 herausgekommen. – Ein gut lesbarer Neudruck erschien 2001 (hrsg. von der Forschungsstiftung Johann Caspar Lavater, Zürich in der Reihe “Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe”), besorgt von Ursula Caflisch-Schnetzler.

7 Rat = Johann Kaspar Lavater war seit 1786 Mitglied des Konsistoriums (= zentraler Leitungs- und Verwaltungsausschuss) in Zürich und führte demzufolge den Titel “Konsistorialrat”.

8 “Die wechselseitige Bruder- und Schwesterliebe ist unwandelbar auch jenseits dem Grabe”, schreibt Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 5), S. 445. – Siehe auch Anne Marie Stenner-Pagenstecher: Das Wunderbare bei Jung-Stilling. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Romantik. Hildesheim (Olms) 1985, S. 111.

9 Siehe hierzu 2. Petrusbrief, Kapitel 3, Vers 8 sowie Johann Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geister=Kunde (Anm. 4), S. 31 ff.

 

The same thing seen from three different points of view
– the past, the present, and the future –
regularly exhibits three different faces to us.

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