Geistererscheinungen

AHNUNGEN, VISIONEN UND GEISTERERSCHEINUNGEN
NACH JUNG-STILLING
Eine ausdeutende Untersuchung

von

Martin Landmann

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Jung-Stilling-Gesellschaft e. V., Siegen

Leicht veränderte Online-Fassung des gleichnamigen Buches, ISBN 3-928984-12-8, 1995 erschienen. © 1995, 2005 Jung-Stilling-Gesellschaft, Siegen. – Die gewerbliche Verwertung des Textes gesamthaft oder Teile daraus bedarf der schriftlichen Einwilligung des Copyright-Inhabers, der löblichen

Jung-Stilling-Gesellschaft e. V., Siegen.


VORWORT

Der Universalgelehrte Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) hat mit seiner “Theorie der Geister=Kunde” ein Thema angeschnitten, das den zeitgenössischen Menschen weithin leidig erschien und bis heute auch noch unliebsam geblieben ist. Vor allem in unseren evangelischen Kirchen will man davon nichts hören. Über alles und jedes darf hier geredet werden: von perverser Sexualität bis zur “befreienden” Revolution, von der Ausbeutung durch gierige Unternehmer bis zum weiblichen Gottesbild – aber ja nicht über “Okkultes“. Durch diese Einstufung wird schon der ganze Bereich dem Albernen, Unsinnigen, Lächerlichen zugewiesen.

Allein, mit Jung-Stilling ist hier zu fragen, ob diese Haltung erstens vernünftig ist und zweitens denn der biblischen Aufforderung: “Alles prüfet, das Richtige behaltet” (1 Thess 5, 21) entspricht?

Folglich ist es die Absicht dieses Buches, die von Jung-Stilling angeschnittenen Fragen unter Berücksichtigung des Wissens unserer Tage darzustellen mit dem Ziel, zum Nachdenken anzuregen. Der Leser möge sich sein eigenes Urteil darüber bilden, ob die Haltung unserer meisten Theologen richtig ist, von übernatürlichem Geschehen einfach keine Notiz zu nehmen.

Bedanken möchte ich mich bei der Jung-Stilling-Gesellschaft e.V. in Siegen. Deren Präsident, Zelebrität Professor Dr. Gerhard Merk, hat mich in vielfacher Weise unterstützt und mir auch gestattet, aus seinem kompakten Lehrbuch “Grundbegriffe der Erkenntnislehre” vieles zur Logik und Metaphysik wörtlich zu übernehmen.

Mein Bemühen war es, an die klare, von unnötigen Fremdwörtern freie Ausdrucksweise sowie an die immer durchsichtige Gliederung der Gedanken in den “Grundbegriffen der Erkenntnislehre” auch in diesem Werk heranzukommen.

Gute Gründe veranlassen mich, mit meiner Person etwas im Hintergrund zu bleiben. Ich bitte darum um Nachsicht und Verständnis. Kommt es doch auf die Sache an, und nicht auf den Verfasser. Darum bitte ich auch, willkommene Kritik an diesem Werk ganz auf den Inhalt zu richten.

Das Vorwort möchte ich mit einem Zitat aus der “Theorie der Geister=Kunde” (S. 172 f., in heutiger Rechtschreibung) schliessen. Jung-Stilling schreibt:

“Es ist wahrlich höchst sonderbar: erscheint ein Komet am Himmel, alsofort sind aller Augen beschäftigt; da studiert alles, was Astronomie liebt, wie er seinen Gang nimmt usw. Wird eine neue Luftart entdeckt, alsofort sind die Physiker dahinter, um sie zu untersuchen. Findet einer ein Kraut, ein Insekt oder einen Stein, der noch nicht bekannt, noch nicht beschrieben ist: welch ein Aufsehens, welch eine Merkwürdigkeit wird daraus gemacht!

Sobald aber von Erscheinungen die Rede ist, die nur von Ferne Winke auf die Wahrheiten der christlichen Religion, auf die Fortdauer der Seelen nach dem Tod, auf die Existenz guter und böser Geister und Engel sowie auf deren Einwirkung auf die Sinnenwelt geben, Erscheinungen, die millionenmal wichtiger sind als alle Naturphänomene in der Körperwelt, da geht man mit höhnischer Miene vorüber und schreit: Aberglaube! Schwärmerei! Man schimpft und lästert alle, die hier prüfen, untersuchen und berichtigen. Die Resultate ihrer Untersuchungen, seien sie auch noch so wahr und apodiktisch bewiesen, werden als unbedeutend, höchst gefährlich und der menschlichen Gesellschaft höchst nachteilig verschrieen und unterdrückt, soviel als nur immer möglich.

Aber Schriften, die den Unglauben, den Abfall von Christo verkündigen und die schlüpfrigsten Romane (solche, die den Geist vergiften und gleichsam satanisieren), denen lässt man freien Lauf, danach kräht kein Hahn. … Gott welch ein Jammer! Und welche Verkehrtheit der so hochgerühmten Aufklärung!”


EINLEITUNG

(1) Im Jahre 1808 erschien im Verlag der Raw’schen Buchhandlung zu Nürnberg ein Buch mit dem Titel: “Theorie der Geister=Kunde, in einer Natur= Vernunft= und Bibelmäsigen (so!) Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße (im folgenden “Theorie” genannt; Ziffern beziehen sich auf Seitenzahlen). Verfasser ist Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817). Er war zu seiner Zeit als Arzt, Augenchirurg, Schriftsteller und Ökonom der Mitwelt wohl bekannt. Bis heute blieb das Werk als Nachdruck (zuletzt Leipzig [Zentralantiquariat der DDR] 1987) sowie in verschiedenen Ganz- oder Teildrucken auf dem Büchermarkt. Früh erschienen auch Übersetzungen ins Schwedische, Niederländische und Englische.

(2) Die 380 Seiten umfassende Abhandlung erregte nach ihrem Erscheinen weithin Aufsehen. Im Elsass sowie im Königreich Württemberg wurde der Besitz des Buches verboten; den Mitgliedern der Herrnhuter Brüdergemeine untersagte man das Lesen. Die Basler Landeskirchenbehörde veröffentlichte ein Gutachten gegen das auch dort verbotene Werk. Jung-Stilling wehrte sich dagegen mit seiner Schrift “Apologie der Theorie der Geisterkunde veranlasst durch ein gegen dieselbe abgefasstes Gutachten des Hochwürdigen (so, mit grossem Ha) geistlichen Ministeriums zu Basel. Als Erster (so, mit grossem E) Nachtrag zur Theorie der Geisterkunde” (Geisterkunde im Gegensatz zum Hauptwerk hier ohne [Doppel]Bindestrich geschrieben; nachfolgend “Apologie” abgekürzt). Auch dieses Werk erschien in dem Verlag der Raw’schen Buchhandlung zu Nürnberg, und zwar im Jahre 1809, also ein Jahr nach der Veröffentlichung des Hauptwerkes.

(3) Fragt man nach den Gründen der Ablehnung der “Theorie der Geister=Kunde”, so zeigt sich eine merkwürdige Bewandtnis.

(a) Den meisten galt Jung-Stilling als “Schwärmer” und “Geisterseher” (“Apologie” 60). Dieses Urteil ist ersichtlich falsch. Denn der ausgesprochene Zweck des Buches und seine ganzen Darlegungen ist eindeutig darauf ausgerichtet, jedwelche Schwärmerei zu vermeiden. Geister-Erscheinungen werden, wo irgend möglich, natürlich erklärt. Jung-Stilling tat dies bereits in seinen Romanen sowie in der von ihm geschriebenen Monatsschrift “Der Volksleher” zu verschiedenen Malen (so Bd. 1 [1781], S. 159 ff., Bd. 3 [1783], S. 368 ff., S. 545 ff., Bd. 4 [1784], S. 751 ff.; die entsprechenden Artikel finden sich in die beiden von Professor Merk herausgegeben, im Jahre 1988 im Verlag Duncker & Humblot zu Berlin erschienenen Auswahlbände aus dem “Volkslehrer” aufgenommen) mit aller Deutlichkeit.

(b) Andere bezichtigten Jung-Stilling des “Wegdeutelns” von übernatürlichen Erscheinungen. Auch das ist unrichtig. Jung-Stilling leugnet keineswegs Geister-Erscheinungen. Gegen die reformierte Theologie seiner Zeit lehrt er sogar, dass Engel eigene Wesen mit Einwirkungsmöglichkeit auf Menschen hier auf Erden sind (“Theorie” 42 f.), und dass es zwischen Himmel und Hölle einen Läuterungsort gäbe.

(4) Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, erweisen sich Jung-Stillings Massstäbe der Beurteilung als grundsätzlich angebracht und zutreffend. Freilich stehen der Verbreitung des Werkes in unseren Tagen vor allem zwei Umstände entgegen.

(a) Einmal bezieht sich Jung-Stilling auf das erkenntnistheoretische, naturwissenschaftliche und theologische Wissen seiner Zeit. Die daraus gewonnenen Schlüsse sind zwar heute noch im allgemeinen treffend. Im besonderen jedoch bedürfen sie an einigen Stellen der Ergänzung bzw. der Neufassung.

(b) Zum anderen aber wirkt die Form der Darstellung abstossend. Der fast 70jährige Jung-Stilling, in den frühen Mannesjahren als schlicht und anmutig schreibender Erzähler geschätzt, bedient sich in der “Theorie der Geister=Kunde” einer wenig schönen Ausdrucksweise. Lange, harzige Schachtelsätze, ständige Anleihen beim Kanzleistil seiner Tage und häufige Wiederholungen gleicher Aussagen sind die Regel. Dazu ist die Abschnittsgliederung in den 255 Paragraphen des Werkes an vielen Stellen zumindest ungeschickt.

(c) Sie durchbricht oft den Beweisgang. Neu aufgenommene Gedankenfolgen sind hingegen häufig mit ihrem Anfang, zusammen mit auslaufenden Gedanken, in einem Paragraphen zusammengepackt. Jung-Stilling, seit dem Jahre 1806 an Hof und Tisch des ihm wahlverwandten, greisen Grossherzogs Karl Friedrich von Baden, schrieb das Buch unter Zeitdruck nieder. Vielfältige andere Verpflichtungen zwangen ihn ständig, diese Arbeit zu unterbrechen. Daraus erklären sich die nicht zu leugnenden Mängel in der Darstellung.

(d) Dass Jung-Stilling diese Unzulänglichkeiten selbst erkannte, steht ausser Zweifel. Denn er fügte dem schon fertigen Werk wohl erst nach der Korrektur des Druckes einen zusammenfassenden Anhang im Umfang von 55 kurzen Paragraphen bei. Er nennt ihn “Kurze Uebersicht meiner Theorie der Geisterkunde, und Folgerungen aus derselben”. Dass dieses fünfte Hauptstück erst später angefügt wurde, ersieht man aus dem Inhaltsverzeichnis der “Theorie der Geister=Kunde”. Dort nämlich ist dieses fünfte Hauptstück (“Theorie” 361–380) gar nicht ausgewiesen. – Dieses fünfte Kapitel sowie die “Apologie der Theorie der Geisterkunde” gab Professor Merk sachkundig kommentiert 1993 heraus; wie bereits im Vorwort dargelegt, konnte ich davon in vieler Hinsicht profitieren.

(5) Wegen der zeitlosen, allgemeinen Gültigkeit der von Jung-Stilling vertretenen Theorie (Theorie hier verstanden als ein System von widerspruchsfreien und folgerichtigen Sätzen) lohnt es sich jedoch gewiss, den Hauptgedanken des Werkes in zeitgemässer Gestalt wiederzugeben. Von den gesetzten Voraussetzungen her gesehen sowie in der Logik der Beweisführung ist Jung-Stilling allen nachfolgenden Autoren über diesen Gegenstand zumindest ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. Die aussergewöhnlich reiche Lebens- und Berufserfahrung von Jung-Stilling (“Theorie” 5) zeigt sich nämlich bei diesem Fragenkreis als besonderer Vorzug.

(6) Jung-Stilling entstammt einer mit mancherlei Talenten (Talent im Sinne einer hervorragenden Begabung) ausgestatteten Familie des à la façon de Genève (also calvinistisch) reformierten Siegerlandes. Der Vater war Dorfschullehrer und Schneider. Auch der 1740 geborene Johann Heinrich erlernte dieses Handwerk. Einige Zeit zog er als Wandergeselle umher. Im Selbststudium lernte er Griechisch, Hebräisch, Französisch sowie Englisch und bildete sich in fast allen Wissenschaften. Er amtete als Schulmeister, bekleidete sieben Jahre hindurch den Beruf eines technisch-kaufmännischen leitenden Angestellten, studierte Humanmedizin und wirkte abermals sieben Jahre als praktischer Arzt in Wuppertal-Elberfeld. Man berief ihn danach als Professor für angewandte ökonomische Wissenschaften an die Kameral Hohe Schule zu Kaiserslautern, die im Jahre 1784 der Universität Heidelberg angegliedert wurde. Im Jahre 1787 folgte Jung-Stilling einem Ruf nach Marburg. Der Grossherzog (damals noch Kurfürst) von Baden holte ihn im Jahre 1803 als seinen Ratgeber nach Heidelberg und im Jahre 1806 als seinen Geheimen Hofrat in Geistlichen Sachen nach Karlsruhe. Hier ist Jung-Stilling im Jahre 1817 gestorben; dort liegt er auch begraben.

(7) Jung-Stilling schrieb an die 75 Bücher und Aufsätze und etwa 15 000 Briefe. Er galt als einer der geschicktesten Augenärzte seiner Zeit. Ungefähr zweitausendmal operierte er den grauen Star. Jung-Stilling war zweimal verwitwet und dreimal verheiratet. Seine “Lebensgeschichte” machte ihn schon zu Lebzeiten in ganz Europa bekannt. Das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Den ersten Teil beförderte Goethe zum Druck, mit dem Jung-Stilling seit seiner Studienzeit in Strassburg bekannt war. Die “Lebensgeschichte” ist auch heute noch sehr lesenswert. Sie vermittelt mehr über die Lebensumstände sowie über das Denken und Fühlen jener Zeit, als ein ganzes Regal gelehrter Geschichtsbücher.

(a) Die weitaus beste Edition der “Lebensgeschichte” ist die von Gustav Adolf Benrath besorgte. Sie ist mit erläuternden Dokumenten, erklärenden Anmerkungen sowie mit Register versehen. Die Einleitung des Herausgebers stellt Jung-Stilling und sein Denken in das Umfeld der damaligen Zeit.

(b) Im gut lesbaren, knappen Abschnitten stellt Gerhard Merk in seinem Buch “Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens” die Biographie von Jung-Stilling dar. Bilder und Register ergänzen das Buch. Mehr die innere Entwicklung schildert Otto W. Hahn in seinem Taschenbuch “Johann Heinrich Jung-Stilling”.

(8) Im folgenden wurde grundsätzlich die Dreigliederung Jung-Stillings in Voraussetzungen (bei Jung-Stilling die beiden ersten Hauptstücke mit zuweilen weitschweifigen Exkursen), in Ahnungen, Vorhersagen, Zaubereien und Prophezeiungen (bei Jung-Stilling das dritte Hauptstück) sowie in Gesichte (Visionen) und Geistererscheinungen (bei Jung-Stilling das vierte Hauptstück) beibehalten. Wo immer Jung-Stillings Aussagen noch gültig, wahrscheinlich und nach heutigem Kenntnisstand vertretbar sind, finden sich diese wiedergegeben.

(9) Einige besondere Schwierigkeiten bereitet freilich der theologische Ansatz. Jung-Stilling, wiewohl reformierter Konfession, vertritt teilweise altkirchliche (katholische) Auffassungen, wie etwa in Fragen der Engel und Geister sowie des Hades (“Theorie” 16 f., 221). Teilweise neigt Jung-Stilling aber auch in seinen späten Jahren zu einem extrem naiven Biblizismus, so beispielsweise in der Frage nach dem Ort der Hölle (“Apologie” 31 ff.).

(a) Seine Beschäftigung mit der Geheimen Offenbarung, seine Hinneigung zu den Herrnhutern sowie die widrigen Zeitumstände (Zusammenbruch des alten Reiches, Französische Revolution und die sich daran anschliessenden Kriege mit ihren verheerenden Folgen) machten Jung-Stilling auch zum Chiliasten. Er nahm zeitweise an, die geweissagte Endzeit auf Erden stehe kurz bevor oder habe gar schon begonnen.

(b) Glücklicherweise spielen aber Jung-Stillings theologische Abweichungen zur Grundlinie der reformierten Lehre nur in einem (wennzwar sehr wichtigen) Punkt eine Rolle bei der Beurteilung der Vorkommnisse. Es ist dies die Annahme eines Läuterungsortes, des Hades. Weil hierzu Jung-Stilling sowohl in der “Theorie der Geister=Kunde” (biblisch) begründend seinen Standpunkt bestimmt als auch in der “Apologie der Theorie der Geisterkunde” verteidigt hat (“Apologie” 38 ff.), ist diese Besonderheit beibehalten. Gleiches gilt auch für seine Engellehre.

(10) Insgesamt gesehen dürfte die folgende Darstellung dem Geiste Jung-Stillings ziemlich treu entsprechen. Dies gilt insbesondere dann, wenn man sie auf das Gesamtwerk dieses umfassend gebildeten Gelehrten bezieht. Der Absicht Jung-Stillings bei der Herausgabe der “Theorie der Geister=Kunde” schliesse ich mich an: nämlich zur Unterscheidung der Geister beizutragen (“Theorie” 5 f., “Apologie” 60 f.).


ERSTER TEIL: MASSSTÄBE ZUR BEURTEILUNG

(1) Wohl das Wichtigste bei der Erörterung der nachfolgenden Fragen ist eine genaue Definition der gebrauchten Begriffe. Definition heisst die vollständige und geordnete Angabe der Merkmale eines Begriffes. Begriff ist eine Denkeinheit, in der Eigenschaften und Zusammenhänge von Gegenständen erfasst sind. Die Eigenschaften oder Zusammenhänge werden Merkmale des Begriffes genannt. Gegenstand (Objekt, Ding) meint jeweils alles, was zur Kenntnis genommen, vorgestellt oder gedacht wird.

2) Als Oberbegriff für Ahnungen, Visionen und Geistererscheinungen (die später jeweils definiert werden) sei hier die Benennung “Vorkommnisse” eingeführt. – Jung-Stilling schrieb “Erscheinungen”: eine unglückliche Wortwahl, weil der Oberbegriff (Gattungsbegriff) genau so benannt wird wie einer der Unterbegriffe (Speziesbegriffe). Dies führte prompt zu Verwechslungen. Die Basler Zensoren seiner “Theorie der Geister=Kunde” fassten “Erscheinungen” gleich im Sinne von “Geister-Erscheinungen” auf. Im Kanton Basel aber erschienen keine Geister; zumindest nicht vor der Verbreitung der “Theorie der Geister=Kunde” von Jung-Stilling (“Apologie” 3). Jung-Stilling musste einleitend diese Missdeutung richtigstellen (“Apologie” 12).

(3) Um die Vorkommnisse beurteilen und einordnen zu können, bedarf es gesicherter Massstäbe. Daher müssen im ersten Teil solche entwickelt werden. Dabei handelt es sich zunächst um einige erkenntnistheoretische Voraussetzungen. Dazu soll dargelegt werden, was die Theologie über Gott, die Schöpfung, den Menschen und die Geister aussagt. Schliesslich gilt es einige naturwissenschaftliche Aussagen voranzustellen. Damit sind auch bereits die von Jung-Stilling benutzen Grundsätze der Beurteilung beschrieben. Im Untertitel der “Theorie der Geister=Kunde” nennt er die Vernunft, die Natur(wissenschaft) und die Bibel. Es zeigt sich aber bald, dass Jung-Stilling die Bibel in einem weiteren Sinne versteht. Er bezieht nämlich im allgemeinen auch das Denken der protestantischen theologischen Wissenschaft seiner Zeit (kritisch) mit ein.

(4) Mit Jung-Stilling soll einleitend mit Nachdruck hervorgehoben werden, dass der Leser die gegebenen Begriffsdefinitionen genau beachten möge. Anders als die Begriffe der Naturwissenschaften, der Rechtswissenschaft oder der Ökonomik sind die Begriffe der Philosophie und Theologie oft schillernd. Genauer meint dies, dass ein Name (Benennung; etwa: Erscheinung) für verschiedene Objekte benutzt wird (im Beispiel: [a] Ding an sich, [b] sinnliche Gegebenheitsweise eines Seins, [c] Phänomen im Sinne von erlebtem Inhalt und [d] Auftauchen eines Geistes). In Zweifelsfällen ist über das Register (das in der “Theorie der Geister=Kunde” und in den meisten wissenschaftlichen Werken von Jung-Stilling leider fehlt) die eingeführte Definition zu suchen.


A Erkenntnistheoretische Voraussetzungen

 


I Vernunft des Menschen

(1) Verstand (Intellekt) ist das begriffliche Erkenntnisvermögen des Menschen. Ihn kennzeichnet die Fähigkeit, Gegenstände und ihre Beziehungen durch Begriffe zu denken. Der Verstand löst also vom sinnlichen Eindruck und führt zum geistigen Gegenstück (dem Begriff) hin. Demgegenüber ist die Vernunft (Ratio) das Vermögen des Menschen zu schlussfolgerndem Denken (“Apologie” 20). Ein Schluss ist die Ableitung eines Urteils aus einem oder mehreren als wahr angenommenen Urteilen; etwa:

Jeder Mensch stirbt.
Beth ist ein Mensch.

Also stirbt Beth.

Urteil heisst die Aussage über das logische Verhältnis zweier oder mehrerer Begriffe zueinander; etwa: Beth ist ein Mensch. Das Urteil “erteilt” einem Gegenstand eine Bestimmung, indem es ein Besonderes (Beth) als Fall eines Allgemeinen (Mensch) begreift.

(2) Unterstellt wird nun, dass der Mensch gemeinhin mit Vernunft ausgestattet ist. Die Vernunft kann aber nicht (wie das göttliche Denken) alles zugleich gegenwärtig setzen (“Theorie” 363). Sie muss in der Erkenntnis von dem einen Inhalt und Urteil zum anderen übergehen. Ein solcher Erkenntnisfortschritt heisst heute oft Diskurs; man setzt die Begriffe Vernunft und diskursives Denken gleich. Ein Ganzes kann mithin von der Vernunft immer bloss im Durchlaufen der Teile deutlich erkannt werden.

(3) Mensch “gemeinhin” drückt eine Beschränkung aus. Nicht unbedingt jeder einzelne Mensch ist zum diskursiven Denken befähigt. Berauschte, Geistesschwache oder Irrsinnige vermögen keine Schlussreihen zu bilden. Auch sind die Menschen in unterschiedlichem Masse mit Vernunft begabt; ja, sie sind (wie die Erfahrung unzweideutig lehrt) schon mehr oder minder verschieden urteilsfähig.

(4) Intuition (Eingebung) nennt man die mit einem Blick, meist plötzlich auftretende Einsicht in grössere Zusammenhänge und Gestaltungen. Sie kommt also nicht durch Erfahrung (Wissen, das aus der unmittelbaren sinnlichen Berührung mit dem Gegenstand entspringt) oder Erkenntnis (aus schlussfolgerndem Denken) zustande. Dass es solche Intuition gibt, steht ausser Zweifel. Widerlegt ist allerdings, dass sie besonders dem weiblichen Geschlecht eigen sei.

(5) Im Denken abgebildete Begriffe heissen Vorstellungen. Sie sind also das gedachte Gegenstück zu den Objekten (Gegenständen, Dingen); etwa: Mensch, sterben. – Die Fähigkeit des Menschen, aus erworbenen Vorstellungen durch deren mannigfache Verknüpfung und Gestaltung neue, eigengeartete Gebilde zusammenzusetzen, nennt man Phantasie. Die Definition zeigt die Beschränktheit der Phantasie. Sie kann nichts Neues schaffen: keine neue Einzelvorstellungen; etwa: eine neue Farbe oder einen neuen Ton. Sie ist vielmehr nach dem Inhalt an den vorhandenen Vorstellungsbestand gebunden, so wie der Baumeister an die Werkstoffe.


II Wirklichkeit der Dinge

(1) Vorausgesetzt sei, dass eine vom menschlichen Denken unabhängige, jedoch im Denken erkennbare Wirklichkeit als Gegenstand der Erfahrung und Erkenntnis vorhanden ist. Ein Gegenstand gibt sich in seinem Sein (in seiner Anwesenheit; etwa: als Geldschein), in seinem Wesen (in seinem Wassein: Geld ist Zahlungsmittel) und in seinem Sinn (in seiner Bedeutung in einem grösseren Zusammenhang: Geld vermittelt den Tauschverkehr) zu erkennen. Man nennt diese Auffassung (erkenntnistheoretischen) Realismus.

(2) Zu Unrecht warf man Jung-Stilling vor, er unterstelle in der “Theorie der Geister=Kunde” den Phänomenalismus. Dieser lehrt, dass die Dinge, die wir wahrnehmen, gar nicht die Dinge “an sich” sind. Wir erkennen ein Sein immer nur so, wie es sich uns zeigt. Bloss die Erscheinungen (Phänomene) der Dinge bilden als die uns zugekehrte Seite ihres Wesens den Gegenstand der Erfahrung und Erkenntnis. Jung-Stilling (als Arzt und Ökonom) weist solche Unterstellungen zurück. Dieser erkenntnistheoretische Standpunkt ist nämlich mit den Naturwissenschaften unverträglich und auch logisch widerlegbar.

(3) Jung-Stilling geht davon aus, dass Gott diese Welt und die in ihr vorherrschenden Gegebenheiten für uns Menschen so bestimmt hat (“Theorie” 35). Die Wahrnehmung (Kenntnisnahme durch Erfahrung oder Erkenntnis) eines Gegenstandes geschieht durch den Verstand; und die Dinge sind in Sein, Wesen und Sinn erkennbar. Freilich ist damit noch offen, ob die Dinge auch vollständig in Wesen und Sinn zu erkennen sind. Nur der Schöpfer dringt in ihr “inneres Wesen” (in ihre inwendige Grundbestimmtheit) ein, jedoch kein erschaffener Geist (“Theorie” 32). Soweit es aber die Ordnung dieser Welt betrifft, hat der Mensch die ihm vom Realismus zugeschriebene Kraft zur Wahrheitsfindung.

(4) Die Welt ist für uns so, wie wir sie aus Erfahrung (sinnliche Anschauung) und Erkenntnis (schlussfolgerndem Denken) einsehen (“Apologie” 28). Die für die Natur (Schöpfung) gültigen Gesetzmässigkeiten gelten aber mitnichten auch für das Übernatürliche (“Theorie” 41, “Apologie” 27). Denn dieses ist nur Gott und den Geistern eigentümlich und mit den Mitteln naturwissenschaftlichen Denkens deshalb definitionsgemäss nicht zu erfassen (“Apologie” 42). – Zu Jung-Stillings Zeiten wurde dieser Unterschied nicht von allen klar gesehen (mechanisch-philosophisches System, “Theorie” 20 ff.).


III Raum und Zeit

(1) Jung-Stilling leugnet weder die Zeitlichkeit noch die Räumlichkeit des Wirklichen (“Apologie” 26 f.). Die unseren Wahrnehmungen zu Grunde liegenden Dinge füllen tatsächlich einen Raum aus. Der Wahrnehmung von Ausdehnung, Gestalt, Abstand, Lage, Entfernung und Bewegung entspricht etwas Gleichartiges in der Wirklichkeit. Auch erscheint uns nichts als “stehendes Jetzt”. Vielmehr erfahren wir die Dinge als fliessend, beginnend, sich ändernd. Wo aber Veränderung ist, da muss ein Nacheinander, also Zeitlichkeit sein (“Theorie” 362).

(2) In der Schöpfung (Natur) gibt es also Raum und Zeit. Es muss daher nach den Bedingungen von Raum und Zeit sowohl geurteilt als auch geschlossen werden, und das Ergebnis ist wahr (“Theorie” 33 f.). Aber Gott und die von ihm erschaffenen Geister sehen die Welt anders. Für sie gibt es weder Raum, noch Zeit noch ein kopernikanisches Weltsystem (“Theorie” 211). Daher darf man das bloss den körperlichen Wesen (den Menschen, Tieren, Pflanzen und der Materie) anhaftende raum-zeitliche Sosein nicht auf die Geisterwelt übertragen (“Theorie” 36, 211). Wer solches tut, urteilt wie ein Blindgeborener über Farbe.

(3) Gegen den Anwurf, er leugne das kopernikanische Weltsystem, setzt sich Jung-Stilling in der “Apologie der Theorie der Geisterkunde” zur Wehr. Dessen Richtigkeit und Gültigkeit stehe ausser Frage. Nur sei das Weltall aus der Sicht des Schöpfers ganz anders. Es sei weder körperlich, noch im Kräftespiel, noch in Bewegung, noch so geordnet, wie es sich dem forschenden Menschengeist zeigt. Dennoch ist es für den Menschen tatsächlich so, wie er es sieht, und nicht lediglich Setzung des Verstandes (“Apologie” 26 f.). Es gibt also nach Jung-Stilling eine doppelte Wirklichkeit: eine aus menschlicher Schau und eine aus göttlicher Sicht (“Theorie” 32 ff., 363, 366 f.).


IV Naturgesetze und Wunder

(1) Wichtige Voraussetzung ist, dass die naturwissenschaftlichen Gesetze überall und in gleichem Masse gültig sind. Die Natur (als Schöpfung: die Welt, so wie sie ist) wird von Gleichmass und Regelmässigkeit beherrscht. So gelten beispielsweise die Aussagen von der Gravitation (Massenanziehung) für alle Himmelskörper (wie die Raumfahrt auch bestätigte), und die Wirkweise der Osmose (von einer Lösung bewirkte Diffusion des Lösungsmittels durch eine Membran, die zwar für das Lösungsmittel, nicht aber für den gelösten Stoff durchlässig ist) erweist sich in allen Pflanzen, Tieren und Menschenkörpern als die Gleiche. Eine Ausnahme von dem gesetzmässigen Geschehen ist der Natur selbst nicht möglich. Denn in der gesamten Schöpfung sind Wirkanlagen (die in den Naturdingen angelegte Hinordnung zu einer bestimmten Tätigkeit) mit den Dingen und ihren Wirkungen zwanghaft verbunden.

(2) Wunder ist eine sinnfällige, aussergewöhnliche Begebenheit, welche die Natur übersteigt. Sinnfällig heisst, dass sich die Begebenheit der menschlichen Wahrnehmung (als Oberbegriff für Erfahrung und Erkenntnis) zeigt. Aussergewöhnlich schliesst erstens die Häufigkeit aus und meint zweitens, dass das Geschehen dem gesetzmässigen Naturverlauf zuwider ist. Die Definition macht deutlich, dass es eine naturwissenschaftliche Erklärung (Erklärung meint hier und im folgenden immer die Zurückführung eines Unbekannten auf etwas Bekanntes) des Wunders nicht geben kann! Denn dies hiesse ja, das Wunder aufheben. Wohl aber hat die Naturwissenschaft – und nur sie! – die Feststellungskompetenz, ob eine Begebenheit als “Wunder” einzustufen ist oder nicht.

(3) Jung-Stilling (“Theorie” 216) unterscheidet zwischen wahren und falschen Wundern. Erstere haben Gott zum unmittelbaren oder mittelbaren Urheber. Sie geschehen im Namen Jesu Christi. Letztere sind entweder Tricks (angelernte Kniffe und Kunstfertigkeiten als Täuschungs-Praktiken, worüber Jung-Stilling in den bereits genannten Beiträgen in seiner Monatsschrift “Der Volkslehrer” aufklärte) oder noch nicht erforschtes Naturgeschehen. Dass auch böse Geister Wunder zustande bringen können, nimmt Jung-Stilling nicht ausdrücklich an. Andere Vorkommnisse freilich können auch von “falschen eitlen Geistern aus dem Hades” (“Theorie” 73) und von bösen Geistern (“Theorie” 190) bewirkt werden.


B Theologische Voraussetzungen

 


I Gott und Offenbarung

(1) Gott ist der Urgrund jedlichen Seienden (Seiendes als allgemeinster Begriff eines Etwas verstanden; als Existierendes: als etwas, was dem Sein zukommt). Dies lässt sich in dreifacher Hinsicht erkennen. Erstens geht alles von Gott aus als der ersten Wirkursache (die durch ihr Wirken ein Seiendes als das Gewirkte hervorbringt). Zweitens wird alles von Gott angezogen als dem letzten Ziel (das durch ein Streben zu erreichende Gut). Drittens nimmt alles an seiner Fülle teil und stellt damit ein Ebenbild seiner Herrlichkeit dar.

(2) Der Urgrund gründet nicht mehr in einem anderen: er ist allein sich selbst. Die erste und letzte Ursache von allem muss denknotwendig selbst unverursacht sein. Sie existiert kraft der Notwendigkeit ihres eigenen Wesens (Aseïtät). Daher fallen bei Gott Wesenheit (Sosein) und Dasein (Existenz) zusammen. Er hat nicht bloss Sein wie ein Seiendes (ein Sein-habendes), sondern ist das Sein selbst in Person. Hierin besteht Gottes metaphysisches Wesen, durch das er von allem anderen abgehoben ist.

(3) Gottes physisches Wesen umfasst zusammen mit seinem Sein in Person alle seine Vollkommenheiten, die mit jenem als ihrem Kern gegeben sind. Insofern diese Vollkommenheiten das Sein in Person näher bestimmen, heissen sie Eigenschaften Gottes. Sie bilden in Gott selbst eine Einheit und sind doch eine unendliche Fülle. Weil der Mensch sie nicht erfahren kann, muss er sich mittelbar mit den aus dem Irdischen stammenden Begriffen ein stückhaftes Bild von ihnen machen (Gottes-Idee). Weisheit, Güte, Gerechtigkeit, Wahrheit, Macht usw. sind solche an sich unzureichende (das heisst: die tatsächlichen Eigenschaften Gottes nur tropfenweise erfassende) Begriffe (“Theorie” 36 f.). Sie werden im letzten Kapitel dieses Buches näher erläutert.

(4) Als das Sein selbst in Person ist Gott die ganze Fülle des Seins und daher unendlich. Bei Gott ist das Sein durch kein Nichtsein beschränkt: er ist ohne jede unerfüllte Möglichkeit und darum lauteres Sein (reine Aktualität).

(a) Weil Werden ein Nochnichtsein voraussetzt, ruht Gottes Sein von Anfang an vollendet in sich: Gott ist ewig. Als lauteres Sein überragt Gott unsagbar das endliche, werde-gebundene Seiende (Transzendenz), um ihm aber zugleich als sein Urgrund innezuwohnen (Immanenz).

(b) Gott ist reiner Geist und damit ein persönliches Wesen. Er besitzt sich selbst erkennend und liebend und waltet über allem mit seiner Vorsehung (Wirksamkeit, die Geschöpfe zu den ihnen gesteckten Zielen hinlenkt).

(c) Mit dem Menschen tritt Gott durch Religion in persönliche Beziehung. Religion ist im Regelfall zunächst praktische Lebensbeziehung des Menschen zu Gott. Sie beruht in der unwillkürlichen und gottgewirkten Einsicht der Lebensgebundenheit an Gott. Durch freiwillige Hingabe an ihn erhebt sich die Religion zur Lebensgemeinschaft mit Gott und damit zu einer gottähnlichen Stellung in bezug auf die Welt.

(5) Wiewohl Gott eine wahrhafte Einheit ist, gilt als ebenso wahr auch die Aussage seiner Dreiheit (Trinität). Diese Dreiheit setzt einen wirklichen Unterschied in Gott voraus. Die Verschiedenheit bezieht sich erstens auf die Personen; und zwar im positiven ausschliessenden Sinne; also nicht bloss als drei Erscheinungsweisen eines Gottes. Sie hat zweitens Bezug auf die Ausgänge (Ursprünge). Die erste Person besitzt das Sosein (die göttliche Wesenheit) als eine nicht mitgeteilte, ursprungslose; die zweite Person als durch Zeugung von der ersten empfangene, und die dritte Person als durch gemeinsame Hauchung der ersten und zweiten Person mitgeteilte.

(a) Das zahlenmässig eine göttliche Wesen ist so vollkommen und unendlich, dass es von den drei verschiedenen Personen zwar auf verschiedene Besitzweisen hin, aber in gleicher Vollkommenheit besessen wird. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind wahrhaft Gott und doch bloss ein Gott.

(b) Die Einheit Gottes ist für den Menschen die erstrangige Wahrheit, die Dreiheit die zweitrangige. Die Einheit ist unbezogen (an sich, absolut), die Dreiheit drückt Beziehungen aus (sie ist relativ).

(6) Gott offenbart sich zunächst ständig durch seine Schöpfung (“Theorie” 211). Aus ihr kann der Mensch durch Gebrauch des Verstandes auf Gottes Dasein (Existenz: dass etwas da ist) und Wesenheit (Sosein: was etwas ist) schliessen (natürliche Gotteserkenntnis). Er hat darüber hinaus der Menschheit seinen Willen durch von ihm beauftragte Personen (Propheten) kundgetan. Dazu hat er sich als Jesus Christus in Menschengestalt gezeigt und seine unermessliche Liebe zu jedem einzelnen Menschen entdeckt. Dies ist in der Bibel (Heiligen Schrift) beschrieben. Sie berichtet vom Wirken Gottes an den Menschen (“Theorie” 3 ff.)

(7) Die Bibel ist also nicht Urkunde der Offenbarung Gottes selbst, so wie seine Schöpfung. Sie ist vielmehr Zeugnis des Glaubens von Menschen an Gottes Offenbarung. Die Heilige Schrift ist geglaubte Geschichte; sie ist Gottes Geschichte mit der Menschheit, aufbewahrt im Gedächtnis von Menschen.

(a) Weil es sich bei der Bibel um geglaubte Geschichte handelt, folgt daraus erstens, dass auch der Glaube stets Geschichte ist. Zweitens leitet sich daraus ab, dass auch die Bibel schon immer ein Stück kirchlicher Tradition darstellt. Schrift und Tradition lassen sich daher nicht grundsätzlich gegeneinander absetzen.

(b) Ziel der biblischen Glaubensüberlieferung ist die Erweckung neuen gegenwärtigen Glaubens. Der Christ muss die Bibel daher beim Wort nehmen. Er soll und darf sie aber nicht wörtlich nehmen. Ein buchstäblicher Bibelglaube rechtfertigt sich in gar keiner Weise aus der Bibel selbst. An keiner Stelle des Alten oder Neuen Testaments – auch nicht von Jesus! – wird eine entsprechende Empfehlung oder gar Anweisung gegeben. Jung-Stilling ist bei dieser Einschätzung schwankend; man vergleiche die entsprechenden Aussagen zum Stichwort “Bibel” im “Jung-Stilling-Lexikon Religion”.


II Schöpfung

(1) Alles Seiende (was insgesamt da ist: was existiert) geht aus der freien Entscheidung Gottes hervor (“Theorie” 361). Die ganze sichtbare und unsichtbare Welt ist aus keinem bereits vorliegenden Stoff durch Gott gebildet. Sie ist vielmehr aus dem Nichts erschaffen. Die Schöpfungstat Gottes bestand jedoch sicher nicht in einem einzigen, gewaltigen Hineinstossen der Dinge in ihre endgültige Form. Gott lässt vielmehr die Dinge der Welt (der Natur: also die konkreten, raum-zeitlichen Einzelseienden) aus dem Schoss der Dinge aufsteigend entstehen (Evolution).

(a) Im ersten und einzigen Schöpfungsakt Gottes befand sich schon die ganze stoffliche Welt. Sie war aber gewissermassen noch embryonal, noch eingerollt. Erst im Laufe der Milliarden Jahre entrollt sie sich.

(b) Zu seiner Zeit trat und tritt jeweils das Einzelne (das von Beginn an eingebunden vorhanden war) für sich in Erscheinung. Der eine Schöpfungsvorgang Gottes dauert also schon seit Milliarden Jahren an. Er ist noch immer im Gange und wird weiter dauern.

(2) Aus dem Nichts erschaffen hat Gott auch Engel (“Theorie” 88, 361). Sie sind reine Geistwesen (Körperlosigkeit), unter sich verschieden (Individualität), mit freiem Willen begabt (Freiheit) und schauen in Gottes Angesicht (Seligkeit). Jung-Stilling schreibt einerseits den Engeln einen Einfluss auf die Weltregierung zu (“Theorie” 175 f., “Apologie” 23). Sie sind “Werkzeuge, durch welche der Herr die ganze Schöpfung, also auch unsere Sinnenwelt regiert” (“Theorie” 105). Andrerseits sollte ihnen niemand Beachtung schenken oder sich an sie wenden (“Theorie” 43) bzw. ihren Umgang suchen (“Theorie” 376, “Apologie” 26).

(a) Schutzengel sind Geister, die jedem Menschen von Gott beigesellt sind. Sie wenden Gefahren des Leibes und der Seele von ihren Schützlingen ab, eifern sie zum Guten an (“Theorie” 104 f. 175, 189, 375; “Apologie” 23 ff.) und begleiten sie in die zukünftige Welt (Jung-Stillings Werk “Szenen aus dem Geisterreich” beschreibt dies im einzelnen). Er muss ihnen eine gewisse Wirkmacht zu Gebote stehen, wodurch sie auf die Aussenwelt Einfluss nehmen. Wie gross diese ist, bleibt offen. Die von Jung-Stilling angeführten Beispiele und auch Jung-Stillings Erfahrungen (sein Schutzengel Siona diktierte ihm die Schrift “Lavaters Verklärung” in die Feder) sind sicher als von Gott erteilte Wundermacht für einzelne Fälle zu verstehen.

(b) Ein Teil der Engel hat sich frei von Gott abgewendet und steht ihm in Feindschaft gegenüber. Dies sind die bösen Geister. Sie “wirken zum Verderben, erhitzen die Leidenschaften, und locken zum Laster” (“Theorie” 143). Der abgefallene oberste Engel, dem die Leitung der irdischen Dinge oblag, heisst Teufel (Satan, Luzifer).

(c) Warum lässt der heilige Gott, der dass Böse niemals bewirken und billigen kann, das Base zu? Weshalb hindert er die von ihm frei erschaffenen Wesen nicht, ihre Freiheit zum Bösen zu missbrauchen?

(ca) Hier ist Jung-Stillings Antwort klar. Die sittlich gute Entscheidung als freie Verherrlichung Gottes setzt Wahlfreiheit und damit die Möglichkeit zum Bösen denknotwendig voraus. Gott hat alle geschaffenen Geister und Menschen mit Willensfreiheit ausgestattet. Es ist dies die Fähigkeit, erkannten Werten gegenüber selbstmächtig (ohne Zwang, ohne von etwas bestimmt zu werden) Richtung zu nehmen. Man kann ein Gut oder ein Ungut wählen oder nicht bzw. dieses oder jenes Gut oder Ungut anderen vorziehen.

(cb) Ein Gut ist allgemein etwas, was den Menschen im Wahren, Schönen und Guten bestärkt (“Apologie” 20 f.). Das Wahre besteht darin, dass es dem Zweck der zeitlichen und ewigen Glückseligkeit entspricht. Das Schöne bereitet im Menschen eine ihn veredelnde Freude. Das Gute macht die Kräfte des Leibes und der Seele vollkommener. Unter Ungut versteht man ein Ding, das dem Menschen sofort oder später schadet. Es wirkt mit anderen Worten dem Wahren, Schönen und Guten entgegen.

(d) Nach Jung-Stilling kann der Einfluss des “bösen Feindes” nicht geleugnet, darf jedoch auch nicht übertrieben werden (“Theorie” 190 f.). Die Erkenntnis des Teufels und der bösen Geister (als früheren Engeln) ist geblieben. Sie übersteigt daher die menschliche. Jedoch erkennt der Satan nicht das Zukünftige und auch nicht die Gedanken (alle Denkerlebnisse) des Menschen. Er vermag auch, wie bereits dargestellt, keine Wunder zu wirken, sondern höchstens Taten, welche die menschlichen überragen.

(e) Gott gestattet es dem Teufel, uns zu versuchen. Aber nicht jede Versuchung ist vom Teufel, weil Fleisch und Welt auch versuchlich sind. Der Satan kann nie zur Sünde zwingen, denn es gibt keine Sünde ohne Freiheit. Teufelsbündnisse sind möglich (“Theorie” 138). Niemand freilich, der sich mit einem bösen Geist verbündet, kann Nebenmenschen schaden, “wenn ihm nicht jemand selbst die Gelegenheit dazu giebt, und die Gottesfurcht beyseite setzt” (“Theorie” 195).


III Der Mensch als Leib-Seele-Wesen

(1) Der Mensch besteht aus Leib und Seele; siehe Gn 2, 7. Der Leib (Körper) hat sich aus den Dingen der Natur in Milliarden Jahren entwickelt. Er ist gebunden an den Zeittakt der Natur (Schlaf, Tod). Jeder menschliche Leib ist ein Teilchen der stofflichen Welt. Als solcher unterliegt er den Gesetzen des physikalisch-chemischen Geschehens im organischen Leben (Stoffaustausch mit der Umgebung einschliesslich aller entsprechenden Wirkmechanismen).

(2) Seele nennt man (im Menschen) die im Wechsel des Lebens vorgängige, bleibende, unstoffliche Substanz, welche die psychischen Lebenstätigkeiten in sich erzeugt und trägt, den Organismus also belebt. Substanz allgemein meint das, was ein Sein nicht in einem anderen, sondern in sich und für sich hat (Inseïtät). Daher bezeichnet Substanz das Selbständige, für sich Bestehende gegenüber dem Anhaftenden, Unselbständigen: dem Akzidens, dessen Wesen in der Inhärenz besteht. Der (theologische) Begriff Grundwesen bei Jung-Stilling (“Theorie” 211, 361) entspricht in etwa dem philosophischen Begriff Substanz.

(a) Die Seele ist ein unkörperliches, auch unabhängig vom Körper bestandsfähiges, unvergängliches, einheitliches und lebendiges Wesen (“Theorie” 61, 80, 363). Sie ist Quelle und dauernder, freitätiger, selbsteigener Träger alles geistigen Geschehens. Wesenhaft hingeordnet auf einen menschlichen Leib, ist sie sowohl Wesensform des Körpers als auch Urgrund seines Lebens, Wachsens und Reifens: aller Eigenbewegung (wogegen bei allem Leiblosen, Unbeseelten nur körperliche Fremdbewegung möglich ist).

(b) Mit Jung-Stilling (“Theorie” 60 f.) wird hier die Zweiheit von Leib und Seele unterstellt. Eine Dreiheitslehre nimmt im Menschen Geist, Seele und Leib an. Dies lässt sich jedoch mit der Heiligen Schrift (Gn 2, 7), der Wirklichkeit des Erlebens und der Sinneinheit der Lebensvorgänge nicht vereinbaren. – Die Seele ist Gestaltungsgrund des einzelnen menschlichen Lebens, des freitätigen Ichs. Daher besteht sie immer nur als gesonderte Einselseele.

(c) Schöpfer auch der Seele ist Gott. Offen bleibt, wie er sie erschaffen hat. Jung-Stilling vertritt zwischen den Zeilen den Kreativismus: Gott erschafft jede Einzelseele in einem besonderen Akt. In der protestantischen Theologie seiner Zeit vertrat man darüber hinaus auch den Generatianismus: in der Zeugung wird die Seele als geistige Substanz mitgebildet. Die Seele könnte aber auch bei jedem einzelnen Menschen durch Evolution zur individuellen geistigen Substanz werden. In dem einmaligen Schöpfungsakt Gottes, der sich über Milliarden Jahre dahinzieht, entrollen sich demnach in der Zeit ständig Seelen.

(d) Die Seele als geistige Substanz ist unkörperlich, unausgedehnt und absolut einfach; sie setzt also jede Zusammengesetztheit aus. Ein weiterer Wesenszug ist ihre Vernünftigkeit. Sie ist der Grund und Träger des gesamten geistigen Lebens, des Denkens, Erkennens und Wollens. – Die Geistigkeit der Seele macht es unmöglich, sie räumlich (irgendwo im Körper; etwa: Blut, Herz, Gehirn) zu bestimmen. Sie erfüllt und “durchseelt” den ganzen Leib: “die Menschenseele ist in ihrem Körper allenthalben gegenwärtig” (“Theorie” 61).

(3) Zum Problem der Beziehung von Leib und Seele vertritt Jung-Stilling erkennbar einen Dualismus (“Theorie” 44 f.). Er sieht Leib und Seele als zwei zwar aufeinander bezogene, aber gegensätzliche Substanzen. Die Seele nennt er dabei gleichsam einen Gefangenen des Leibes (“Theorie” 129, 377). Diese Sicht der Dinge (Kerkertheorie; siehe “Theorie” 62) will Jung-Stilling aber nicht philosophisch verstanden wissen (“Apologie” 20 f.): er zog sich gegen die Kritik des Basler Gutachtens gegen seine “Theorie der Geister=Kunde” auf eine mehr bildlich gemeinte Beschreibung zurück.

(a) Leib und Seele sind als Teilsubstanzen zu einem Ganzen, zu einer lebendigen Vollsubstanz verbunden. Die Seele gilt dabei als das bestimmende, formende Prinzip (Prinzip verstanden als Ursprüngliches, erstes, von welchem andere Dinge abhängig sind). Durch die Seele wird die andere Teilsubstanz, der Leib, zur Teilhabe am lebendigen Sein des Ganzen erhoben. Teilsubstanz kennzeichnet dabei eine naturhafte Hinordnung auf einen anderen Wesensteil.

(b) Aus der trotz ihrer Wesensverschiedenheit substanziellen Einheit von Seele und Leib lassen sich alle Erfahrungstatsachen im Leib-Seele-Verhältnis erklären. Das geistige Tun des Menschen ist stets von stofflichem Sein (wie kosmische Einflüsse, Vererbung, Krankheit) mitbedingt. Andrerseits sucht auch geistiges Erleben sich im Leib auszudrücken (wie Blick, Physiognomie, Körperhaltung, Bewegung); Jung-Stillings Freund Johann Caspar Lavater (1741–1801) hat dies in der neueren Zeit wieder einsichtig begründet. Auch vollzieht sich zwischenmenschlicher Kontakt von Seele zu Seele im Regelfall über körperliches Tun (Kommunikation, Sprache).

(c) Die hier dargelegte Auffassung des Verhältnisses zwischen Leib und Seele nennt man auch Duo-Monismus oder Hylemorphismus; sie geht auf Aristoteles von Stagira (384-322 v.Chr.) zurück. Der Hylemorphismus bleibt als Erklärungstheorie selbst auch dann zureichend, wenn man die Materie (die Atome, aus denen sich der menschliche Leib aufbaut und zusammensetzt) mit der Atomphysik und Quantentheorie letztlich unräumlich als reine Kraftwirkung definiert.


IV Himmel, Hölle und Hades

(1) Von ganz entscheidender Bedeutung für die Beurteilung von Vorkommnissen nach Jung-Stilling ist dessen Lehre von den letzten Dingen. Jeder einzelne Mensch ist von Gott berufen, für einige Zeit an seiner Schöpfung mitzuwirken. Je nachdem, wie er Gott in seinem Nächsten an dieser Lebens-Aufgabe gedient hat, wird seine Bestimmung nach dem Tod sein. Die Gerechten kommen sofort nach ihrem Ableben auf der Erde in den Himmel. Die von Gott abgewandten Bösen werden in einen jenseitigen Strafzustand versetzt, in die Hölle (“Theorie” 373). Sowohl die Seligen als auch die Verfluchten kehren nie zur Erde zurück. In Jung-Stillings Lehrsystem ist es daher ausgeschlossen, dass Heilige oder Verdammte sich zeigen (“Theorie” 375). Für Heilige (Selige) lässt Jung-Stilling eine Ausnahme zu. Er schliesst nämlich nicht aus, dass solchen Menschenseelen die Aufgaben von Schutzgeistern übertragen werden. Sie sind damit den Engeln ähnlich (“Theorie” 375). Seelen können gleichsam “zum Engel erreifen” (“Theorie” 62).

(2) “Die grosse Menge bürgerlich guter rechtschaffener Menschen, die sich aber in ihrem Leben wenig um Christum und seine Religion bekümmert, sondern nur die äusseren Ceremonien mitgemacht haben” (“Apologie” 43), kommen in einen Mittelort (Totenreich, Hades, Scheol). Mit dieser Lehre steht Jung-Stilling zwar nicht im Widerspruch zur Geschichte der Theologie, wohl aber zur protestantischen Lehre seiner Zeit (“Apologie” 29 ff.). Im einzelnen macht Jung-Stilling zum Hades folgende acht wesentliche Aussagen.

(a) Im Hades reifen die Seelen für kürzere oder längere Zeit entweder zum Himmel oder zur Hölle heran (“Theorie” 12, 156, 221). Es gibt also im Hades Gute und Halbgute, Halbböse und Böse (“Theorie” 150).

(b) Die nach dem Tod im Hades angekommene Seele verspürt die Sinnenwelt nicht mehr. Sinnenwelt meint dabei die irdische Aussenwelt, die durch Empfindungen wie Licht, Ton, Wärme, Kälte Geruch oder Geschmack wahrgenommen wird. Sie erkennt jedoch die Geister, die im Hades sind (“Theorie” 371).

(c) Die Seelen im Hades können vom Geschick noch lebender Menschen (vor allem der Angehörigen) Kenntnis erhalten (“Apologie” 24). Dies geschieht einmal durch Nachricht von Seelen, die eben entleibt wurden und im Hades ankommen. Zum andern kann aber auch Wissen vermittelt werden “aus den Anstalten, die in Ansehung unserer im Geisterreiche gemacht werden” (“Theorie” 279).

(d) Die Seele im Hades besitzt die Vorstellung von Raum und Zeit. Jedoch ist ihr nun in Raum und Zeit alles nahe und nichts fern. Sie kann deshalb wissen, was in der Ferne und was in der Zukunft geschieht, “insofern es ihr die Gesetze des Geisterreichs erlauben” (“Theorie” 275). Freilich kann sich die Seele irren. In Unkenntnis ihrer Falschheit werden dann Aussagen als wahr behauptet (“Theorie” 375).

(e) An sich betrachtet ist der Hades ein leidensfreier Ort (“Theorie” 14). Die eigentlichen Leiden im Hades sind das Heimweh nach der auf immer verlorenen Sinnenwelt der nun leeren, entblössten Seele, die auf die Hölle zugeht (“Theorie” 296, 298). Seelen, die auf den Himmel vorbereitet werden, leiden keine Pein ausser der, die sie sich selbst machen (“Theorie” 296, 372). So empfinden etwa jene Seelen Leiden, die mit einer nicht abgelegten Begierde aus diesem Leben schieden (“Theorie” 374).

(f) Auf noch lebende Menschen können Seelen im Hades nur einwirken, wenn sie sich mit ihnen in Verbindung setzen können und dürfen (“Theorie” 88). Sie vermögen dann Menschen auch absichtlich zu täuschen und in die Irre zu führen (“Theorie” 375). Manche machen es sich zu einem Vergnügen, Menschen zu betrügen (“Theorie” 150).

(g) Seelen aus dem Hades vermögen sich grundsätzlich körperlich sichtbar zu machen. In diesem Falle können sie von vielen Menschen gesehen werden. Jedoch fällt dann dem Betrachter auf, dass es sich um keinen natürlichen, lebendigen Menschen handelt (“Theorie” 84).

(h) Es ist nützlich und heilsam, für Seelen im Hades zu beten (“Theorie” 298, “Apologie” 69).

(3) Jung-Stilling sieht das Totenreich als Ort an; er weist es (nach Num 16, 30; Dtn 32, 22 usw.) der Erde zu (“Theorie” 88, 371). Das Paradies ist ein Teil des Hades als Durchgangsstation für alle (“Theorie” 379). Die Hölle sieht Jung-Stilling im Erdinnern (“Theorie” 380), den Himmel hoch in der Luft “Theorie” 12). Diese Auffassung verteidigt er hartnäckig gegen die Basler Gutachter (“Apologie” 31 ff.). Diese wiesen zu Recht darauf hin, dass die Bibel einen schlüssigen Beweis der Ortstheorie nicht zulasse, wie Jung-Stilling es behauptet. Vielmehr müssen Himmel, Hades und Hölle als Zustände gesehen werden. Wahrscheinlich haben Jung-Stillings sinnliche Erfahrungen mit dem Hades (geschildert in seinen “Szenen aus dem Geisterreich”) diese unnachgiebige Haltung bewirkt. Für die Beurteilung der Vorkommnisse ist jedoch Jung-Stillings Ortstheorie völlig belanglos.

(4) Zu der katholischen Lehre von der Läuterung (früher in der deutschen Sprache – in Anlehnung an 1 Kor 3, 15 – auch “Fegefeuer” genannt) besteht ein sehr wesentlicher Unterschied. Bei Jung-Stilling bereitet der Hades für Himmel und Hölle vor. Die Halbguten werden Selige, die Halbbösen Verdammte. Nach der altchristlichen und katholischen Lehre von der Läuterung sind nur solche Seelen in diesem Zustand, die nach einiger Zeit in den Himmel kommen. Jung-Stilling scheint diesen Unterschied zu verkennen (“Theorie” 14 f., “Apologie” 42).

(5) In der schulgerechten Dogmatik der katholischen Kirche wurde überdies lediglich die Tatsache der Läuterung nach dem Tode (Apokatastasis) gelehrt – mehr nicht! Die Vulgärtheologie (Mönchsorden!) und die volkstümliche Frömmigkeit freilich schmückten den Läuterungsort (Purgatorium) zu einem Fegefeuer aus. Mit Hilfe von Geld (Ablasshandel!) konnten Seelen daraus befreit werden. Dieser grobe Missbrauch rechtfertigt nach Jung-Stilling jedoch keineswegs, dass die Reformatoren eine Reinigung nach dem Tode ganz ausschliessen (“Theorie” 17, “Apologie” 43). Andrerseits versteht es sich nach Jung-Stilling von selbst, diese Lehre nicht auf die Kanzeln zu bringen (“Apologie” 56). Würden sonst doch viele Menschen ihre Bekehrung zu Gott in das Jenseits hinausschieben (“Theorie” 266 f.).

(6) Jung-Stilling wurde wegen seiner Hadeslehre bis heute immer wieder gescholten. Im besonderen warf man ihm vor, damit eine katholische Lehraussage in die protestantische Konfession eingeführt zu haben. Dabei ist aber zu bedenken, dass es sich beim Hades nicht um eine Sondermeinung der katholischen Kirche handelt! Vielmehr ist die Vorstellung vom Läuterungsort eine durchgehends altkirchliche Doktrin. Dem Gebaren der protestantischen Theologie, an das Evangelium unmittelbar die Lehre der Reformatoren anzuschliessen, ohne die fünfzehnhundert Jahre Lehrentwicklung dazwischen zur Kenntnis zu nehmen, folgt Jung-Stilling nicht. – Überdies ist zu fragen, warum die protestantische Theologie die vorreformatorische Epoche in der Regel völlig ausblendet, die philosophischen Schulen der Zeit nach der Reformation hingegen rührig und begierig ausschöpft. Wenn dies mit dem Hinweis auf das “Moderne” gerechtfertigt wird, so wäre daran zu erinnern, dass gerade eine theologische Aussage nicht nach “modern” und “nicht modern”, sondern einzig nach “wahr” und “falsch” sinnvoll gegliedert werden kann, 1 Tess 5,21.


C Naturwissenschaftliche Voraussetzungen

 


I Einmaligkeit des Menschen

(1) Als tatbestandliche Feststellung, als blosses Seinsurteil (das lediglich über die Beschaffenheit der Wirklichkeit informiert, also “voraussetzungslos” ist) lässt sich zunächst die Einmaligkeit eines jeden Menschen wissenschaftlich eindeutig aussagen. Jeder Mensch ist in seinem Sosein, in seiner Wesenheit, im Inbegriff seiner Eigenschaften einmalig. Es gibt weder leiblich noch seelisch zwei gleiche Menschen.

(a) Jeder hat sein bestimmtes Aussehen (von Form und Schnitt der Mienen und Züge im Gesichtsbereich bis zu den Fingerspitzen: Daktyloskopie!); eine nur ihm eigentümliche Körperbeschaffenheit (Konstitution: die anatomische wie auch die physiologische Verfassung und Ausstattung des Leibes); sein besonderes Temperament (als der vorherrschenden Art, wie Eindrücke der Aussenwelt erfasst, verarbeitet und erwidert werden); sein eigenes Gemüt (als enger Einheit und Ganzheit des vernunfmässigen wie auch sinnlichen Gefühlslebens); auch seine speziellen (biochemisch erklärbaren) Erbfaktoren (Gene: biologische Einheiten mit der Fähigkeit zur Merkmalsauslösung, zur identischen Reproduktion und zur Mutation), deren Zusammensetzung eine wichtige Vorbedingung des Lebensablaufs bildet.

(b) Jeder Mensch ist also Einzelwesen, Individuum. Von allem anderen Sein ist er zudem dadurch abgehoben, dass er nicht wie ein Naturding einfach da ist. Vielmehr vermag er sein Leben zu gestalten, nämlich nach Zielvorstellungen auszurichten. Es eignet ihm Geschichtlichkeit (verantwortliches Gestelltsein in die Zeit).

(2) Im christlichen Glauben zeigt sich die überragende Rolle des Individuums noch viel tiefgründiger. Weiss sich doch hier der Einzelne von einem liebenden Gott persönlich geschaffen. Er ist eingeladen zu einem Verhältnis unmittelbarer Partnerschaft mit Gott. Er lebt in dem zuversichtlichen Vertrauen auf ein Heilswirken (Hoffnung), das alle in ihm liegenden Anlagen und Wünsche erfüllt. Aus dieser von Gott an ihn gerichteten Berufung empfängt jeder Einzelne zusätzlich Rang als Individualität: als ein zu verantwortlicher Selbstgestaltung bestimmtes Wesen.


II Hingeordnetsein des Menschen

(1) Kein Mensch ist jedoch blosses Individuum. Er ist ebenso auch immer gesellschaftliches Wesen. Denn jeder Einzelne ist bedürftig. Bereits vor seiner Geburt bleibt er auf Hilfe durch Mitmenschen angewiesen. Aber nicht bloss diese leibliche Hinordnung auf den Andern macht den Einzelnen zum gesellschaftlichen Wesen. Vielmehr bietet ihm die Gesellschaft (allgemein: jedwelche Mehrheit von Menschen) erst die Möglichkeit, die angelegten Kräfte seiner Seele zu entwickeln. Jeder menschliche Wert und jede Tugend (Tugend hier verstanden als Fertigkeit und Geneigtheit zum Vollbringen bestimmter dem Menschen angemessener Handlungen) lässt sich nur in und durch die Begegnung mit Anderen verwirklichen. Als vereinzeltes Individuum hätte der Mensch noch nicht einmal eine Sprache. Nie käme er zur Entfaltung seiner angeborenen Fähigkeiten.

(2) Der ganze Mensch als Einheit von Seele und Leib ist mithin gekennzeichnet sowohl durch den Selbststand des Einzelwesens (Individualität) als auch durch das Mit-Sein mit anderen Menschen (Sozialität). Beide Umstände kommen ihm gleichursprünglich zu. Man kann ihm weder das eine noch das andere nehmen oder auch nur verkürzen, ohne ihm damit das zu entreissen, was ihm zum Menschen macht: ohne ihm seine Personalität zu rauben. Individualität und Sozialität erweisen sich als gleich gewichtig, weil als in derselben Weise wesensbestimmend für die Personalität.

(a) Da nun aber der einzelne Mensch von Natur aus ersichtlich auf die Gesellschaft hingeordnet ist, bedarf es einer überlegten und angemessenen Zuordnung von Rechten und Pflichten des Einzelnen in bezug auf die Gesellschaft sowie der Gesellschaft in bezug auf den Einzelnen.

(b) Diese Richtlinie spricht das Subsidiaritätsprinzip aus. Es besagt, dass innerhalb der Gesellschaft der Einzelne so viel freien Raum wie möglich zur selbsttätigen Mitarbeit erhalten muss. Jede Form gesellschaftlicher Organisation (auch jede Kirchengemeinde) ist nämlich ausschliesslich und restlos um der sie bildenden Menschen da. Das Subsidiaritätsprinzip ist aber zunächst ein Seinsgrundsatz: eine Tatsachen-Feststellung. Es folgt unmittelbar aus der beschriebenen Wirklichkeit des Menschen und der Gesellschaft.


III Güterabhängigkeit des Menschen

(1) Zur Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse (Bedürfnis definiert als Gefühl eines Mangels, verbunden mit dem Bestreben, solchem Mangel abzuhelfen) ist jeder Mensch fortwährend auf die Verwendung von Gütern angewiesen. Fortwährend deshalb, weil fast alle Bedürfnisse (vor allem: Trinken und Essen) Wiederholungsbedürfnisse sind. Sie treten einige Zeit nach der Befriedigung erneut auf. Im menschlichen Sein liegt eine zwanghafte Gebundenheit an Güter (Güter im ökonomischen Sinne: nützliche, zur Befriedigung der Bedürfnisse taugliche Dinge). Ohne beständigen Güterverbrauch ist menschliches Leben (im biologischen Sinne) nicht möglich.

(2) Die von der Natur (Natur hier verstanden als Schöpfung, als Raum, der als “Um-Welt” da ist) dem Menschen dargebotenen Mittel sind mengenmässig auf einen gegebenen Vorrat begrenzt: sie sind knapp. Dazu zeigt sich jedoch auch noch eine gütemässige Knappheit. Sind doch die zur Erhaltung und Gestaltung des menschlichen Lebens minder tauglichen Mittel (Meerwasser, Steine, Wüstensand) in Überzahl vorhanden. Diese doppelte Knappheit ist als Wirklichkeit vorgegeben; es handelt sich also um eine Seinsaussage: um eine tatbestandliche Feststellung. Letztlich erklärbar ist sowohl die Güterabhängigkeit des Menschen als auch die Knappheit der Güter nur theologisch.

(a) Aus der Güterabhängigkeit des Menschen folgt unmittelbar für jeden die Pflicht zum Wirtschaften: zur Bereitstellung von Gütern unter Beachtung des Sparprinzips. Wie sich nachweisen lässt und die Erfahrung vielfach bestätigt, geschieht das Wirtschaften für alle Beteiligten am zweckmässigsten in einer Wettbewerbsordnung. Wettbewerb (Konkurrenz) heisst allgemein, dass sich mehrere um die Erreichung eines Zieles bemühen, weil sie deshalb in die Gunst eines Dritten kommen wollen. Nur einer (einige) erreichen aber dieses Ziel. Jung-Stilling tritt in seinen ökonomischen Schriften eindeutig für eine Konkurrenzordnung ein.

(b) Es ist unhaltbar, das Konkurrenzprinzip als “widerchristlich” anzuklagen. Denn der Wettbewerb hat eine Anspornfunktion. Viele, die zur Erreichung eines Zieles grundsätzlich fähig sind, werden zur Höchstleistung angeregt. Er ist ferner durch eine Sozialfunktion gekennzeichnet. Jeder Wettbewerber ist veranlasst, sich den Wünschen und Nöten des Nächsten zuzuwenden, um als Anbieter überhaupt zum Zuge zu kommen. Wettbewerb eignet aber auch eine Bestimmungsfunktion. Aus dem Ergebnis der Konkurrenz lässt sich objektiv feststellen, wie ein Ziel am günstigsten (sparsamsten: mit geringstem Mitteleinsatz; unter grösstmöglicher Schonung der knappen Ressourcen) erreichbar ist. Die Auslesefunktion des Wettbewerbs sucht diejenigen, welche das gesetzte Ziel am besten erreichen können, aus einer Vielzahl anderer eindeutig aus. Immer aber hat Wettbewerb auch eine Dienstfunktion an der Gesellschaft. Diejenigen, um deren Gunst man sich bemüht, erhalten das Gut (Ware oder Dienstleistung) am vorteilhaftesten.


ZWEITER TEIL: BEURTEILUNG DER VORKOMMNISSE

(1) Es wird zunächst unterstellt, dass es Vorkommnisse gibt (“Theorie” 216). Jedoch soll und kann hier nicht bewiesen werden, wann und wo solche auftreten. Jung-Stilling musste sich gegen drei Auffassungen wehren, die auch heute noch die Stellungnahme zu Vorkommnissen kennzeichnen (“Theorie” 2 ff., “Apologie” 13 f.). Die erste Gruppe bestritt die Möglichkeit, mithin auch die Tatsächlichkeit der Vorkommnisse (“Theorie” 173, 187). Die zweite Gruppe zweifelte zwar nicht grundsätzlich an ihrem Auftreten. Man schrieb sie aber einfachhin dem “Gauckelspiel des Satans und seiner Engel” (“Theorie” 4) zu. Die dritte Gruppe endlich sah hinter jedem vorderhand rätselhaften Geschehen gleich Vorkommnisse (“Theorie” 4, 187).

(a) Die Tatsächlichkeit der Vorkommnisse ist heutzutage so eindeutig, allgemein und zweifelsfrei dokumentarisch belegt, dass ein Ableugnen aussichtslos wäre. Die auch jetzt noch vor allem in Kreisen evangelischer Christen beliebte Zuweisung an den Teufel als Urheber macht sich die Sache zu leicht (“Apologie” 5). Hier wird die in der Bibel ständig vorgebrachte Ermahnung zur Unterscheidung der Geister sträflich missachtet.

(b) Schwärmer und Wundersüchtige (“Theorie” 187) gibt es heute bestimmt in gleich hohem Anteil wie zu Jung-Stillings Zeiten – eher noch mehr! Sie gilt es nach wie vor in ihrem eigenen Interesse (nämlich zu ihrem eigenen Glück und Heil) auf den Boden des gesunden, vernünftigen Christenglaubens zurückzuführen.

(2) Die wichtige Frage der Festellungs-Befugnis von Vorkommnissen (und damit zwangsläufig verbunden ihre Zuordnung zu einer der im folgenden behandelten Arten) ist bei Jung-Stilling nicht behandelt. Sie soll auch hier nicht näher vertieft werden.

(a) Tatsächlich üben heute die Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) sowie die Wissenschaft (Professoren der Parapsychologie und ihre Mitarbeiter) diese Aufgabe in unserer Gesellschaft aus.

(b) In der katholischen Kirche liegt die Feststellungs-Befugnis letztlich bei der römischen Ritenkongregation. Sie ist eine Behörde des Papstes. Innerhalb der katholischen Kirche wird manchmal bezweifelt, ob dieses Amt zur Beurteilung von Vorkommnissen rechtmässig befugt sei: ob dies nicht vielmehr Sache der Ortskirchen bzw. Bischofskonferenzen wäre. Die vollzogenen Verfügungen dieser römischen Behörde werden im allgemeinen günstig beurteilt. Wer erfährt, wieviele Ansinnen um Feststellung von Vorkommnissen täglich aus allen Teilen der ganzen Welt bei diesem Amt eingehen, der wird – insgesamt gesehen – dessen Arbeit die verdiente Anerkennung nicht versagen dürfen.

(c) Niemand schuldet positiven Feststellungen über Vorkommnisse der Ritenkongregation (darin sind sich alle katholischen Theologen einig) Glauben. Selbst wenn ein Papst sein zustimmendes Urteil über ein Vorkommnis abgibt (wie im Falle der Marienerscheinungen zu Lourdes und Fatima), verpflichtet dieses die Gläubigen nicht, an die Echtheit zu glauben. Es berechtigt sie nur dazu. Auch wird von der katholischen Theologie unbestritten eingeräumt, dass zustimmende (und ablehnende!) Urteile eines Papstes selbst oder seiner Behörden dem Irrtum unterworfen sein können, also nicht “unfehlbar” sind.


A Ahnungen

(1) Jung-Stilling definiert die Ahnung (“Theorie” 44, 100) als eine mehr oder weniger klare Vorstellung eines Objektes (Gegenstandes: Person, Sache oder Ereignis), das entweder jetzt eben in der Ferne stattfindet oder in Zukunft geschehen wird. Vorausgesetzt ist, dass der Grund der Vorstellung nicht aus der Sinnenwelt erfahrbar oder durch Denken erschliessbar ist.

(2) Erfahrung wurde bereits als das durch sinnliche Anschauung (Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken, Betasten) zur Kenntnis Genommene definiert. Wie die Kenntnisnahme im einzelnen geschieht, vermag die Lehre von den Sinnesorganen als Teilgebiet der Physiologie (als die Lehre von den normalen Lebensvorgängen, insbesondere von den physikalischen Funktionen des Organismus) näher zu erklären.

(a) Die Qualität der Erfahrung (ihre Eigenart, etwa: kalt, hell, laut) nennt man Empfindung. Empfindung ist also das bei der Einwirkung auf ein Sinnesorgan eintretende Erlebnis, das durch sich selbst hinreichend gekennzeichnet ist. Man unter-scheidet gemäss den einzelnen Sinnesfunktionen verschiedene Arten (Modalitäten), vor allem Gehör-, Gesichts-, Geruchs-, Tast-, Temperatur-, Schmerz-, Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen.

(b) Wahrnehmung ist die Kenntnisnahme entweder durch Erfahrung (Kenntnis) oder durch schlussfolgerndes Denken (Erkenntnis). Wahrnehmung ist damit der weitere Begriff (Oberbegriff), Erfahrung der engere Begriff (Unterbegriff).

(c) Wahrnehmung geht jedoch über das blosse Abbild von Sinnesreizen bei der Erfahrung oder die schiere gedankliche Schlussfolge beim Denken hinaus. Sie ist im Regelfall auch stets von einem Bedeutungsbewusstsein begleitet: sie ist Kenntnisnahme, Begreifen der besonderen Eigenheit des Wahrgenommenen. Das heisst nicht unbedingt auch in jedem Falle Verstehen des Wahrgenommenen, nämlich ein vollständiges Erfassen seines Sinngehaltes. Ein unbekanntes Werkzeug kann man aber zumindest stets als gestaltetes Material, ein Computerprogramm als das Ergebnis eines logischen Denkvorgangs erkennen.

(d) Davon sind die Vorstellungen als das gedankliche Gegenstück von Wahrnehmungen zu unterscheiden. Im engeren Sinne meint Vorstellung das Sichvergegenwärtigen von Sinnesgegebenheiten (also nicht auch von gedanklichen Gebilden): das Erinnerungsbild einer Empfindung.

(3) Den Erfahrungen und Vorstellungen i.e.S. ist dreierlei gemeinsam. Erstens, sie haben jeweils einen bestimmten stofflichen Empfindungsbezug, etwa die Farbe rot, den Ton c, den Geschmack bitter. Zweitens, sie stehen in einer räumlichen und zeitlichen Ordnung. Drittens, sie sind auf etwas gerichtet, sie vergegenständlichen sich, man hat ein Bedeutungsbewusstsein.

(4) Erfahrung (jeweils im Regelfall, nämlich bei körperlich ungestörtem Zusammenwirken von Sinnesreiz und Empfindung, also bei normal funktionierendem Vermögen zum Hören, Sehen, Riechen usw.) und Vorstellung sind jedoch in mehreren Hinsichten verschieden.

(a) Erstens ist die Erfahrung leibhaftig, sie ist fühlbar gegenwärtig, sie besitzt den Rang der Tatsächlichkeit. Die Vorstellung ist bildhaft, sie trägt das Gepräge des Innerlichen, vom Ich aus Gesehenen.

(b) Zweitens erscheint die Erfahrung im äusseren, wirklichen, objektiven Raum. Die Vorstellung zeigt sich im inneren, persönlichen, subjektiven Raum.

(c) Drittes hat die Erfahrung einen ganz bestimmten Umriss; sie steht vollständig mit allen Einzelheiten da. Die Vorstellung hat einen unbestimmten Umriss; sie steht unvollständig und nur in Teilstücken vor uns.

(d) Viertens haben die einzelnen Empfindungselemente in der Erfahrung volle sinnliche Frische, beispielsweise leuchten die Farben, duften die Blumen. In der Vorstellung entspricht nicht immer jede Empfindung der entsprechenden Erfahrung.

(e) Fünftens sind Erfahrungen beständig, andauernd und können leicht in derselben Weise festgehalten werden. Vorstellungen zerflattern und zerfliessen; sie müssen immer von neuem erzeugt werden.

(f) Sechstens sind Erfahrungen unabhängig vom Willen. Sie können nicht beliebig hervorgerufen und nicht verändert werden. Mit dem Gefühl des Sich-Begebens, der Passivität, nimmt man sie hin. Vorstellungen sind abhängig vom Willen. Man bringt sie im Normalfall mit dem Gefühl des Schaffens, des Tuns, der Aktivität hervor.

(5) Die von Jung-Stilling getroffene Einteilung in, erstens, Vorstellungen über gleichzeitiges Geschehen an anderem Ort und, zweitens, künftiges Geschehen zu anderer Zeit legt es nahe, die Ahnungen in Telepathie (Fernfühlen) und Präkognition (Telästhesie, Hellsehen) zu unterteilen.


I Telepathie

(1) Telepathie (Hellsehen) ist die von einem Sender kommende Kenntnisnahme eines zur gleichen Zeit an einem anderen Ort sich vollziehenden äusseren oder inneren Geschehens.

(a) Äusseres Geschehen heisst, dass der Empfänger Geschehnisabläufe wahrnimmt, die sich tatsächlich ereignen; beispielsweise der Vater den Autounfall seines Sohnes. Inneres Geschehen meint, dass Vorstellungen empfangen werden, nämlich bloss im inneren Raum eines Menschen sich abspielende Erlebnisse.

(b) Die Kenntnisnahme geschieht entweder im Wachsein oder im Traum. Im Wachzustand drängen sich bei dem Empfänger ganz bestimmte Vorstellungen auf, von denen er ein klares Bedeutungsbewusstsein hat; etwa: soeben ist der Sohn verunfallt. Im Traum zeigen sich empfangene Geschehnisabläufe oder Vorstellungen meistens verrätselt. Der Träumer versteht in diesem Falle den Traum in seinem Sinn (zunächst) nicht; etwa: der Sohn steht, laut um Hilfe rufend, am Rande der Autobahn.

(c) Ein Sonderfall der Telepathie ist die Einwirkung auf fernliegende Gegenstände (Telekinese, Psychokinese). So bleiben etwa im Augenblick des Verkehrsunfalls des Sohnes sämtliche Uhren in der Wohnung stehen, oder es hallt ein lauter Schrei durch das Haus bzw. es regnet im Zimmer von der Decke herab (Verstofflichung, Materialisation).

(d) In allen Fällen von Telepathie muss die Zeitgleichheit des telepathisch Gewirkten mit dem tatsächlichen Ereignis feststehen. Eindeutigkeit bedarf es auch hinsichtlich der inhaltlichen Gleichheit zwischen gesendeter und empfangener Abläufe bzw. Vorstellungen. Dies genau festzustellen, ist Aufgabe der empirischen Forschung,

(2) Die Tatsache der Telepathie gilt heute als wissenschaftlich zweifelsfrei nachgewiesen. Es hat sich dabei gezeigt, dass telephatische Erlebnisse abhängig sind von der Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Jedoch spielt der räumliche Abstand beider keine Rolle. In aller Regel besteht eine verwandtschaftliche oder gefühlsmässige Beziehung zwischen den Beteiligten. Freilich gibt es Ausnahmen. Wie auch Jung-Stilling annimmt (“Theorie” 142), scheint es gesichert, dass bestimmte Menschen mit einem besonders entwickelten Vermögen zur Aufnahme telepathischer Botschaften begabt sind.


Erklärung

Bis jetzt gibt es keine wissenschaftlich gesicherte Erklärung der Telepathie. Zwar wurden verschiedene Theorien entwickelt. Sie haben sich jedoch entweder als nicht erklärungsgeeignet oder als empirisch nicht nachweisbar gezeigt.


1 Loslösung der Seele

Eine frühe Deutung unterstellte, dass die Seele (bei bestimmten Menschen, unter gewissen Bedingungen) aus dem Körper träte und sich der Seele des Empfängers mitteile. Dieser Auffassung neigt auch Jung-Stilling zu (“Theorie” 62 f., 78 f., 82, 364). Dem steht aber schon die Tatsache entgegen, dass Ereignisse sehr häufig “von aussen” telepathisch wahrgenommen werden. Beispielsweise sieht der Vater deutlich den Aufprall des Autos mit seinem Sohn als Fahrzeuglenker. Die Annahme eines Aus-dem-Leib-Tretens der Seele widerspräche auch dem Hylemorphismus, der sich sonst als Erklärungsansatz ausgezeichnet bewährt hat.


2. Wellenhypothese

(1) Telepathie ist durch elektromagnetische Wellen (Quanten- bzw. Photonenstrahlung) erklärbar. Bei den elektromagnetischen Wellen breitet sich Energie über miteinander gekoppelte elektrische und magnetische Felder im Raum aus; hierzu ist kein materieller Träger erforderlich. Solche Wellen strahlt das Gehirn eines Menschen als Sender aus. Sie kommen beim Empfänger auch über sehr grosse Entfernungen an. ähnlich oder gar gleich der Wirkweise von Radiosendungen werden telepathische Nachrichten übertragen.

(2) Die eingehende Untersuchung dieser weitverbreiteten Annahme in zahlreichen Grossversuchen hat jedoch keine bestätigenden Anzeichen zutage gefördert. Es sind keine elektromagnetische Erscheinungen bei der Telepathie feststellbar. Dies freilich heisst nicht auch, dass es solche gar nicht gäbe. Nach dem heutigen Erkenntnisstand der Wissenschaft sind sie jedoch nicht nachzuweisen. Zudem sind telepathische Leistungen nachweislich nicht vom Abstand zwischen Sender und Empfänger abhängig. Strahlungsintensitäten aber nehmen mit dem Quadrat der Entfernung ab (Coulombsches Gesetz). Im Falle der elektromagnetischen Deutung bedürfte es zusätzlich der Erklärung, wie solche Wellen über weite Entfernungen verstärkt werden.

(3) Die Wellentheorie kann aber unmöglich den Fall der Wahrnehmung äusserer Geschehnisabläufe erklären (Vater sieht den Unfall seines Sohnes “von aussen”), und schon gar nicht die Erscheinung der Verkörperung (Materialisation), das heisst, dass sich geistige Kraft in gewissen Fällen äusserlich sichtbar machen kann (“Theorie” 301).


3 Psychischer Magnetismus

(1) Die Telepathie ist durch einen die Welt durchziehenden psychischen Magnetismus (manchmal auch als Mesmerismus bezeichnet) erklärbar. Dass es einen solchen gibt, beweist die Hypnose, bei Jung-Stilling noch Magnetisieren genannt (“Theorie” 48 f.).

(2) Gut 80% aller Menschen erweisen sich als hypnotisierbar; wobei unter Hypnose ein künstlich hervorgerufener Bewusstseinszustand mit geistiger Verbindung (Rapport) zwischen dem Hypnotisierten (Medium) und dem Hypnotisierenden (Hypnotiseur, bei Jung-Stilling noch Magnetiseur) zu verstehen ist (“Theorie” 48 f.). Kennzeichnend dabei ist eine Einengung der Aufmerksamkeit (Hervortreten, ins Auge springen gewisser Einzelheiten des Umweltbildes, die psychische Energie des Menschen schlechthin), eine Minderung des Realitätsbezugs und gesteigerte Suggestibilität (Beeinflussung des Seelenlebens durch andere Personen). Die Hypnose wird gewöhnlich in drei Stufen eingeteilt, in Schläfrigkeit (Somnolenz), mittleren Schlaf (Hypotaxie, Charme) und Trance (Somnambulismus).

(a) Schon im ersten Stadium (Somnolenz) treten Starrzustände (kataleptische Erscheinungen) auf, bei denen das Medium seine Körperteile nicht mehr willkürlich bewegen kann, diese aber passiv für erstaunlich lange Zeit und ohne Ermüdung in der ihm vom Hypnotiseur befohlenen Lage verbleiben (etwa: Arme über dem Kopf). – In der zweiten Stufe (Charme, Hypotaxie) können Empfindungsveränderungen (Überempfindlichkeit [Hyperästhesie] und Unempfindlichkeit [Anästhesie]) auftreten, ja auch Schmerzlosigkeit (Analgesie). Daneben vermag Erinnerungsverlust (Amnesie) für die Ereignisse während der Hypnose eingeredet (suggeriert) zu werden. – In der dritten Stufe stellt sich das an Schlafwandeln erinnernde Bild ein (“Theorie” 56). Das Medium vermag nun ohne Unterbrechung des Trancezustandes die Augen zu öffnen, umherzugehen und zu handeln. Es befindet sich aber in einer suggerierten Scheinwelt, deren Gegenstände ihm zum Grossteil so vorkommen, wie sie der Hypnotiseur benannt hat.

(b) In diesem Trancezustand lassen sich nun auch Befehle für den späteren (normalen) Wachzustand erteilen (posthypnotische Aufträge), jedoch nicht solche, die dem sittlichen Urteil (dem Wertempfinden) des Mediums widersprechen. In deren Gefolge werden dann in ganz bestimmter Zeit Handlungen ausgeführt, unter Umständen auch absonderliche wie das plötzliche Spreizen der Arme über dem Kopf. Auf Befragen erklärt das Medium solches Tun mit Scheingründen (Rationalisierung: nachträgliche vernünftige Rechtfertigung von Verhalten). Die zeitliche Reichweite solcher Befehle erstreckt sich über Wochen und Monate, ohne dass in der Zwischenzeit ein Vorsatz im Bewusstsein bestünde. – Auch ohne Zuhilfenahme von chemischen Wirkstoffen (Betäubungsmitteln) kann die Hypnose über einige Tage ausgedehnt werden.

(3) Es gibt zur Hypnose eine Vielzahl sowohl von praxisanleitenden als auch von empirischen, erfahrungsbeschreibenden und theoretischen (untersuchenden) Abhandlungen. Eine letztlich überzeugende Erklärung ist naturwissenschaftlich noch nicht gelungen. Die in der medizinischen Literatur häufig vorgetragene Behauptung, bei Hypnose handle es sich um eine durch drohende Erschöpfung der Hirnrindenzellen hervorgerufene Schutzhemmung, ist empirisch nicht zweifelsfrei belegt; auch handelte es sich bejahendenfalls noch nicht auch um eine Erklärung der Hypnose, sondern nur um die Beschreibung gewisser Begleitumstände. In keinem Falle aber hat sich bestätigt, dass ein – wie auch immer gearteter – weltdurchdringender und auch in jedem Menschen innewohnender psychischer Magnetismus zur Wirkung kommt, obzwar diese Annahme auch nicht wissenschaftlich widerlegt (falsifiziert) werden konnte. Wohl vermag, wie schon Jung-Stilling wusste (“Theorie” 45 ff.), manches Vorkommnis mit Hypnose erklärt zu werden. Dass aber die Telepathie auf Mesmerismus zurückzuführen sei, ist angesichts der Erkenntnislage eine schiere Behauptung.


4 Psi-Macht

(1) Jung-Stilling nimmt an, dass Menschen grundsätzlich ein Ahnungsvermögen haben (“Theorie” 100, 144). Bei einigen Personen ist es ganz besonders ausgeprägt vorhanden; er nennt es “entwickeltes Ahnungs-Vermögen” (“Theorie” 156 f.) und wertet es als eine Seelenkrankheit (“Theorie” 181, “Apologie” 64). Auf dieser Linie liegt auch der heutige Deutungsversuch der Wissenschaft. Unterstellt wird, dass es in der Seele (in jeder?) eine Wirkgrösse gäbe, die ausserhalb des gewöhnlichen Raum- und Zeiterlebens (also nicht ausserhalb von Raum und Zeit als solchen!) tätig werden könne. Man nennt sie Psi-Macht. Wie Versuche zeigen, gibt es unterschiedliche Psi-Leistungen, sowohl bei Sendern als auch bei Empfängern. Besonders günstige Psi-Erfolge entsprechen dem “entwickelten Ahnungs-Vermögen” bei Jung-Stilling (“Theorie” 181). Diese Deutung der Telepathie ist eine vorsichtigere, allgemeinere Form der Lehre vom Mesmerismus und mit dieser verträglich.

(2) Freilich ist beidesmal lediglich ein deutender Begriff eingeführt (Ahnungs-Vermögen, Psi-Macht), ohne dass damit irgend eine Erklärung verbunden wäre. Diese müsste darlegen, wie es aus dem (wie im einzelnen gestalteten?) Ahnungs-Vermögen bzw. der Psi-Macht zu telepathischen Leistungen kommt.

(3) Man nennt häufig auch die angenommene seelische Wirkkraft zur Telepathie und zum Hellsehen Psi-Gamma, die Wirkkraft zur Psychokinese (Telekinese) hingegen Psi-Kappa. Auch hier handelt es sich lediglich um Begriffe, nicht um Erklärungen.


5 Raum-zeitliche Daseinsweise

(1) Behauptet wurde, durch Telepathie werde der Mensch von Raum und Zeit (oder von einem der beiden) entbunden. Jenseits von Raum und Zeit jedoch sei die Kenntnisnahme weit entfernt liegenden Geschehens durchaus möglich.

(2) Jung-Stilling weist deutlich darauf hin, dass Raum und Zeit das im Sinnlichen Allgegenwärtige sind (“Theorie” 367 f.). Ihre Gegenständlichkeit haben sie nicht aus sich heraus, sondern sie umschliessen vielmehr alles Gegenständliche. Raum und Zeit sind allgemein. Keine Erfahrung, kein sinnlicher Gegenstand, keine Vorstellung ist ausserhalb dieser Formen. Das raum-zeitliche Erleben des Daseins vermag der Mensch nicht zu überschreiten. Man kann es aber auch nicht verlassen: jede Person befindet sich immer darin. Wir nehmen Raum und Zeit daher nicht für sich wahr, sondern mit den Gegenständen. Selbst im gegenstandslosen Erleben sind wir der Zeit inne. Freilich gibt es die Bilokation, nämlich die Tatsache, dass eine Person gleichzeitig an zwei Orten sein kann (“Theorie” 77 ff.)

(3) Raum und Zeit, unableitbar und ursprünglich, sind bei Telepathie (wie übrigens bei allen Vorkommnissen) da: sie fallen nie völlig aus. Nur wie sie da sind (ihre Erscheinung, ihre Erlebnisweise, ihre Abschätzung nach Grösse und Dauer) werden unterschiedlich empfunden.


II Hellsehen

(1) Hellsehen (Telästhesie, Luzidität) ist die Kenntnisnahme eines sich zu späterer (oder früherer) Zeit vollziehenden äusseren oder inneren Geschehens, ohne dass sich die Kenntnisnahme aus Erfahrung oder Denken ableiten lässt; siehe etwa die Leistungen von Emanuel Swedenborg (“Theorie” 92 ff.).

(a) Das Hellsehen muss sich also nicht notwendig auf künftige Dinge beziehen (Präkognition, Prophetie; Beispiele “Theorie” 125 f.). Es kann sich auch auf vergangene Geschehnisse richten (Postkognition). Für die Alltagspraxis vor allem der Polizeibehörden ist die letztere Art die bedeutendere.

(b) Manchmal unterscheidet man auch zwischen Hellsehen einerseits und Präkognition bzw. Postkognition anderseits. Danach ist Hellsehen die Vorstellung eines niemanden bekannten Gegenstandes. Hellsehen bezieht sich auf Gleichzeitigkeit. Beispielsweise sieht der Vater im Augenblick des Unfalls seinen Sohn verunglücken. Die Abgrenzung zur Telepathie ist hier schwierig. Einzig das Merkmal “von einem Sender kommend” lässt (rein logisch!) die Unterscheidung zu.

(c) Das überzeugende Gewicht empirischer Befunde (auch bei Jung-Stilling) zwingt zu der Annahme, dass Hellsehen selbst in das Jenseits dringen kann.

(2) Das “echte” Hellsehen (als die eigene Kenntnisnahme zeitlich ferner liegender Dinge) ist in seinem Auftreten wissenschaftlich gesichert erfasst. Es ist jedoch verhältnismässig schwer nachweisbar, weil eine Reihe anderer Erklärungen bei jedem einzelnen Fall ausgeschlossen werden müssen.

(a) Zunächst einmal muss die Erkenntnis künftiger Dinge ausgenommen werden, also die Kenntnisnahme durch schlussfolgerndes Denken: durch aneinandergereihte Verstandesurteile. Ein bekannter Unternehmer sah im Jahre 1970 voraus, dass in seinem Betrieb zwanzig Jahre später statt des Buchhaltungs-Grossraumbüros mit 58 Mitarbeitern bloss noch eine einzige Maschine mit zwei Angestellten stehen werde. Die Vorausschau traf auch tatsächlich ein. Jedoch ist hier offensichtlich, dass beim Stand der damaligen Technik sowie des sachverständigen Abschätzens ihrer Fortentwicklung eine solche Prognose schlussfolgernd zu gewinnen war.

(b) Ähnlich ist die Lage, wenn aus einem zureichenden Grund auf die (spätere) Folge Rückschlüsse zu ziehen sind. Wer einen blühenden jungen Mann, der täglich dreissig “naturreine” Zigaretten raucht, als Beinamputierten voraussieht, ist kein Hellseher. – Im Unterschied zu dem zuerst genannten Fall handelt es sich aber hier in der Regel um ein Erfahrungsurteil; es sei denn, jemand könne aus seinem biochemischen Wissen Grund (Zigaretten-“Genuss”) und Folge (Raucherbein) einwandfrei verbinden.

(c) Erinnerungs-Täuschungen sind gleichfalls auszuscheiden. Hierbei wird rückschliessend eine frühere Ahnung umgedeutet, wenn ein späteres Erlebnis Ähnlichkeiten mit den damaligen Vorstellungen hatte.

(d) Quelle von Täuschungen ist auch die bekannte Tatsache des Erfüllungs-Zwanges. Durch die starke seelische Kraft infolge einer Ahnung (ich werde in einem Jahr durch Neuyork gehen und ausgeraubt werden) kann ein zwanghaftes Handeln ausgelöst werden (ich fahre tatsächlich nach Neuyork und schreite abends ohne Begleitung durch unsichere Stadtviertel).

(e) Grösste Vorsicht ist bei eigenen Krankheitsträumen und Todesvoraussagen geboten. Die Seele ist für Schäden des Leibes empfänglich. Dies gilt auch dann, wenn diese erst keimhaft vorhanden und deshalb mit den Mitteln der medizinischen Wissenschaften noch gar nicht erkennbar sind. Solcher Sachverhalt lässt sich empirisch belegen und fachwissenschaftlich eindeutig begründen (psychosomatische Medizin).

(f) Im Falle des Hellsehens von zeitlich Vergangenem (Postkognition) muss bedacht werden, dass es Menschen mit aussergewöhnlich ausgeprägtem Erinnerungsvermögen gibt. Eine ausnehmend gute, hochgradig gesteigerte Gedächtnisleistung (Hypermnesie) bei einzelnen Personen war schon dem Altertum bekannt. Gedächtnis heisst die Fähigkeit der Seele, von ihr erzeugte Vorstellungen als bleibende Eindrücke festzuhalten, zu bewahren und bei gegebener Anregung wiederzugeben.

(g) Zudem konnte experimentell nachgewiesen werden, dass in Hypnose, aber auch nach einem Schädeltrauma (alle gedeckten und offenen Schädelverletzungen mit Gehirnbeteiligung und kürzerer oder längerer Bewusstlosigkeit), nach einem Schock (starke seelische Erschütterung durch ein plötzlich hereinbrechendes, bedrohliches Ereignis, wie Unfall oder Verlust des Lebensgefährten) oder bei Fieber (Erhöhung der Körpertemperatur als Folge gestörter Wärmeregulation) Hypermnesie selbst bei Menschen mit gewöhnlicher Gedächtnisleistung auftreten kann; es sich bei der Postkognition also nicht um eine erklärungsbedürftige Luzidität, um Hellsehen handeln muss.

(3) Die Prophetie ist hier, Jung-Stilling folgend (“Theorie” 100 f., 144) als besonderer Fall der Ahnung dem Hellsehen zugeordnet. Andere Definitionen nennen die Prophetie eine aussergewöhnliche Art der göttlichen Offenbarung.

(a) Prophetie wird dann im theologischen Schrifttum meistens als besondere Mitteilung über geheime Ratschlüsse und Absichten Gottes an Personenmehrheiten (Familien, Stämme, Völker) oder an einzelne Menschen aufgefasst, in der Regel bezogen auf die Zukunft, wie etwa die Weissagung Jakobs hinsichtlich des Schicksals seiner Söhne, Gen 49, 2 ff.

(b) Manchmal wird als besonderes Merkmal der Prophetie noch die Absicht der Ermahnung an Lebende beigefügt, in Anlehnung an Jesaja 1, Obadja, Nahum und andere. Als “falsche” Prophetie definiert man betrügerische (siehe Dtn 18, 20) oder solche, die von Dämonen bewirkt sind (siehe etwa Dtn 13, 2 ff.). Die biblische Geschichte berichtet von Scharen falscher Propheten beider Gattungen. Zu falschen Prophetien zur Zeit von Jung-Stilling siehe “Theorie” 70 ff.


Erklärung

(1) Zur Deutung des Hellsehens sind mehrere Theorien aufgestellt worden. Im grossen und ganzen handelt es sich um sieben Erklärungsansätze. In vielen anderen Deutungsversuchen werden Teile der nachfolgend vorgestellten Auffassungen verknüpft.

(a) Hellsehen ist eine besondere Erscheinungsform der Telepathie. Wer Dinge im nachhinein oder im voraus erschaut, wirkt als Empfänger, der Sendungen eines “Wissenden” aufnimmt. – Diese Annahme könnte für zeitlich Vergangenes zutreffen, falls dies irgendwelchen Personen bekannt war. Sie erklärt jedoch nicht die Tatsache, dass auch Zukünftiges gesehen wird.

(b) Hellsehen entsteht aus der Verknüpfung von Telepathie und Hypermnesie. Ein mit besonders guter, herausragender Gedächtnisleistung begabter Mensch trifft auf einen Sender. Ihm entnimmt er fehlendes Wissen und ergänzt es zu einem Ganzen. – Der Einwand ist auch hierbei, dass auf diese Weise allenfalls Vergangenes und Gegenwärtiges, nicht aber auch Zukünftiges erschaut werden könnte. Überdies zeigt die Forschung, dass unter hellseherisch veranlagten Menschen die Hypermnesie so gut wie gar nicht (im statistischen Durchschnitt weit weniger als in der Gesamtbevölkerung) vorkommt. Wohl konnten aber (gar als übernatürlich eingestufte) postkognitive Leistungen der vorhin genannten krankhaften Hypermnesie zugerechnet werden.

(c) Hellsehen ist eine im Erbgang erworbene Anlage. – Tatsächlich scheint bei vielen (aber keineswegs bei allen!) Hellsehern solche Fähigkeit gleichsam in der Familie (auch in der Landschaft: “Spökenkieker” in Westfalen) zu liegen. Aber dies ist nicht im mindestens eine Erklärung des hellseherischen Leistungsvermögens als solchem. Überdies könnte in der Erbmasse allenfalls das Wissen von Vergangenem liegen und so die Postkognition eventuell gedeutet werden. Die Präkognition jedoch würde durch die Erbtheorie auf keinen Fall erklärt.

(d) Hellsehen ist erklärbar aus der Zweiheit aller Dinge. Man muss sie einmal so betrachten, wie sie wirklich sind (“Theorie” 32) und zum anderen so, wie wir sie empfinden, nämlich raum-zeitlich (“Theorie” 31). Der Hellseher tritt aus der gewöhnlichen Ordnung der Dinge aus irgendwelchen Gründen heraus. Er taucht in die raum-zeitlose Sehensweise ein. Dann berichtet er seine gemachten Erlebnisse in der normalen Ordnung, zu der er wieder zurückkehrt. – Die hierbei angenommenen Reisen des Hellsehers von der einen Ordnung in die andere und wieder zurück bedürfen weit mehr an Erklärung als das, was sie erklären sollen. Überhaupt nicht einsichtig ist wie (auch: wann, unter welchen Umständen) man in die raum-zeitlose Sehensweise eintreten könnte. Es ist empirisch kein einziger Fall bekannt, wo ein Mensch völlig von Raum und Zeit gelöst war. Dies wurde bereits bei der Telepathie dargelegt.

(e) Hellsehen ist mit der Relativitätstheorie erklärbar. Nach ihr ist die Gleichzeitigkeit ein Bezugsbegriff, nämlich in Bezug zum Standpunkt des Betrachters im beweglichen System. Danach können in einem System Abraham und Christus Zeitgenossen, im andern aber um Myriaden von Jahren voneinander getrennt sein. Es ergibt sich damit die einfache Lösung, dass der Hellsehende dem Gesehenen in unserem System zwar fern, in einem anderen System jedoch gegenwärtig ist.

(ea) Hiergegen wäre zunächst anzumerken, dass die moderne Relativitätstheorie nicht die Relativität von Raum und Zeit als solchen lehrt, sondern bloss eine Relativität in der Messung von Raum und Zeit! Zudem wird nicht behauptet, alle Bewegung sei ihrem Wesen nach relativ. Ausgesagt ist vielmehr, dass nur Relativbewegung feststellbar ist, die jedoch selbstverständlich eine absolute Bewegung voraussetzt. Wie mit diesen Erkenntnissen der Physik nun aber das Hellsehen erklärt werden könnte, ist nicht einzusehen.

(eb) Mit Jung-Stilling (“Theorie” 31) muss festgestellt werden, dass offenbar alle Menschen jetzt und heute in ein und dasselbe raum-zeitliche Gefüge verwoben sind. Es bedürfte des Beweises, dass dem in einer einzigen Ausnahme nicht so ist, ehe das Hellsehen auf diese Weise erklärt werden kann. Dieser Beweis (Falsifizierungsversuch) ist aber bis heute (trotz vieler Bemühungen) noch nicht gelungen.

(f) Hellsehen beweist, dass er Verlauf aller Dinge ständig gegenwärtig ist. Die vergangenen Ereignisse sind noch nicht völlig verflossen, die zukünftigen schon irgendwie da. Jedoch haben diese Dinge zueinander eine festgelegte zeitliche Ordnung: nirgendwo wird das Nacheinander aufgehoben. Beispielsweise ist in einem Samenkorn jedes künftige Wachstumsstadium eines Baumes enthalten.

(fa) Dem menschlichen Auge freilich ist jetzt, im Augenblick, nur eine einzige dieser Phasen erkennbar. Die anderen Gestaltungen senden schon ihre Impulse aus. Durch Verstärker (Relais) in besonders dafür empfänglichen Menschen (Personen mit medialen Fähigkeiten: Mittelspersonen, Medien) können die schwachen Ausstrahlungen des Vergangenen und Zukünftigen aufgenommen werden.

(fb) Diese Theorie (auch in gedanklich sehr schwierig aufzunehmenden Verfeinerungen und Verästelungen) ist in sich schlüssig und mag auch richtig sein. Sie vertieft und erläutert im Grunde Jung-Stillings Auffassung von zwei Sichten der einen Welt (“Theorie” 30 ff.). Sie erklärt aber gleichfalls nicht, wie (auch: wann und unter welchen näheren Umständen) ein Mensch Verklungenes oder Keimendes durch Verstärker aufzunehmen vermag.

(g) Hellsehen beruht auf der Psi-Fähigkeit der Seele. – Diese Deutung (sie ist keine Erklärung!) ist die heute vorherrschende Meinung. Mit der zuletzt vorgetragenen Theorie ist sie insofern verträglich, als diese die Psi-Fähigkeit näher zu begründen versucht.

(2) Da manche Psi-Leistungen unter gewissen Bedingungen wiederholbar sind, weisen sie auf heute noch unbekannte Naturgesetze hin, genauer: auf noch nicht erforschte Auswirkungen physikalisch bekannter Kräfte. Daraus wird geschlossen, dass zwar Psi-Leistungen heute (naturwissenschaftlich) nicht erklärbar sind, es aber in Zukunft werden (können).


B Visionen

(1) Unter Vision (Gesicht) ist in Anlehnung an Jung-Stilling (“Theorie” 222) ein Gegenstand (Person, Sache, Geschehen) zu verstehen, der sich lediglich in der Vorstellung eines Menschen widerspiegelt, gleichwohl aber bei diesem völlige Gewissheit seiner Anwesenheit erzeugt.

(a) Die Definition bezeichnet die reine Vision: es geschieht ausschliesslich etwas in der Vorstellung eines Menschen. Beispielsweise sieht Paulus im Traum Jesus, der ihn nach Rom zu gehen heisst (Apg 23, 11).

(b) Visionen können auch in der Form anormaler sinnlicher Empfindungen auftreten. Zum Beispiel nimmt man ein zwei Meter hohes Wegkreuz als bis zum Himmel ragend wahr. Man ist fest davon überzeugt, dass dieses Wegkreuz jetzt tatsächlich so gross ist. In diesem Falle handelt es sich um eine sinnliche Vision.

(c) Häufig kommen Visionen auch neben, gleichzeitig mit sinnlichen Wahrnehmungen vor. So etwa nimmt man den Gemeindegesang normal wahr, hört aber Stimmen böser Geister dazwischenrufen. Hier spricht man von einer gemischten Vision.

(2) Ahnungen in Form telepathischer oder hellseherischer Leistungen beziehen sich stets auf einen erfahrbaren, wirklich vorhandenen und daher experimentell nachweisbaren Gegenstand (Autounfall des Sohnes; Uhren bleiben im Augenblick des Unglücks stehen; künftiges oder vergangenes Geschehen wird erschaut). Im Gegensatz dazu ist bei reinen Visionen diese reale Anwesenheit überhaupt nicht vorhanden. Bei sinnlichen und gemischten Visionen entspricht die Vorstellung nur teilweise der erfahrbaren Wirklichkeit. Daraus folgt, dass von einem Beobachter lediglich sinnliche Visionen und gemischte Visionen anhand der Tatsachen beurteilt (und somit objektiv als nicht der Wirklichkeit entsprechend erkannt) werden können.

(3) Bei Visionen unterscheidet man Inhalt, Form, Sinn, Modus, Ort, Wirkung, Umgebung, Zeit und Bestätigung. Es sind daneben noch andere Merkmale von der Wissenschaft eingeführt worden, die sich aber den hier genannten durch Einteilung oder Untereinteilung zuordnen lassen.

(a) Inhalt bezieht sich auf den erschauten Gegenstand. Dies können zunächst Personen, Sachen oder Ereignisse (Geschehnisabläufe) sein. Bei Personen wären irdische und überirdische Wesen zu unterscheiden; bei irdischen: sich selbst (“Theorie” 279), andere Lebende, Verstorbene oder künftig ins Leben tretende; bei überirdischen: gute und böse Geister oder Gott selbst. Für in Visionen wahrgenommene Ereignisse lassen sich sehr viele kennzeichnende Merkmale (wo, wann, was usw.) einführen.

(b) Form meint das Aussehen, wie sich eine Person, eine Sache oder ein Geschehnisablauf dem Visionär kundtut. Dieses kann sich normal, üblich, so wie in der Wirklichkeit zeigen; etwa: Paulus sieht einen Mazedonier (Apg 16, 9). Es ist aber auch häufig verzerrt, entstellt, ja sogar widerwärtig, unleidlich und hässlich; etwa: man sieht einen in Wirklichkeit schmalen Bach als reissenden Strom. Schliesslich lässt sich das Geschaute auch schöner, lieblicher, wohlgeformter als in der Wirklichkeit erkennen; etwa: die in der Vision geschaute Gruppe der Arbeitskollegen zeigt sich als Engel.

(c) Sinn bezeichnet die Botschaft, welche eine Vision an den Empfänger selbst oder an andere ausdrückt; etwa: Joseph soll mit seiner Familie nach Ägypten fliehen (Mt 2, 13). Jede Vision wird vom Visionär in einem mehr oder minder klaren Bedeutungsbewusstsein für sich selbst oder für andere erfahren, und zwar jetzt oder späterhin; Beispiele in “Theorie” 176 ff.

(d) Modus (Art und Weise) meint den Zustand, in dem die Vision den Menschen erreicht. Im Wachzustand erfahrene Visionen werden dadurch von Halbschlafvisionen und Traumvisionen unterschieden.

(e) Ort der Vision kann das Zuhause sein; etwa: Jung-Stilling erschaut daheim in Marburg das Jenseits (beschrieben in den “Szenen aus dem Geisterreich”); der “werkgerechte” Kornelius hat in seinem Zimmer die Vision eines Engels (Apg 10, 3). Eine Vision kann sich jedoch auch an jeder anderen Stätte ereignen; etwa: in der Kirche (die Prophetin Hanna erkennt den Messias; Lk 2, 36 ff.), auf einer Bergspitze (Mose empfängt dort die Gesetze; Ex 19, 3 ff.) oder im Schiff auf hoher See (Apg 27, 23 ff.).

(f) Wirkung bezeichnet das unmittelbare und mittelbare Ereignis einer Vision auf den Visionär selbst (etwa: Saulus wird auf der Reise nach Damaskus bekehrt; Apg 9, 3 ff.) oder auf andere (die christliche Kirche wird durch Pauli Bekehrung entscheidend gefördert und bleibend geprägt).

(g) Umgebung kennzeichnet das menschliche Umfeld, in der eine Vision stattfindet. Dieses kann ganz fehlen (etwa: Joseph wird im Traum angewiesen, die schwangere Maria nicht zu verstossen; Mt 1, 20). Die Vision kann sich aber auch vor einer grossen Menschenmenge ereignen (etwa: Stephanus sieht den offenen Himmel; Apg 7, 54 ff.).

(h) Zeit meint die geschichtliche Epoche, in der eine Vision auftritt. So glaubt man festgestellt zu haben, dass Visionen besonders in Kriegs- und Notzeiten gehäuft auftreten. Hier müsste aber zwischen öffentlichen, der Allgemeinheit bekannt gewordenen und privaten, nicht bekannt gewordenen Visionen unterschieden werden. Wie Jung-Stilling (“Apologie” 25, 51) zu recht hervorhebt, scheuen sich viele Menschen, Vorkommnisse bekannt zu machen.

(i) Bestätigung kann eine Vision durch das Zeugnis der Miterlebenden erhalten; etwa: die Gefährten des Saulus hören Stimmen vom Himmel (Apg 9, 7). Auch könnte ein Wunder im definierten Sinne (aussergwöhnliches Geschehen, das die Natur übersteigt) die Vision beweisen.


Erklärung

Visionen können im allgemeinen (wennzwar nicht auch in jedem einzelnen Fall) wissenschaftlich befriedigend erklärt werden. Das ist Aufgabe der Psychopathologie. Sie ist die Wissenschaft von den krankhaften (pathologischen) Abläufen im Seelenleben des Menschen. Sie fragt im besonderen nach deren Bedingungen, Ursachen und Folgen. Gemäss der Unterscheidung in sinnliche Visionen (es werden wirklich vorhandene sinnliche Empfindungen [verzerrt] aufgenommen) und reinen Visionen (lediglich Vorstellungen von Gegenständen werden erschaut, ohne dass dem eine reale Wahrnehmung entspricht) unterscheidet man zwischen Empfindungsstörungen und Trugempfindungen. Zu diesen beiden tritt noch der Wahn als ein Urteilen gegen Vernunft und Erfahrung.


I Empfindungsstörungen

(1) Die Psychopathologie teilt die Empfindungsstörungen in der Regel in Veränderungen der Stärke von Empfindungen, in aussergewöhnliche Mitempfindungen sowie in Entfremdung der Empfindungswelt ein. Deren Entstehung und Erklärung wird in den Lehrbüchern der Nervenheilkunde, in Schriften über Drogenwirkungen und Vergiftungen sowie in den Fachwerken der Augen- und Ohrenerkrankungen ausführlich dargelegt. An dieser Stelle soll lediglich eine kurze Aufzählung wichtiger krankhafter Einzelerscheinungen geboten werden.

(2) Empfindungsstörungen in Form von unnatürlich verändert wahrgenommener Verstärkung oder Minderung von Sinneseindrücken kann sich auf Empfindungen wie Farbe, Ton, Licht, Geruch oder Geschmack beziehen. Töne werden lauter (leiser) gehört; Farben sieht man leuchtender (matter); ein Knacken im Holz wird zu einem ohrenbetäubenden Knall; alles schmeckt scharf (schal). Auch stark verminderte oder gar völlige Unempfindlichkeit (Anästhesie), aber ebenso auch ungewöhnlich stark überhöhte Empfänglichkeit für Schmerzreize (Hyperästhesie, Hyperalgesie) zählen dazu. – Artverschiebungen der Empfindungen sind ein Sonderfall der Empfindungsstörungen. Hierbei geht eine Empfindung in eine andere über. Weisse Flächen werden (oft: plötzlich) als rot wahrgenommen; Gesichter der Menschen erscheinen braun oder sie sehen aus wie Chinesen.

(3) Aussergewöhnliche Mitempfindungen (Synästhesie) heisst das gleichzeitige Empfinden von zwei verschiedenen Eindrücken bei Reizung nur eines Sinnesorgans. Beispielsweise wird das Hören von Tönen farblich wahrgenommen (Photismen); ein leises Sprechen als Streiche gegen den Kopf; oder es erzeugt ein besonderer Geruch Wärme- bzw. Kälteempfindungen. Bei Visionären wurden auch Tonempfindungen aufgrund von Lichtreizen (Phonismen) beobachtet.

(4) Entfremdung der Empfindungswelt meint, dass sinnliche Eindrücke als fern, fremd, neu, schon dagewesen oder gar als gespalten wahrgenommen werden. Man sieht alles wie durch einen grauen Schleier oder hört alles wie aus weiter Ferne. In anderen Fällen erscheinen (vertraute) Gegenstände (aus jahrelanger Umgebung) plötzlich neu und unbekannt; aber auch ganz anders hinsichtlich ihrer Schönheit oder Hässlichkeit. – Der Fall von Wahrnehmungsspaltung ist bei Gifträuschen häufig. Hierbei wird der Grund einer Empfindung (Hund bellt) zwar wahrgenommen, die Empfindung selbst (Gebell) aber mehr oder minder getrennt davon empfunden.


II Trugempfindungen

Trugempfindungen teilt man ein in die beiden Hauptgruppen Illusionen und Halluzinationen. Illusion nennt man die zu einer Einheit verschmolzene Mischung von realen, wirklichen Empfindungen (man hört einen einzigen Ton) mit bloss Vorgestelltem (man nimmt eine Melodie wahr). Sinneseindrücke verkennen also bei (starker) Beteiligung der Phantasie die tatsächlichen Gegebenheiten. Demgegenüber sind Halluzinationen (Sinnesvorspiegelungen) reine Vorstellungen; etwa: man sieht die Sonne hell scheinen, wiewohl der Himmel dicht bewölkt ist. – Alle Formen der Trugempfindungen können sowohl gleichzeitig miteinander als auch verschieden in sich gemischt auftreten. Dies macht ihre genaue Unterscheidung in der Praxis häufig recht schwierig.


1 Illusionen

Bei Illusionen kann man verschiedene Arten unterscheiden. Die Einteilungen in der bezüglichen Fachliteratur sind dabei international nicht einheitlich.

(1) Unaufmerksamkeits-Illusionen entstehen bei lediglich kurz dauernder Aufmerksamkeit (flüchtiges “Anlesen”; kurzes “Hineinhören”). Der bloss schwache Sinnesreiz wird (wie Versuche zeigen) nun ergänzt. So kommt es zu falschem Lesen, falschem Hören oder zur Umgestaltung optischer Eindrücke (man sieht grün auf der Verkehrsampel, wiewohl sie noch gelb anzeigt). Bei gesunden Menschen wird diese Illusion bei willentlicher Aufmerksamkeit (bewusste Konzentration auf den jeweiligen Gegenstand) vermieden.

(2) Affekt-Illusionen treten bei seelischer Erregung (etwa: Angst, Freude) auf. Wer furchtsam im Dunkeln durch den Wald geht, der sieht leicht einen Baumstamm für einen Menschen an; er glaubt, in dem Ächzen der windbewegten Bäume die Schreie anwesender Tiere oder Menschen zu hören. Wahrnehmungsbilder werden hierbei also von der unermüdlichen Phantasie geformt und falsch gedeutet.

(3) Pareidolien sind aus schwachen optischen Sinneseindrücken auch ohne Affektladung gebildete Gestalten und Gestaltungen. Auch hier formt die Phantasie Eindrücke um. Beispielsweise nimmt man aus willkürlichen Schatten an der Wand Gestalten von lebenden oder verstorbenen Menschen bzw. himmlischen Wesen wahr; aus einer Restmauer wird eine ganze Kirche gesehen.


2 Halluzinationen

Auch die Halluzinationen lassen sich unter mehreren Gesichtspunkten einteilen und untergliedern. Die wichtigste Unterscheidung ist die in echte Halluzinationen und Pseudo-Halluzinationen.

(1) Echte Halluzinationen sind schiere Trugempfindungen. Sie entstehen nicht durch die Umbildung realer Wahrnehmungen, sondern entspriessen völlig neu. Trotz des Nichtvorhandenseins einer auslösenden realen Empfindung werden sie aber – wie jede Trugwahrnehmung – von einer Person als unmittelbar gegenwärtig und wirklich erlebt: als leibhaftig im objektiven Raum.

(2) Ursache der Halluzination ist offensichtlich eine (krankhafte: Fieber!) Trennung der Assoziationsverbindung (Sejunktion), wobei Assoziation allgemein die Verknüpfung von Vorstellungen bezeichnet; diese läuft im Regelfall nach ganz bestimmten, erforschten Gesetzen ab. Durch den Ausfall gewisser assoziativer Leistungen können sogar gleichzeitig in einem Menschen verschiedene Personen auftauchen (Persönlichkeitsspaltung, Schizophrenie, Spaltungsirrsinn). – Wenn objektiv Vorhandenes gar nicht wahrgenommen wird, so handelt es sich um eine negative Halluzination.

(3) Pseudo-Halluzinationen mangelt die Eigenschaft der erlebten Objektivität der Vorstellung. Man ist sich bewusst, dass es sich um eine Trugempfindung handelt, die etwas äusserlich nicht Wahrgenommenes als bildhafte, subjektive Vorstellung im inneren, subjektiven Raum abbildet. Pseudo-Halluzinationen sind auf allen Sinnesgebieten möglich, vor allem akustisch (Akoasma, die Halluzination wird in einfacher, elementarer Form als Geräusch wie Knallen, Zischen, Lispeln oder Wispern erlebt) und optisch (Photopsie, man nimmt Licht, Funken, Farben oder Blitze wahr).

(4) Abzugrenzen von Halluzinationen sind Nachbilder, auch Nachhören, Nachriechen und Nachschmecken. Hierbei sind lang andauernde Sinnesreize (man hat stundenlang auf einen Gegenstand geschaut, etwa auf ein Kreuz) oder in ihrer Art ungewöhnliche Empfindungen (man hört das Martinshorn, das Folgetonhorn der Sanitäts- und Polizeidienste) wahrgenommen worden. Obzwar nun die im äusseren Raum leibhaftig aufgetretene Empfindung aufhört, wirkt die Vorstellung noch einige Zeit nach (man hat auch jetzt noch das Kreuz vor Augen; es klingt das Martinshorn noch im Ohr). Solche Formen eines Sinnes-Gedächtnisses treten besonders häufig bei starker Ermüdung auf und sind physiologisch leicht erklärbar. – Andauernde Nachbilder verweisen auf krankhafte Vorgänge, wie Entzündung der mittleren Augenhaut (Uvetitis) oder der Aderhaut des Auges (Chorioiditis). Sie sind in fast jedem Falle medizinisch festzustellen und damit von Trugempfindungen eines Visionärs abzugrenzen.

(5) Nicht den Halluzinationen zuzurechnen, sondern vielmehr Ausdruck einer besonderen Begabung sind harmonische, wohlklingende Gehörassoziationen aufgrund bestimmter nicht-akustischer Empfindungen. So konnte der Musiker Franz Schubert beim Lesen von Gedichten oft schon eine Melodie hören; Ludwig van Beethoven nahm jede geschriebene Note als Ton wahr und Modest Mussorgskij empfand beim Betrachten von Gemälden einer Ausstellung zu jedem der Bilder eine Klaviermusik. Oft spricht man in diesen und ähnlichen Fällen von “künstlerischer Phantasie”.


3 Sinnesbezüge

Illusionen, Halluzinationen und Pseudo-Halluzinationen können sich auf verschiedene Sinnesgebiete beziehen. Durch entsprechende Unterscheidungen zeigt sich ein sehr weites Feld möglicher Trugempfindungen. Beispiele von Visionären mögen dies verdeutlichen.

(1) Beim Gesichtssinn werden die wirklichen Gegenstände vergrössert (Makropsie) oder verkleinert (Mikropsie), aber auch winklig schief sowie stehende Gegenstände in Bewegung empfunden. Es gibt ein Doppelt- bis Siebenfachsehen, nachgewiesen vor allem bei Delirien (Delirium, Delir oder richtiger delirantes Syndrom nennt man eine tiefe Bewusstseinsstörung mit Verwirrtheit, Desorientierung über Ort und Zeit sowie Verkennung der Umgebung bei herabgesetzter Aufmerksamkeit, oft verbunden mit motorischer Unruhe [Hyperkinese]) und in Fällen der Epilepsie. Es drängen sich Bilder auf, wie Friedhof mit geöffneten Gräbern oder offener Himmel mit Engeln. Gestalten bewegen sich ohne Einordnung in den gegebenen Raum; etwa: es zeigen sich Hunderte von Personen in einem kleinen Raum, und keine dieser Menschen wird durch Möbel verdeckt. Bei geschlossenem Auge sieht man Landschaften mit Pflanzen und Tieren. Auf der nackten Wand nimmt man Bilder, Blumen, Figuren und Verzierungen wahr. Das gesamte Raumerleben kann verändert sein: ein kleines Zimmer wird als Saal empfunden; ein Raum weitet sich beim Hinsehen nach allen Seiten aus.

(2) Beim Gehörsinn vernimmt man Melodien, wirre Geräusche, Pfeifen, Kettenrasseln, Maschinengestampfe, Autolärm, Gewehrsalven. Stimmen aus dem Nichts rufen dem Betroffenen zu; die Stimmen loben, beschimpfen oder unterhalten. Dabei kann es sich um (bekannte) menschliche oder auch um nichtmenschliche Stimmen handeln. Manchmal hört die Person auch ihre eigenen Gedanken als Worte gesprochen (Gedankenlautwerden) oder es werden eigene Gedanken als fremde, von aussen eingegebene akustisch erlebt (Gedankeneingebung). Die Stimmen spielen besonders bei Schizophrenen eine in der Regel grosse Rolle.

(3) Beim Geschmackssinn schmeckt man Zucker wie Senf, scharf gesalzene Speisen als fade oder umgekehrt. Dies geschieht auch dann, wenn die Organe des Empfindens in der Mundschleimhaut (die Geschmacksnerven in den Schmeckzellen) organisch völlig gesund erscheinen.

(4) Trugwahrnehmungen des Geruchssinnes beziehen sich auf modrige Luft, widrige Abdünste, Schwefelgestank, aber auch auf Wohlgerüche. Es wird von Personen berichtet, die Flüssigkeiten mit eigentümlichem Geruch (Salmiak, Benzin) wie

Blumenduft oder Parfüm riechen. Auch diese Trugwahrnehmungen geschehen bei sonst funktionierenden Riechzellen und Riechnerven.

(5) Das Zeitempfinden kann sich ebenfalls in vielfacher Hinsicht verändern. Man nimmt den Zeitablauf überhastet oder verlangsamt wahr, verliert das Zeitbewusstsein, erlebt Zeitstillstand oder hat das Gefühl einer zeitlosen Leere.

(a) Das Verschwinden der Zukunft ist eine Störung im Zeiterleben, die meist bei schwer depressiven Menschen auftritt. Entschlüsse auf die Zukunft, Sorgen und Hoffnungen auf das Morgen bleiben hier ganz aus. Endlich wird auch der Zeitstillstand erlebt sowie das Ineinanderfliessen der Zeit: das Gestern, Heute und Morgen wird ununterscheidbar; es hat sich vermischt.

(b) Der Zeitumfang des Vergangenen ist allerdings hin und wieder selbst bei durchaus gesunden Personen mannigfachen Täuschungen ausgesetzt. Auch ein normaler Mensch empfindet einen reich mit Arbeit und Erlebnissen gespickten Tag rückschauend als lang; einen leeren, mit keinerlei Tätigkeiten ausgefüllten Tag aber als kurz (oder auch umgekehrt!).

(6) Es wird aus empirischen Studien bestätigt, dass sich Trugwahrnehmungen gleichzeitig auf alle (bzw. auf einige) Sinne beziehen können. Auch kommt es vor, dass Vorstellungen auftreten, die mit dem entsprechenden Sinn überhaupt nicht gekoppelt sind (Mitempfindung, Synästhesie). So hört man dann den Geruch einer Flüssigkeit oder schmeckt einen Ton, wiewohl dies physiologisch unerklärbar ist. Denn der Riechnerv tritt in dem darüberliegenden Stirnlappen des Grosshirns ein und leitet dorthin eine Erregung. Die Seele erzeugt aber in dem genannten Fall keine Geruchsempfindung, sondern löst eine Geschmacksempfindung aus. – Wie die Wis-senschaft nachwies, ist das Farbenhören und das Tönesehen gar nicht so selten, wie man zunächst annehmen möchte. Diese Art der Synästhesie fand und findet sich auch bei sonst körperlich und geistige völlig gesunden und überdurchschnittlich begabten Persönlichkeiten.


4 Vorstellungsverdunklung

(1) Den Trugempfindungen beizuzählen sind auch Vorstellungsverdunklungen. Manche Menschen klagen darüber, dass ihre Vorstellungen matt, dunkel, schattenhaft seien. Ja, es kommt sogar auch vor, dass Vorstellungen gar nicht mehr in das Bewusstsein treten können. So kann man sich selbst nächste Angehörige nicht mehr im Gesichtssinn vorstellen, oder der Geruch von Zigarettenrauch ist völlig fremd geworden.

(2) Unter den Vorstellungen sind Erinnerungen von besonderer Bedeutung. Sie vergegenwärtigen vorangegangene Wahrnehmungen (sinnliche Erfahrungen oder Denken) und zeigen an, dass ihr Inhalt früher schon einmal da war. Nun ist nachgewiesen, dass es auch Trugerinnerungen gibt. Dabei erinnert man sich in einem Fall nur der Grundlage, des Sockels. Mehr oder minder viel wird, darauf aufbauend, umgeschaffen. In einem anderen Fall werden ganz ohne reale Grundlage Wahrnehmungen vergegenwärtigt, das heisst, es wird alles neu geschaffen.

(3) Die in der Literatur oft beschriebene Erscheinung des “déjà vu” (schon einmal dagewesen; man glaubt, Personen oder Sachverhalte früher bereits erlebt zu haben) ist eine besondere Art der Trugerinnerung. Die heutige Psychopathologie glaubt, diese im allgemeinen schlüssig erklären zu können.


5 Deutungsmöglichkeiten

Es ist nach diesen Darlegungen offensichtlich, dass reine Visionen als echte Halluzinationen erklärbar sind. Sinnliche Visionen sind entweder Empfindungsstörungen, Affekt-Illusionen oder Pareidolien. Die gemischten Visionen enthalten Merkmale mehrerer der aufgezählten krankhaften Erfahrungsweisen. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass sich Trugempfindungen und Empfindungsstörungen überlagern können. Die Psychopathologie vermutet sogar aufgrund der Erfahrung, dass die unterschiedlichen Arten nur sehr selten ganz rein vorkommen, sondern meistens vermischt auftreten.


III Wahn

(1) Urteil heisst die Aussage über das Verhältnis zweier oder mehrerer Begriffe (Gras; grün) zueinander. Es wird meistens in der Form eines Satzes ausgedrückt, etwa: Gras ist grün. Das Urteil ist somit das äussere Zeichen eines vollzogenen Denkvorgangs.

(2) Widerspricht das Urteil der Erfahrung (Gras ist weiss) oder dem Denken (5 ist die Hälfte von 2), so ist es inhaltlich falsch. Spricht jemand falsche Urteile aus, an denen er mit aussergewöhnlicher Überzeugung auch dann festhält, wenn man ihm durch Erfahrung oder zwingenden Schluss die Falschheit vor Augen stellt, so spricht man von Wahn. Bei diesem handelt es sich also um eine inhaltliche Denkstörung mit Verlust des Bezugs zur Realität bei subjektiver Gewissheit und Unkorrigierbarkeit des Denkinhalts.

(3) Erlebnis ist Oberbegriff für jedes Innewerden von etwas, jedes Haben mehr oder weniger bewusster seelischer Inhalte, jeder Vorgang im Bewusstsein (Bewusstsein hier verstanden als das Wissen um das eigene seelische Sein und Sosein). Charakter im weiten Sinne bedeutet die seelische Eigentümlichkeit eines jeden Menschen; er ist Ausdruck seiner Individualität. Schlüsselerlebnis (bedeutsames Erlebnis) meint einen solchen Bewusstseinsvorgang, der geeignet ist, aus einem Menschen die gerade für seine Persönlichkeit eigentümlichen Wirkungen hervorzurufen. Charakter und Schlüsselerlebnis werden wie Schlüssel und Schloss gesehen. Affekte sind Gemütserschütterungen (etwa: Schreck, Zorn, Verzweiflung, Jubel, Begeisterung), die durch ein überraschendes Ereignis, einen starken Reiz bewirkt werden und den seelischen (auch körperlichen) Zustand stark beeinflussen. Mit Hilfe dieser Begriffe lässt sich der Wahn genauer in zwei Formen unterscheiden.


1 Wahnhafte Ideen

Wahnhafte Gedanken (wahnhafte Ideen; Idee ist hier wie im Sprachgebrauch des Alltags mit Gedanke, Ansicht, Vorstellung, Auffassung, Einfall gleichzusetzen) sind aus Charakter und Erlebnis verstehbar sich entwickelnder Wahn. Das Wahnerlebnis ist dabei aus einem anderen, nicht wahnhaften Schlüsselerlebnis ableitbar. Hierzu zählen Erscheinungen wie Versündigungswahn, Verarmungswahn, Reinheitswahn, Grössenwahn und überwertige Ideen. Unter den Letzteren versteht man an Affekt gekoppelte, fälschlich für wahr gehaltene und starr beibehaltene Ideen wie Erfinderwahn, Eifersuchtswahn, religiöser Reinigungswahn usw. Wahnhafte Gedanken sind immer etwas Sekundäres; sie erklären sich aus zeitlich früheren (Schlüssel)Erlebnissen.


2 Echte Wahngedanken

Echte Wahngedanken entspringen unmittelbar einen Erlebnis und haben sich nicht erst nach und nach gebildet. Hierzu zählt der religiöse Berufungswahn und der Messiaswahn vieler Visionäre. Sie sind davon überzeugt, von himmlischen Mächten einen Auftrag bekommen zu haben, der in der Regel aber die Wirklichkeit von Religion und Glauben verkennt.


3 Depressiver Wahn

Nicht selten beobachtet man gerade bei Visionären auch depressiven Wahn, allgemein definiert als festgefahrene schlimme Befürchtungen bzw. Verranntsein in Fehldeutungen zum Argen (populär neuerdings “Murphys Gesetz” genannt: Wenn etwas schiefgehen kann, dann wird es auch schiefgehen). Er zeigt sich dann vor allem als Schuldwahn. Die betreffende Person ist felsenfest davon überzeugt und durch nichts davon abzubringen, dass sie aufgrund von Missverhalten und Fehltritte von Gott auf ewig verstossen sei.

(1) Mit Versündigungswahn bezeichnet man die krankhaft falsche Vorstellung, dass eigenes oder fremdes Handeln frevelhaft, sündig sei oder gar vom Teufel gelenkt werde. Der chiliastische Wahn (Weltuntergangswahn) sieht das tausendjährige Reich Christi auf Erden als unmittelbar bevorstehend, woraus sich für den Visionär bisweilen eine ganz besondere prophetische Sendung oder gar Erlöserrolle ableitet.

(2) Verwandt damit ist der Katastrophenwahn, bei dem Flutwellen, Erdbeben, Völkerwanderungen usw. als herannahend erlebt werden. Die Abgrenzung zur Präkognition (Prophetie) ist im einzelnen oft sehr schwierig. – Ein zeitgenössischer Kritiker von Jung-Stilling namens J. R. Metz (mehr ist über seine Person bisher noch nicht bekannt) bezichtigte in einer Ausarbeitung den greisen Stilling des Katastrophenwahns; er sei eine “immer schreiende Toteneule”, ein “Unglücksprophet”.


4 Wahnsystem

Oft lässt sich feststellen, dass lediglich eine einzige wahnhafte Vorstellung aufgenommen wurde; etwa: der menschliche Körper (die Sexualität) ist vom Teufel. An dieses Urteil reiht man nun eine richtige Theorie an. Das heisst, es werden in sich widerspruchsfreie Urteile und Schlüsse gebildet, welche von der wahnhaften Vorstellung als Ausgangspunkt und Grundannahme fortschreiten. Damit entstehen scharfsinnig erscheinende Lehrgebäude. Solche nennt man Wahnsystem. Für bestimmte Visionäre ist ein derartiges Wahnsystem kennzeichnend (“Theorie” 214 f.)


5 Kollektiver Wahn

(1) Ein wahnhafter Gedanke (etwa: der Teufel [Antichrist] verleiblicht sich im jeweils gewählten Papst zu Rom; jede Vernunfteinsicht in Gottes Wesen und Schöpfung ist ausgeschlossen: allein das, was in der Bibel steht, ist wahr) kann von weiteren, nahestehenden Personen übernommen werden (induzierter Wahn), so dass eine Gruppe von Menschen entsteht, die allesamt die gleiche Wahnidee teilen. In diesem Falle spricht man von kollektivem Wahn. Er ist vor allem im weltanschaulichen Bereich anzutreffen.

(2) Fast immer prägt sich der kollektive Wahn zu einem Wahnsystem im definierten Sinne aus. Mit zunehmender Verdichtung des Wahnsystems (in sich schlüssig geordnetes und gegliedert dargelegtes Ganzes) steigt erfahrungsgemäss die Zahl der Anhänger, während gleichzeitig damit die Wahnbewusstheit (die Einsicht in die Wahnhaftigkeit der zugrundeliegenden Idee) innerhalb und ausserhalb der Gruppe abnimmt. Die oft eng organisierten Gemeinschaften können zu Bewegungen anwachsen, die unterschwellig die Kirche als Grossgruppe auf vielfältige Weise zu beeinflussen suchen.

(3) Im Raum der evangelischen Kirche bot in der Vergangenheit und bietet noch heute die theologische Wissenschaft an Universitäten und Akademien solchen Versuchen halt. Das veranlasst nun die Bewegungen, eigene theologische Lehranstalten zu gründen. Insoweit dort (wenn auch nur begrenzte) Freiheit der Lehre und Forschung zugelassen wird, wandeln sie sich aber kurz oder lang zur Verkündigung der allgemeinen Kirchenlehre. Die systembegründende Wahnidee wird in diesem Falle gemildert oder umgedeutet.


IV Andere Erklärungen

Die Psychopathologie kann Visionen und alle dabei beobachteten Erscheinungen auch noch durch andere, theoretisch und empirisch gesicherte Erkenntnisse erklären. Als Beispiel seien genannt: Ekstase (Zustand des Aussersichseins mit Erlebnis des Unterstehens einer überpersönlichen Macht), Störungen im Ichbewusstsein, Fehlleistungen der Instinkte (Instinkt verstanden als ein in ganz bestimmter Weise organisierter nervlicher Mechanismus, der auf gewisse vorwarnende, auslösende und richtende Impulse – sowohl innere wie äussere – anspricht und sie mit genau aufeinander abgestimmten lebens- und arterhaltenden Bewegungen beantwortet), Zwangsvorstellungen, Gedächtnisstörungen, Bewegungsstörungen und Sprachstörungen. Die bezüglichen Lehrbücher und Fachlexika legen diese Erscheinungen dar und begründen sie im einzelnen aus erschwerten oder unterbrochenen Wirkzusammenhängen.


C Geistererscheinungen

(1) Unter Geistererscheinung ist die wirkliche und daher im Wachzustand sinnlich voll erfahrbare Anwesenheit einer nichtirdischen Persönlichkeit hier auf Erden zu verstehen (“Theorie” 223). Als Beispiel sei der Engel genannt, welcher Paulus im Gefängnis durch einen Rippenstoss aus dem Schlaf weckt, ihm sich anzukleiden befiehlt, mit ihm durch die Doppelwache schreitet und ihn schliesslich das Stadttor von Jerusalem öffnet (Apg 12, 7-11).

(2) Die Wirklichkeit und Tatsächlichkeit wird durch die volle sinnliche Erfahrung begründet. Eine Geistererscheinung kann man demnach mit allen Sinnen erfahren, nämlich sehen, hören, riechen und betasten. Die untrügliche Anwesenheit ist dann nicht anzunehmen, wenn eine Geistererscheinung nur mittelbar erfahren wird; etwa über Tonbandaufzeichnungen, Spuren im Schnee, ungewöhnliches Verhalten von Tieren usw.

(b) Anwesenheit meint lediglich Vorhandensein, Besuch. Nicht notwendig ist zusätzlich auch ein Wirken, ein Tätigsein, wie etwa die Übermittlung von Botschaften.

(c) Die Geistererscheinung muss zumindest von einem Beobachter zweifelsfrei wahrgenommen werden (“Theorie” 223). In der Regel lässt sich ein sicheres Urteil über die Tatsächlichkeit einer Geistererscheinung nur dann fällen, wenn sie sich mehreren oder gar vielen Menschen zeigt (“Theorie” 256). So sahen unzählige Bewohner Jerusalems am Todestag Christi Verstorbene durch die Stadt schreiten (Mt 27, 52 f.).

(d) Nichtirdische Persönlichkeit meint entweder bereits verstorbene Menschen oder gute und böse Geister. Es ist bisher nicht nachgewiesen, dass auch erst in Zukunft geborene Menschen erschienen sind.

(3) Die gegebene Definition schliesst aus, dass lediglich im Traum erschaute überirdische Wesen den Geistererscheinungen zugerechnet werden; etwa der Engel, der Paulus hinsichtlich seiner sicheren Ankunft an Land Mitteilung macht (Apg 27, 23 f.). Nicht im Wachzustand erlebte Geistererscheinungen sind in jedem Falle den Visionen beizuzählen.

(4) Das zum Begriff der Geistererscheinung gehörende Bestimmungsmerkmal “volle sinnliche Wahrnehmung” ist wesentlicher Bestandteil der Definition. Damit sind Schreibgeister, Signalgeister und Stimmgeister ausgeschieden.

(a) Schreibgeist nennt man ein Geistwesen, das sich durch eine Mittelsperson (Medium) schriftlich kundtut. Bisher ist der Nachweis der Existenz solcher Schreibgeister in noch keinem Fall gelungen, so sehr man sich auch darum mühte (wie im Falle von Emanuel Swedenborg oder Jakob Lorber). Vielmehr handelt es sich bei dem Geschriebenen der Medien im Grunde stets um ichfremde (dem wachen Ich unbekannte) Äusserungen. Sie werden psychologisch als unterbewusste, abgespaltene Denkvorgänge im Sinne verselbständigter intelligenter Verläufe erklärt. Das gilt selbst dann, denn die Niederschriften in einer fremden oder gar erfundenen Sprache (Privatsprache) erfolgen. Im äussersten Falle handelt es sich um eine telephatische Leistung.

(b) Signalgeister äussern sich durch Pochen, Lärmen, Poltern (“Theorie” 345) und Hämmern und heissen dann auch Klopfgeister. Sie zeigen sich aber auch durch automatisches Buchstabieren, Tischrücken und ähnliche Zeichen. Die Erklärung im Falle der Klopfgeister wird in der nachweisbaren telekinetischen Fähigkeit mancher Personen gesehen (personengebundener Spuk). Auch die anderen Äusserungen der Signalgeister sind in den meisten Fällen telekinetisch zu deuten, obzwar nach dem heutigen Wissensstand der Physik noch nicht zu erklären.

(c) Stimmgeister machen sich durch deutliches, allen Anwesenden hörbares (sonst sind sie den Halluzinationen zuzurechnen!) Sprechen, Singen, Grölen oder Schreien bemerkbar. In vielen Fällen war eine physikalisch-akustische Deutung möglich. Manchmal war die Stimme auf Schizophrenie einer der anwesenden Personen zurückzuführen. Der Rest der Fälle wird hier telepathisch gedeutet.

(5) Von Visionen sind Geistererscheinungen empirisch dann nicht zu unterscheiden, wenn sie nur von einer Person erkannt werden bzw. sich auf bloss eine Empfindung beziehen (“Theorie” 256). Wenn etwa ein Engel den Diakon Philippus anspricht, er solle sich auf die Zufahrtsstrasse nach Jerusalem begeben (Apg 8, 26), so kann dies eine Vision, aber auch eine Engelerscheinung sein.


Erklärung

Das begriffsbestimmende Merkmal der Geistererscheinung ist die sinnlich voll erfahrbare Anwesenheit einer nichtirdischen Persönlichkeit. Dies schliesst ein, dass das Vorkommnis nur übernatürlich deutbar ist und folglich eine natürliche Erklärung ausschliesst. Auf den folgenden, dritten Teil sei daher verweisen.


DRITTER TEIL: ÜBERNATÜRLICHE ERKLÄRUNG DER VORKOMMNISSE

 


A Allgemeine Grundsätze

(1) Es ist unbestrittener Kern der christlichen Lehre, dass Gott von den Menschen den unbedingten (“reinen”) Glauben fordert. Damit ist die feste Zuversicht in das Gnadenwirken Gottes gemeint, wodurch man sich ihm völlig anvertraut. Beweis des göttlichen Daseins und Wirkens, worauf sich diese Forderung des Glaubens stützt, ist Gottes Schöpfung und sein Wort (“Theorie” 211). In Jesus Christus hat sich Gott zuletzt sämtlichen Menschen im Wort geoffenbart. Er hat sie dabei über alles belehrt, was zu ihrem Heil notwendig ist. Deshalb bedarf es seitens Gottes keiner weiteren Zeichen, Taten oder Worte an die Menschen (“Theorie” 212).

(2) Freilich kann aus diesen Tatsachen nicht gefolgert werden, dass Gott der ganzen Menschheit, bestimmten Gruppen von Menschen oder einzelnen Personen heute nicht auf dem Wege von Vorkommnissen in gewissen Lebenslagen Lenkung zuteil werden lassen könne, dürfe oder wolle. Vorkommnisse vermögen durchaus der göttlichen Vorsehung zu dienen (“Theorie” 207, 217).

(a) Soweit man die übernatürliche Erklärung in Betracht zieht, liegt der Sinn eines Vorkommnisses also lediglich in der Lenkung menschlichen Verhaltens unter bestimmten Lebensumständen; Sinn meint hier Absicht. Lenkung heisst nicht zwingende Ausrichtung auf etwas, sondern Bewegung des Willens, Anleitung, Rat, Vorzeichnen eines Weges, auch: Aufforderung und Befehl.

(b) Lenkung ist immer praktische Anweisung und niemals Lehre. Durch Vorkommnisse können neue Lehren (Glaubenssätze) daher auch nicht begründet werden. Die Lenkung geschieht stets im Sinne Gottes und damit zum Wohle des Menschen, sie ist “Erbauung” im Sinne von 1 Kor 14, 3 f. Der Sinn des Vorkommnisses ist nie allgemein, sondern immer auf die besonderen Lebensumstände, auf die innere oder äussere Situation bezogen.

(3) Mit Jung-Stilling sei ausgeschlossen, dass Engel oder Heilige (nämlich fromme, abgeschiedene Menschen, “Theorie” 211, 375) eine eigene Wirkmacht auf lebende Personen haben. Diese ist ihnen vielmehr von Gott übertragen. Sie ist zudem in ihrer Art und Weise bestimmend vorgegeben. Auch die Macht böser Geister (“Theorie” 143) ist grundsätzlich eine von Gott abgeleitete. Mithin hat jedes übernatürliche Wirken Gott als den letzten Urheber.

(4) Grundsätzlich schliesst bei keinem der Vorkommnisse die übernatürliche Deutung eine natürliche Erklärung aus! Gott bedient sich zunächst gegebener Wirkanlagen (nämlich der von ihm in die Dinge angelegte Hinordnung zu einer bestimmten Tätigkeit). Damit sind Wunder bei den Vorkommnissen nicht ausgeschlossen. Sie geschehen jedoch bei weitem seltener, als es gewöhnlich unterstellt wird (“Theorie” 216 f.).

(5) Bestimmten Menschen hat Gott eine Psi-Macht, ein entwickeltes Ahnungsvermögen (“Theorie” 142) verliehen. Es äussert sich in der Fähigkeit zum Fernfühlen und zum Hellsehen. Dabei handelt es sich um eine persönliche Gnadengabe im Sinne von 1 Kor 12, 8 ff. und 1 Kor 14, 1 ff. Andere Menschen erhalten diese Fähigkeit für besondere Fälle, nämlich dann, wenn es zu ihrem Heil förderlich ist (“Theorie” 108).


B Unterscheidungsmerkmale

Jung-Stilling unterteilt die Vorkommnisse in göttlich bewirkte, teuflische und rein natürliche. Zu den Letzteren zählt er beispielsweise das Ahnungsvermögen gewisser Menschen, den Tod anderer voraussehen zu können (“Theorie” 176 ff.). Eine strenge Merkmalsbeschreibung der göttlich bewirkten oder teuflischen Vorkommnisse fehlt bei Jung-Stilling. Er grenzt die Arten anhand von Beispielen ab, getreu seines Grundsatzes: “Beyspiele belehren am sichersten” (“Theorie” 269). Zur genaueren Beurteilung scheint jedoch die Angabe unterscheidender Kennzeichen zwischen göttlich bewirkten (echten, übernatürlichen) und nicht göttlich bewirkten (unechten) Vorkommnissen erforderlich. Jung-Stilling mahnt wiederholt mit Nachdruck, jedem Vorkommnis zunächst einmal mit gesundem Misstrauen zu begegnen (“Theorie” 148, 155 f., 186, 212 ff.).


I Person

(1) Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ist noch immer die Person, die Vorkommnisse empfängt. Zweifel an übernatürlichen Vorkommnissen ist zunächst immer dann geboten, wenn sich die Empfängerperson als Alkoholiker, Süchtiger erweist oder einen losen Lebenswandel führt (“Theorie” 70 ff.) Es spricht aber auch gegen ein göttlich bewirktes Vorkommnis, wenn Menschen mit angeborenen oder erworbenen psychopathischen Merkmalen daran beteiligt sind, wozu Jung-Stilling auch liederliche Menschen mit entwickeltem Ahnungs-Vermögen zählt (“Theorie” 182, 189, “Apologie” 68). Man unterscheidet bei diesen seelischen Kennzeichen drei Grade: Neigung, Belastung und Entartung.

(a) Die angeborene Neigung (Disposition) zeigt sich als gesteigerte Empfänglichkeit für Eindrücke. Sie äussert sich bei diesen Personen nicht selten auch als auffallende Empfindlichkeit und Verletzlichkeit. Oft schliesst sie einen Mangel an Tatkraft ein.

(b) Die angeborene Belastung tut sich hauptsächlich durch Unregelmässigkeiten in der Erregbarkeit kund, die bald zu stark, bald zu anhaltend sein kann (wehleidig, weichlich, einfältig, ängstlich, dumm, empfindlich und übelnehmerisch, übertrieben reizbar, phantastisch und schwärmerisch). Hierher gehören krankhafter Hang zur Einsamkeit, ungewöhnlich aufgeregte Träume, rasche Begeisterung für eine Beschäftigung und dann ebenso schnelles Fallenlassen, Verschrobenheit (verdreht, geziert, zimperlich, scheu) sowie Zwangsvorstellungen (das heisst: der Belastete wird zu gewissen unnötigen Wahrnehmungen und Vorstellungen gezwungen, obwohl er sich deren Verkehrtheit bewusst ist).

(c) Die angeborene Entartung (Degeneration) als höchste Stufe psychopathischer Veranlagung wird oft auch allgemein als Schwachsinn bezeichnet. Man unterscheidet eine intellektuelle oder Verstandesschwäche (unterdurchschnittliche Intelligenz, Mangel an Phantasie und Aufmerksamkeit), eine sittliche Schwäche (Oberflächlichkeit, Launenhaftigkeit, Mangel an Widerstandskraft bösen Einflüssen gegenüber sowie Egoismus) und eine allgemeine Schwäche, bei der intellektuelle und zugleich sittliche Fehler vorhanden sind.

(2) Bei den erworbenen psychopathischen Zuständen, die gegen ein göttlich bewirktes Vorkommnis sprechen, sind dauernde Zustände und flüchtige zu unterscheiden.

(a) Die dauernden erworbenen psychopathischen Zustände sind durch körperliche oder seelische Einflüsse der Umgebung verursacht. Man unterteilt sie wieder in Neigung, Belastung und Disposition.

(aa) Als Merkmale einer erworbenen psychopathischen Neigung (Disposition) gelten Anzeichen wie seltsame Empfindlichkeit und Reizbarkeit, unberechenbares Verhalten gegen den Nächsten, Arbeitssucht (zunehmende Orientierung ausschliesslich auf die Arbeit unter Vernachlässigung aller anderen Lebensbereiche, neuerdings auch “Workolism” genannt) und Arbeitsunlust. Äussere Merkmale sind häufiger Kopfschmerz, eingezogener Kopf, Verdauungsstörungen, kalte Füsse und mattes Wesen.

(ab) Kennzeichen für erworbene psychopathische Belastung sind in leichteren Fällen krankhafte Ermüdung, Erschwernis des geistigen Arbeitens, geringes Selbstvertrauen, häufige Niedergeschlagenheit bis zur Todessehnsucht und auffällige Unruhe. In schwereren Fällen beobachtet man Gedächtnisschwäche und geistige, zuweilen auch sittliche Stumpfheit. Äussere Anzeichen sind Blutarmut, Abmagerung, Schwindelanfälle, Sprechstörungen (Versprechen, Verlesen, Wortarmut), Kopfschmerzen, Ohrensausen, Herzklopfen, Muskelzuckungen und krampfartige Erscheinungen.

(ac) Bei der erworbenen psychopathischen Entartung gelten dieselben Kennzeichen wie bei den angeborenen. Zu beachten sind hier alle zufolge von Epilepsie und Hysterie (psychische Störungen, die infolge eines verdrängten biographischen Entwicklungskonflikts entstehen; Verdrängung meint dabei einen Abwehrmechanismus, durch den unlustbetonte Erinnerungen und verpönte Wunschregungen an der Bewusstwerdung gehindert werden) entstandenen psychopathischen Zustände, wie Reizbarkeit, Egoismus, Launenhaftigkeit. Beachtlich sind hier als Beispiel die von Jung-Stilling (“Theorie” 70 f.) erwähnten Vorgänge um den Bandwirker Elias Eller und die “Zionsmutter” Anna Buchel in Wuppertal-Ronsdorf .

(b) Die flüchtigen psychopathischen Zustände und Vorgänge entstehen infolge irgend einer Überreizung und dauern oft nur Minuten, Stunden oder einige Tage. Hierzu zählen Erscheinungen wie das Sicheindrängen einer Melodie zwischen das Denken, das Verlesen, Versprechen und Verschreiben. Die Ursachen sind hier häufig seelischer Art; man spricht daher auch von psychogenen Störungen.

(5) Nicht ausgesagt ist damit aber, dass Menschen minderer Intelligenz (Schwächen in Konzentration, Vorstellung, Gedächtnis, schlussfolgerndem Denken, Lernen, Sprachflüssigkeit, Umgang mit Zahlen und Symbolen usw.) oder niederen Standes als Empfänger echter Vorkommnisse ausgeschlossen wären. Wie die Bibel bezeugt (etwa: Apg 16, 16) und die Erfahrung lehrt, sind Prophetien häufig von solchen “einfachen” Personen ausgegangen. Auch gilt es die Tatsache zu berücksichti-gen, dass alles, was eine Person aufnimmt, diese gemäss ihrer Veranlagung aufnimmt.

(a) Alle Personen jedoch, die Hexerei und Zauberei betreiben, sind Betrüger (“Theorie” 190 f.). Wer andere der Hexerei zeiht, versündigt sich schwer und “verdient eher verbrannt zu werden als eine arme Hexe” (“Theorie” 198).

(b) Das Geisterzitieren durch gewisse Personen nennt Jung-Stilling “eine gottlose unerlaubte Vermessenheit, und das Beschwören und Verbannen liebloss, und dem Christenthum nicht gemäss” (“Theorie” 301, “Apologie” 66 f.). In der “Apologie” (50) äussert sich Jung-Stilling vorsichtiger hinsichtlich der Möglichkeit des Geisterzitierens durch gewisse Personen.


II Inhalt

(1) Grundsätzlich spricht es für ein göttliches bewirktes Vorkommnis, wenn himmlische Wesen oder religiöse Ereignisse den Gegenstand bilden. Gegen die Vermutung eines göttlich bewirkten Vorkommnisses stehen Inhalte wie der Teufel, böse Geister sowie verborgene Ereignisse aus dem Leben verstorbener oder zeitgenössischer Personen. Wo das Letztere Objekt des durch Ahnung, Vision oder Geistererscheinung Erfahrenen ist, mag daraus gar auf teuflisch erregte Vorkommnisse geschlossen werden. Dies ist besonders auch dann anzunehmen, wenn vor versammelter Gemeinde geheime Fehltritte Einzelner aufgedeckt werden, um diese (vorgeblich) zur Busse zu führen. Solches Gebaren war in jüngster Zeit vor allem in manchen der sogenannten “pfingstlich” geprägten Gemeinden zu beobachten.

(2) Stets im Auge zu behalten ist die Warnung Jesu vor den falschen Propheten, Mt 24, 24. Es wird in dieser Ermahnung eigens darauf hingewiesen, dass sie grosse Zeichen und Wunder zu vollbringen imstande sind. Sie haben die Macht, selbst Auserwählte zu täuschen.


III Form

Unter Form sei hier die Art und Weise verstanden, wie sich ein Vorkommnis den Sinnen kundgibt. Gegen ein gottbewirktes Vorkommnis stehen missgebildete, verunstaltete Personen sowie verzerrte, entstellte Geschehnisabläufe. Auch ungehöriges, ungesittetes Betragen von (sinnlich normal aufgenommener) Wesen spricht dawider (“Theorie” 261). Hingegen sind Personen in Angst, Furcht, Verzweiflung, Schrecken, Entsetzen oder ähnlichem Gemütszustand nicht unbedingt schlechte Zeichen (“Theorie” 216); wohl aber gellend und schrill lachende, johlende, kreischende, schreiende, brüllende, grölende, polternde, trampelnde und auf andere Weise Lärm verbreitende Wesen (“Theorie” 345, 373). Aufgrund der Erfahrung mit Vorkommnissen findet sich häufig als Regel angegeben, dass misstönende, unmelodi-sche, übellautige Klänge auf böse Geister schliessen lassen, dagegen angenehme, harmonische Musik auf gute.


IV Sinn

(1) Mit Sinn ist hier nicht die Wirkung, sondern vielmehr das Bewusstsein um die Bedeutung eines Vorkommnisses gemeint. Fehlt dieses völlig, so ist übernatürliches Wirken auszuschliessen. Freilich muss das Bedeutungsbewusstsein nicht sogleich und nicht unbedingt seitens des Empfängers vorhanden sein, wie etwa die Prophezeiung des Kaiphas (Joh 11, 50 ff.) oder die Vision des Petrus (Apg 10, 9 ff.). Ahnungen und Visionen gehen einem tatsächlichen Ereignis häufig ja voraus; man erlebt etwa im Traum in allen Einzelheiten, wie man einen Autounfall erleiden wird. Auch kann es sein, dass zwar die Bedeutung nicht von dem Empfänger, wohl aber von einer anderen Person erkannt wird.

(2) Natürlich kann mit der Sinndeutung eines Vorkommnisses auch Missbrauch betrieben werden. Im besonderen werden dann Vorkommnisse auf Dinge angewendet, mit denen sie nichts zu tun haben (“Theorie” 213). Wie die Geschichte lehrt, hat man oft genug die Botschaft von Vorkommnissen für politische oder religiöse Auseinandersetzungen einer Zeit eingesetzt. Solcher Missbrauch führte bei vielen Christen zu der Haltung, von Vorkommnissen überhaupt nicht Notiz zu nehmen. Jung-Stilling beurteilt diese Haltung als unangebracht; der Missbrauch darf den rechten Gebrauch nie verhindern (“Theorie” 211 f., 216).


V Modus

(1) Aus dem Weg, über den sich ein Vorkommnis dem Menschen mitteilt, darf man ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ableiten (“Theorie” 218). Am sichersten sind Geistererscheinungen im definierten Sinne als Wunder (“Theorie” 216), am wenigsten sicher reine Visionen. Im Traum wahrgenommene Dinge erfordern besonders vorsichtige Beurteilung. Jedoch darf man angesichts der Fülle biblischer Beispiele im Traumzustand empfangene Botschaften nicht von vornherein als ganz natürliches Geschehen einstufen, siehe etwa Num 12, 6.

(2) Ein Geschehen, das durch natürliche Kraft nicht zu bewirken ist, nennt man (wie bereits erläutert) Wunder. Der Begriff enthält drei Merkmale. Erstens, es muss sich um ein Geschehen, um Wirken in Form des Tuns oder Unterlassens handeln. Zweitens ist zu beweisen, dass dieses Geschehen nicht aus den bestimmenden Gesetzen des Verursachens und Wirkens der Natur erklärbar ist. Drittens ist eingeschlossen, dass das Gewirktsein unmittelbar durch Gott geschieht; denn nur er besitzt (originäre, unmittelbare) Wundermacht.

(3) Die zu Jung-Stillings Zeit tonangebende protestantische Theologie schloss Wunder aus. Entweder wurde deren Möglichkeit rundweg bestritten, oder aber man erklärte die Zeit der Wunder für abgeschlossen.

(a) Die Möglichkeit des Wunders verneinte man von Gott aus gesehen mit drei Hauptgründen und vom Menschen aus betrachtet mit einem Hauptargument.

(aa) Erstens sei Gottes Wille mit den Naturgesetzen eins. Gott würde sich im Wunder daher selbst widersprechen. – Dies ist ersichtlich ein pantheistisches Argument, die Wirklichkeit im Ganzen mit Gott, dem absoluten Sein, fälschlich gleichsetzend. Zweitens sei es nicht denkbar, dass Gott die von ihm selbst bestimmte Ordnung verletze. – Hier wird übersehen, dass Gott ein freier Gott ist; während die Bestimmung der Natur darin liegt, ihm zu dienen. Drittens argumentierte man, eines Gottes sei es unwürdig, sein Werk der Schöpfung nachträglich verbessern zu müssen. – Verkannt wird hierbei, dass es sich beim Wunder keineswegs um Nachbesserung der Schöpfung handelt, sondern um das ganz andere, neue Gebiet der Heilsoffenbarung: der Zuwendung an die Geschöpfe.

(ab) Zudem glaubte man auch vom Menschen aus einen wichtigen Beweisgrund gegen Wunder anführen zu können, der selbst heute noch weithin herrschende Meinung in der evangelischen Theologie ist. Was als Wunder bezeichnet wird, ist unerklärtes Naturgeschehen. Mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften lösen sich diese Wunder als rein natürliches Geschehen auf. – Hiergegen wäre einzuwenden, dass wir bei aller Begrenztheit des Wissens doch entscheiden können, was nach sicher und zweifelsfrei erforschten Gesetzen unmöglich ist, etwa: dass ein Toter wieder lebendig wird oder dass eine Person im Körper durch eine dick gemauerte Wand tritt.

(b) Weiterhin erklärte man (und erklärt oft noch heute) die Zeit der Wunder für vorüber. Das Wunder war zwar zunächst Bestandteil der Offenbarungsgeschichte, also jener besonderen Zeit. Auch ist es für die Periode der Kirchengründung beglaubigt, um die junge Kirche in ihrem göttlichen Ursprung vor der Welt zu beweisen. Seitdem aber tritt der Bestand der Kirche an seine Stelle. – Diese Argumentation schreibt dem allmächtigen Gott vor, zu welcher (menschlichen) Zeit er in seine Schöpfung heilsstiftend eingreifen darf und ab wann ihm dies verboten sei; sie zeugt letztlich von Vermessenheit.

(4) Vorkommnisse ist der weitere, Wunder der engere Begriff. Wunder sind nämlich immer göttlich bewirkt und zweitens ein sichtbares, sinnlich von allen wahrnehmbares Geschehen gegen die Naturordnung. Von Gott bewirkte Ahnungen, Visionen sind damit keine Wunder in der oben angegebenen Bedeutung. Es sind dies wohl aber Geistererscheinungen in dem definierten Sinne (wirkliche und daher im Wachzustand voll erfahrbare Anwesenheit einer nichtirdischen Persönlichkeit, soweit sie sich mehreren oder gar vielen Menschen zeigt). Insofern ist es denkrichtig, wenn Geistererscheinungen immer als Wunder bezeichnet werden. Nicht jedes Wunder ist jedoch eine Geistererscheinung.


VI Ort

Wie die biblische Geschichte zeigt, hat sich Gott keinen besonderen Ort vorbehalten, um sich Menschen mitzuteilen. Daraus folgt, dass grundsätzlich der Ort des Vorkommnisses kein unterscheidendes Merkmal sein kann. Dennoch werden bereits bestehende Zweifel an der übernatürlichen Urheberschaft verstärkt, wenn das Vorkommnis an einem anrüchigen Ort stattfindet.


VII Wirkung

Unter Wirkung sei die Folge, das Ergebnis eines Vorkommnisses verstanden. Hier kann man eine private Konsequenz von einem sozialen Effekt unterscheiden (“Theorie” 145 f.). Beidesmal gilt grundsätzlich der biblische Prüfsatz. “An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen” (Mt 7, 16, Lk 6, 43).


1 Private Wirkung

Unter der privaten Wirkung eines echten Vorkommnisses steht zum ersten äusserlich eine Demut der Empfangsperson und zum anderen innerlich eine Steigerung der Glückseligkeit.

a Demut

(1) Demut soll hier als Bescheidenheit verstanden werden. Die Person soll frei sein von Streben nach Auszeichnung, von Drang nach eigener Hervorhebung, von Sucht nach Selbstüberhöhung; siehe etwa Paulus, der sich trotz vieler Vorkommnisse als klein vorkommt und stets bescheiden bleibt; 2 Kor 12, 1 ff. Jung-Stilling schildert in seinem 1785/86 erschienenen zweibändigen Roman “Theobald oder die Schwärmer”, wie die (falschen) Propheten Elias Ellert und Anna Buchel sich zum Mittelpunkt einer sie verehrenden Gemeinde machen, wie sie sich mit einer Sänfte in die Kirche tragen lassen, und wie sie sich zum Richter über die Mitmenschen erheben; siehe auch “Theorie” 70 f.

(2) Wiewohl Jung-Stilling nicht daran zweifelt, dass auch Emanuel Swedenborg mit echten Vorkommnissen begnadet war, sieht er in dessen mangelnder Demut eine grosse Verirrung (“Theorie” 97). Swedenborg glaubte nämlich aufgrund seines Verkehrs mit der Geisterwelt, er sei dazu ausersehen, bisher verborgene Geheimnisse bekannt zu machen und den Grund zum Gottesreich auf Erden legen zu müssen.

b Steigerung der Glückseligkeit

(1) Jeder Mensch ist zur vollkommenen Glückseligkeit angelegt (“Theorie” 132, “Apologie” 20 f.). Es ist dies ein Befinden, das alles Wünschenswerte einschliesst und frei von jedem Übel ist. Glückseligkeit in diesem Sinne ist ein durch Besitz alles Guten vollkommener Zustand.

(a) Wer alle (seiner Natur entsprechenden) Güter besitzt, kann durch kein Übel bedrängt werden; Übel ist ja der Mangel irgend eines Gutes. Weil ferner die Möglichkeit, den Besitz alles Guten zu verlieren, ein Übel (ja das grösste Übel) ist, so muss mit dem Besitz alles Guten auch die ewige Dauer des Besitzes gegeben sein. Vollkommene Glückseligkeit und die Möglichkeit des Verlustes wäre ein innerer Widerspruch. Die Glückseligkeit als das letzte, ihn erfüllende Ziel des Menschen schliesst demnach die Abwesenheit jedes Übels, den Besitz aller der menschlichen Natur entsprechenden Güter und die Gewissheit der Dauer dieses Zustandes ein.

(b) Das letztgenannte Merkmal kann nicht erreicht werden, solange ein Mensch noch auf Erden weilt. Daher ist die vollkommene Glückseligkeit der letzte innere Endzweck, den erst die dauernde Begegnung der entleibten Seele mit dem sie liebenden Gott gewähren kann. Diese Begegnung vollendet die natürliche Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott.

(2) Im irdischen Leben aber vermag jeder Mensch bereits einen mehr oder minder hohen Grad an Glückseligkeit zu erreichen. Nach Jung-Stilling verschafft das der Umgang mit dem Wahren (was dem Zweck der eben definierten ewigen Glückseligkeit entspricht; was mit anderen Worten den Menschen seinem Ziel der Gottesvereinigung näherbringt) und dem Schönen (was dem Menschen eine ihn veredelnde Freude bereitet; Jung-Stilling sieht diese Schönheit vor allem in den Werken der Natur als der Schöpfung Gottes).

(3) Dieser Grad an Glückseligkeit muss im Falle eines göttlich bewirkten Vorkommnisses eine Zunahme, eine Verstärkung der Intensität veranlassen. Allgemein muss das Vorkommnis für alle sichtbar einen religiösen Aufschwung der Empfangsperson einleiten. Ein übernatürliches Vorkommnis regt in jedem Falle die Seele an; es bringt ihre guten Kräfte in Bewegung; es rüttelt sie aus falschem Frieden auf und erfüllt sie häufig mit heiligem Schrecken, um zuletzt in einen köstlichen Frieden zu überströmen.


2 Soziale Wirkung

(1) Die soziale Wirkung kennzeichnet den Effekt des Vorkommnisses auf die Öffentlichkeit. Hier wäre zunächst das engere Milieu der Person (Familie, Arbeitsgruppe), sodann der weitere Lebenskreis (Freunde, Bekannte) und schliesslich die gesamte Kirche ins Auge zu fassen.

(2) So hatten in der katholischen Kirche die Marienerscheinungen in Lourdes (Frankreich) im Jahre 1858 und in Fatima (Portugal) im Jahre 1917 eine grosse Gebets- und Wallfahrtsbewegung ausgelöst. Hunderttausende vor allem kranker Menschen fanden Trost und Hoffnung an den Erscheinungsstätten. Auch wenn man – wie der Verfasser – dieser besonderen Art der Frömmigkeit wenig abgewinnen mag, so kann und darf der auf diese Weise vor allem in die unteren Volksschichten fliessende Strom von Gläubigkeit und Vertrauen keineswegs geleugnet werden. Auch ist anzuerkennen, dass es der katholischen Kirche gelungen ist, die infolge der Erscheinungen ziemlich verstärkte Marienfrömmigkeit weithin abzufedern und in die theologische Hauptströmung zu kanalisieren.

(3) Vorkommnisse, die eine Spaltung von Bevölkerungsgruppen bewirken, ja gar zu Hass und Feindschaft führen, sind bestimmt falsche im Sinne der Unterscheidung von Jung-Stilling (“Theorie” 213). Dem liegt immer ein mehr oder minder hoher Grad an Fanatismus zugrunde, nämlich die Haltung, dass allein die durch das Vorkommnis vermittelte Botschaft richtig und gegen alles andere mit jedem Mittel durchzusetzen sei.

(4) Selbstverständlich sind auch alle Botschaften, die gegen die Offenbarung Gottes gerichtet sind, so wie diese sich in der christlichen Lehre ausdrückt, in keinem Falle göttlich bewirkt. Hier gilt: “Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleische gekommen ist, der ist aus Gott. Jeder Geist aber, der Christus nicht bekennt, der ist auch nicht aus Gott” (1 Joh 4, 23). Freilich bildet andrerseits die Tatsache, dass der Inhalt einer Botschaft der Lehre der christlichen Kirche entspricht, noch lange keinen Beweis für ein echtes Vorkommnis.


D Zweck der Vorkommnisse

Was ist mit echten Vorkommnissen beabsichtigt? Welcher Zweck (Ziel, um dessentwillen etwas geschieht) ist mit ihnen verbunden? Hier ist ein stets gegenwärtiger allgemeiner Zweck (Hauptzweck) vom jeweils besonderen Zweck (Ziel in einzelnen Fällen, Nebenzweck) zu unterscheiden.


I Hauptzweck

(1) Hauptzweck eines jeden echten Vorkommnisses ist nach Joh 11, 4 die Ehre Gottes. Diese soll entweder ausgelöst, erweckt, bewirkt oder aufgezeigt, vergegenwärtigt, dargelegt oder aber befördert, gesteigert, vertieft werden. Gott offenbart sich im echten Vorkommnis immer in einer seiner Eigenschaften, und dies veranlasst den Menschen zu Achtung, Wertschätzung, Dank, Ruhm und Preis. Wo dieser Hauptzweck nicht gegeben ist, handelt es sich nie um ein echtes Vorkommnis.

(2) Von den Eigenschaften Gottes kann sich der Mensch immer bloss ein ungefähres, bruchstückhaftes Bild machen (Gottes-Idee); und dieses Bild trägt immer menschliche Züge in sich. Gleichwohl aber sind sie im Denken grob erkennbar. Dabei lassen sich zwei Gruppen unterscheiden.

(a) Zunächst Eigenschaften, welche das Verhältnis Gottes, des Urgrund des Seienden, zur natürlichen Welt bezeichnen, und zwar erstens die der Abgezogenheit gegenüber der raum-zeitlichen Welt (Ewigkeit, Unveränderlichkeit, Unräumlichkeit, Unendlichkeit) und zweitens die der Bezogenheit zu Raum und Zeit (Allgegenwart, Allmacht, Allwissenheit, Weisheit).

(b) Sodann Eigenschaften, welche das Verhältnis Gottes, des Urgrunds der Liebe, zur sittlichen Welt (Menschen) ausdrücken, und zwar erstens die der Abgezogenheit (Heiligkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit) und zweitens solche der Bezogenheit, der Liebe (Treue, Güte, Gnade, Barmherzigkeit, Geduld, Langmut).

(3) Von diesen Eigenschaften seien einige kurz umrissen, und dabei nur die eben eingeführte Haupteinteilung berücksichtigt. Absicht dieser erläuternden Darstellung der Eigenschaften Gottes ist es hier, in den dargelegten Vorkommnissen die eine andere der die Ehre Gottes offenbarenden Attribute zu erkennen.


1 Gott und die endliche, natürliche Welt

Gottes absolutes Wesen in Beziehung gestellt zur endlichen, raum-zeitlichen, veränderlichen, abhängigen Welt drückt sich aus in den Eigenschaften Unendlichkeit, Ewigkeit, Allgegenwart, Unveränderlichkeit und Allmacht.

(1) Aus dem Begriff der Absolutheit Gottes (nämlich: Gott gründet im Gegensatz zu allem Geschaffenen nicht in einem anderen, sondern nur in sich selbst; ihm eignet Aseïtät) ergibt sich seine Unendlichkeit (Infinität) und Unräumlichkeit. Es ist dies die Eigenschaft seines Wesens, kraft derer er jede Begrenztheit nach der Weise des Natürlichen ausschliesst.

(2) Die Seinsform des Nebeneinander ist Raum, die Existenzform des Nacheinander die Zeit. Die Welt ist endlich, darum räumlich und zeitlich. Gott ist unendlich, darum allgegenwärtig und ewig (“Theorie” 37). Mithin ist die Absolutheit, unter dem Gesichtspunkt des Raumes gesehen, die Unräumlichkeit oder Allgegenwart (Omnipräsenz), unter der Relation des Zeit betrachtet die Ewigkeit (Äternität).

(3) Alles Räumliche und Zeitliche ist veränderlich. Weil aber Gott der Unräumliche und Unzeitliche ist, so muss er auch unveränderlich sein. Ist in Gott als dem absoluten Sein schlechthinnige Selbstsetzung (Aseïtät), so ist diese Selbstsetzung, unter dem Bezug des Endlichen, Veränderlichen betrachtet, die Unveränderlichkeit (Immutabilität); siehe Jak 1, 17. – Zeigt sich Gott in Schöpfung, Erlösung, Gebetser-hörung, Vorkommnis usw. in der Geschichte, also in Veränderlichkeit, dann ist diese nur Ausdruck seiner Selbstsetzung. Veränderlichkeit wie Unveränderlichkeit ist seine Absolutheit, kraft deren er durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt ist.

(4) Die göttliche Absolutheit, so wie sie als schlechthinnige Selbsmächtigkeit unter der Relation der Abhängigkeit und der allenthalben begrenzten Macht des Endlichen sich darstellt, ist die Allmacht (Ommnipotenz) Gottes.

(a) Er will aber nur das Gute und Gotteswürdige. So hat die göttliche Allmacht ihre (wenn auch einzige) Schranke in dem Wesen und Willen Gottes. Anders ausgedrückt: Gott eignet Allmacht, insofern sie seinem eigenen Wesen nicht widerspricht.

(b) Es widerspräche auch Gottes Wesen, wenn er, nachdem er einmal die Welt geschaffen hat, wie sie ist, seine Allmacht darin zu beweisen suchte, dass er das, was er gewollt hat, nicht mehr wolle. Insofern erledigt sich die Frage, ob Gott Geschehenes ungeschehen machen könne sowie das Problem, ob es Wunder gibt, die so wirkten. Wunder vermögen, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, nur gewisse Naturgesetze auszusetzen (Suspensionswunder) oder zur Wiederherstellung gestörter Naturordnung führen (Ausgleichswunder, Restitutionswunder, wozu unter Umständen auch Heilungen zählen).


2 Gott und die sittliche Welt

Gottes persönliches Wesen in Relation gestellt zur Welt geschaffener, sittlicher Persönlichkeiten (Engel und Menschen) drückt sich aus in den Eigenschaften Allwissenheit und Allweisheit, Heiligkeit, Gerechtigkeit, Güte und Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Seligkeit und Liebe. Auch diese Eigenschaften Gottes sollen in einem echten Vorkommnis aufleuchten.

(1) Die Allwissenheit (Omniszienz) Gottes ist sein absolutes, persönliches Wesen. Dieses stellt sich unter Betracht des endlichen Wissens als schlechthinnige Erkenntnis seiner selbst und der Welt dar. Indem sich die Allwissenheit auf die intellektuelle Seite Gottes bezieht, ist mit ihr eng verwandt die Weisheit (Sapienz), welche die ethische Seite ins Auge fasst.

(a) Die Weisheit Gottes ist mit anderen Worten das praktische Wissen in Verbindung mit seinem Willen. Als schöpferische Weisheit ist sie die Ursache aller Dinge. Als ordnende Weisheit teilt sie den einzelnen Weltdingen innere Regeln, Harmonie und zweckmässige Organisation mit und vereinigt alle zu einem stimmigen Ganzen. Als lenkende Weisheit geht sie über in die göttliche Vorsehung und Weltregierung.

(b) Unter allen drei Aspekten betrachtet ist das praktische Wissen Gottes im wahrsten Sinne des Wortes Ursache aller Dinge. Daher hat auch der Grundsatz unbedingte Geltung: Gott erkennt die Dinge nicht darum, weil sie sind; sondern umgekehrt sind die Dinge, weil Gott sie erkennt.

(2) Das Volk Israel wird heilig genannt, insofern es für Jahve gesondert ist, ihm also eignet. Der Begriff heilig meint das Hingegebensein an Gott; alles was Gottes ist, ist heilig. Wenn darum der Mensch heilig ist, insoweit er für Gott abgesondert ist, so muss auch Gott in dem Sinne heilig genannt werden, dass er der für sich selbst Seiende, in sich selbst Abgesonderte ist. Daher eignet Gott Heiligkeit. In tatsächlicher Beziehung zur Welt ist die Heiligkeit Gottes die Eigenschaft seines Wesens, vermöge deren Gott nicht will und nicht duldet, dass diese Welt eines anderen sei als Gottes.

(3) Die Gerechtigkeit Gottes ist die Eigenschaft seines Wesens, kraft deren er das Recht schafft, nämlich das Gute zu Geltung und Bestand bringt und das Böse zunichte werden lässt: den Frommen Grund der Hoffnung und des Trostes, den Gottlosen ein Grund der Furcht und des Schreckens; siehe Röm 2, 5-7.

(a) Der gerechte Gott kann sich den Menschen nicht anders mitteilen als unter Aufhebung des (der Gemeinschaft Gottes widerstrebenden) Bösen am Menschen. Insofern sich die Gerechtigkeit mit der Heiligkeit zusammenfasst, verbindet sie sich mit der Güte (der Menschenfreundlichkeit bzw. der Hinneigung zu jeder Kreatur) und Barmherzigkeit (Bereitschaft zum Verzeihen; wirksamer Wille zur Linderung oder Hebung fremder Not). Bei Gott sind Güte und Barmherzigkeit aber nicht Gemütsstimmungen, sondern von ihm ausgehende Wirkung (kein Affekt, sondern Effekt).

(b) Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich unter den zuletzt genannten Hinsichten als die Ordnung seiner heiligen Liebe. Kraft dieser Liebe ist Gott voller unendlicher Gütigkeit gegen die Geschöpfe. Dies zeigt sich in Jesus Christus seinem Sohn; siehe Joh 3, 16; 1 Joh 4, 9. Die Liebe ist, anders ausgedrückt, jene Eigenschaft Gottes, vermöge deren er die frei und für ihn gesetzte Welt zur Anteilnahme an seiner Seligkeit einlädt und allen Geschöpfen Gutes erweist, zuletzt in unfassbarem Masse durch sein Werk der Erlösung, “Theorie” 135 f.).

(4) Die Seligkeit (Allgenugsamkeit, Beatität) Gottes ist jene Eigenschaft, durch welche er eine vollkommene Befriedigung in sich selbst hat. Weil Gott selig ist, so hat er auch in das Menschenherz den Trieb zur Seligkeit gelegt; 1 Tim 1, 11 und 5, 16.

(5) Weil Gott der aus seinem eigenen Wesen Seiende ist, weil ihm Aseïtät zukommt, liegt in seinem Wesen eine völlige Widerspruchslosigkeit. Deren Ausdruck der Welt gegenüber ist Gottes Wahrhaftigkeit (Verazität); siehe Röm 3, 3 ff. In Gott besteht eine völlige Übereinstimmung von Denken und Handeln. Sie ist die Grundlage des Glaubens.


II Nebenzwecke

(1) Der Hauptzweck eines echten Vorkommnisses ist ausnahmslos die Ehre Gottes, nämlich das Aufscheinen einer der eben kurz umrissenen Eigenschaften; wobei diese gegebene Aufzählung infolge der bereits erwähnten Schwierigkeit einer Gottes-Idee (dem absoluten Wesen Gottes kommen im eigentlichen Sinne keine Eigenschaften zu; der menschliche Geist kann sich nur undeutliche Abbilder von Gott aus seiner eigenen, kreatürlichen Begriffswelt machen) unvollkommen ist. Jedes einzelne Vorkommnis hat aber darüber hinaus auch stets einen eigenen, besonderen Zweck. Im groben lassen sich vier Arten solcher Nebenzwecke erkennen.

(a) Erweis der von Gott geoffenbarten Wahrheit. Zu diesem Zweck wurde die Berufung des Mose, Gottes Volk aus der Knechtschaft Ägyptens zu befreien, durch Wunder bestätigt; siehe Ex 4. Auch die Wunder Christi dienten der Bezeugung der göttlichen Wahrheit; ebenso alle Vorkommnisse, welche die Missionsarbeit der Apostel begleiteten, siehe 1 Kor 2, 4. Vorkommnisse bezeugen, wie Jung-Stilling hervorhebt, immer die christliche Botschaft (“Theorie” 310 f.) als Ganzes oder in einzelnen Aspekten.

(b) Beglaubigung eines beauftragten lebenden Menschen. Als Beispiel sei hier der Prophet Elia genannt. Acht echte Vorkommnisse begleiteten seine Anordnungen, die er im Namen Gottes erteilte, siehe 1 Kön 17 bis 2 Kön 9. Auch Mose wurde durch ein Wunder von Gott gegenüber seinen zweifelnden Geschwistern legitimiert; seine Schwester Maria wurde aussätzig, siehe Num 12.

(c) Bezeugung der Heiligkeit eines bereits verstorbenen Menschen. So bestätigte Gott den toten Propheten Eliseus (Elisa), indem ein Toter über seinem Grab wieder lebendig wurde, siehe 2 Kön 13, 21. Den 304 hingerichteten Bischof Januarius bezeugt Gott durch ein sog. Dauerwunder. Das trockene Blut des Märtyrers, aufbewahrt im Dom zu Neapel, zeigt sich flüssig und beginnt aufzuwallen, sobald man es dem Haupt des Märtyrers näherbringt.

(ca) Die römische Ritenkongregation verlangt vor der Seligsprechung bzw. Heiligsprechung in jedem Falle echte Vorkommnisse. Sie werden durch festgelegte Verfahrensweise verzeichnet und nach Merkmalskatalogen bewertet. Viele Bände mit Akten und Urkunden über diesem Zweck dienende Vorkommnisse sind erschienen. Aus ihnen wird deutlich, dass Gott auch zu unserer Zeit zur Bezeugung der Heiligkeit verstorbener Menschen wirkt.

(cb) Zu bedauern ist, dass unsere protestantischen Kirchen weltweit (von wenigen Ausnahmen abgesehen) keine vergleichbaren Instanzen eingerichtet haben. Entsteht doch so bei vielen evangelischen Christen der Eindruck, dass Gott durch Vorkommnisse bloss im katholischen Raum wirke. Andrerseits wird es dadurch nicht möglich, offensichtlich falsche Vorkommnisse als solche sachlich und unbefangen festzustellen; und es bilden sich dann um solche falsche Vorkommnisse eigene Gemeinden (“Theorie” 70 f.).

(d) Gewährung von geistigem oder körperlichem Glück. Gott rettete aus diesem Zweck Noah vor der Sintflut, Lot vor dem Untergang in Sodom und Tobias vor der Blindheit, Jung-Stillings Patron Peter Johannes Flender vor dem Schiffbruch (“Theorie” 106) und den Marburger Mathematikprofessor Böhm vor einer herabstürzenden Decke (“Theorie” 101 ff.). Vor der Rachehand des Herodes schützte Gott Petrus durch einen Engel (Apg 12, 11) und den weinenden Armen gab er ihre Wohltäterin Tabitha zurück, Apg 9, 39 ff.

(2) In jedem echten Vorkommnis muss sich einer der genannten Nebenzwecke neben dem Hauptzweck erkennen lassen. Ist dies nicht der Fall, so handelt es sich auch nicht um ein göttlich bewirktes Vorkommnis. Bezieht man nun auch noch die vorhin genannten Merkmale ein, vor allem die private und soziale Wirkung, so wird die Unterscheidung in echte und falsche Vorkommnisse grundsätzlich möglich.

(3) Jung-Stilling schliesst aus, dass der Nebenzweck eines Vorkommnisses auch in der Bekehrung eines Abständigen, in der Sinnesänderung zu Christus liegen könne. Solange nämlich eine Person nicht echten Willen zur Umkehr hege, “helfen alle Geistererscheinungen und deren Ermahnungen gar nichts. Sie können erschüttern, ein vorübergehendes Nachdenken erwecken; übrigens nutzen sie nicht mehr als jede andre mündliche oder schriftliche Ermahnung, und dazu bedürfen wir keine (so) Werkzeuge aus der andern Welt” (“Theorie” 290), lautet seine Begründung; siehe ähnlich auch “Theorie” 359 f. und “Apologie” 16 f.

(4) Es sei zum Schluss jedoch nochmals hervorgehoben, dass die natürliche Erklärung eines Vorkommnisses seine übernatürliche Deutung nicht ausschliesst – oder umgekehrt! Weil Gott allmächtig und allgegenwärtig ist, steht ihm jede Wirkweise in Vorkommnissen völlig frei. Er wird jene Weise wählen, die der jeweiligen Situation aus der Sicht seiner Allwissenheit, Barmherzigkeit und Liebe am besten entspricht. An uns allen liegt es, Vorkommnisse zu prüfen, die echten mit Dank gegen Gott anzunehmen und diese Gnade (als übernatürliche Gabe, die uns Gott zu unserem Heil verleiht) für das persönliche und gesellschaftliche Leben zu nutzen.

 


LITERATURHINWEISE

 

 

Abgefordertes Gutachten einer ehrwürdigen Geistlichkeit der Stadt Basel über Herrn Dr. Jung’s genannt Stilling Theorie der Geisterkunde. Basel (Samuel Flick) 1809

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Untermschloß, Gotthold: Begegnungen mit Johann Heinrich Jung-Stilling. Siegen (Kalliope Verlag) 1988

Untermschloß, Gotthold: Vom Handeln im Diesseits und von Wesen im Jenseits. Johann Heinrich Jung-Stilling gibt Antwort. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1995. Frei bei der Adresse <http://www.uni-siegen.de/~stilling/downloads.htm> zur privaten Nutzung downloadbar

Unverzagt, Haltaus: Hat Jung-Stilling Recht? Protokolle nachtodlicher Belehrungen. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992 (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 2)

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