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Prof. Dr. Gerhard Merk, Dipl.rer.pol., Dipl.rer.oec.

Abhandlungen über Johann Heinrich Jung-Stilling

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Bildungsfehler und Überfeinerung

Johann Heinrich Jung-Stilling, der Weltweisheit und Arzneikunde Doktor, Kurpfälzischer Hofrat

Titel: BILDUNGSFEHLER UND ÜBERFEINERUNG, Sozialer Abstieg von Familien und Staaten

Neu herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Dr. Gerhard Merk, Universitätsprofessor in Siegen,

Jung-Stilling-Gesellschaft e. V., Siegen

Leicht ergänzte und aktualisierte Fassung der Druckausgabe, die als Band 5 der Reihe “Jung-Stilling-Schriften” im Jahr 1992 im Verlag der Jung-Stilling-Gesellschaft erschienen ist, ISBN 3-928984-04-09. — Die gewerbliche Nutzung dieses Textes bedarf der schriftlichen Einwilligung der Jung-Stilling-Gesellschaft e. V., Siegen (Deutschland).

Vorwort


(1) Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817), der Weltweisheit und Arzneikunde Doktor, genießt heutzutage vor allem als Augenarzt und christlicher Schriftsteller Nachruhm.

(a) Als Augenarzt machte er sich dadurch einen Namen, daß er an die 3 000 Menschen durch Operation das Sehvermögen wiedergab. Darüber hinaus dürfte er zeitlebens gut 20 000 Patienten augenärztlichen Rat angedient haben – und das alles, ohne eine Vergütung zu fordern! In den letzten Jahren aufgefundene Operationsprotokolle (im Druck 1992 erschienen unter dem von Jung-Stilling selbst gewählten Titel: “Geschichte meiner Staar Curen und Heylung anderer Augenkrankheiten“, ISBN 3-928984-06-3) sowie ein 1791 in Marburg veröffentlichtes Lehrbuch über Heilmethoden weisen Jung-Stilling auch einen festen Platz in der wissenschaftlichen Ophthalmologie zu.

(b) Nach der als so “glorreich“ gerühmten Revolution von 1789 drängten die französischen Heere ostwärts. Das brachte immerhin 22 Jahre lang – von 1792 bis 1814 – vielerlei Not, Drangsal, Kümmernis und Unsicherheit über Deutschland. Jung-Stilling wird in dieser schlimmen Zeit durch eine große Zahl von volkstümlichen Schriften zu einem Tröster gerade für die am meisten heimgesuchten „kleinen Leute“. Ihnen bietet er durch seine religiösen Schriften Lichtblicke; sie bestärkt er in Glaube und Hoffnung auf das Reich des Friedens, das Jesus Christus errichtet und für alle Menschen aufbewahrt hat. Veröffentlichungen wie die in 30 Stücken erschienene Volksschrift “Der graue Mann“ und der gleichnishafte Roman “Das Heimweh” haben ein vielfältiges Echo. Sie werden auch in die niederländische, norwegische und russische Sprache übersetzt. Diese Schriften und an die 20 000 Briefe, der er in seinem Leben an Menschen aller Stände schrieb, machen Jung-Stilling zu einer allseits verehrten Patriarchengestalt im deutschen Protestantismus.

(2) Weniger in Erinnerung geblieben ist Jung-Stilling als Sozialwissenschaftler und besonders als Ökonom. Dabei war er die längste Zeit seines Lebens in der Wirtschaftspraxis und als Hochschullehrer für Wirtschaftswissenschaften tätig. Auch liegt auf diesem Gebiet der Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen.

(a) Von kleinauf bereits muß Jung-Stilling zu Hause, in einem Dorf des Fürstentums Nassau–Siegen, in der Großfamilie mithelfen. Solche Kinderarbeit gilt damals als selbstverständlich. Der Großvater ist Köhler, der Vater Schneider und Knopfmacher, der Onkel Markscheider und Landmesser. Dazu hat die Familie1 auch eine teilselbstversorgende Landwirtschaft. Dadurch wird Jung-Stilling beizeiten mit den Gegebenheiten der bäuerlichen und handwerklichen Produktion vertraut. Der breit talentierte, dabei geistig frühreife, findige, lebhafte und gewitzte Knabe lernt auch bald, über die bloßen Verrichtungen daheim hinauszudenken. Das nördliche Siegerland ist eine uralte Montanregion. Bergwerke und Metallverhüttung prägen das Land. So gewinnt Jung-Stilling mither auch Einblick in die Beziehungen der industriellen Tauschwirtschaft.

(b) Nach Abschluß der Lateinschule, Schneiderlehre beim Vater und Unterweisung in der Geodäsie beim Patenonkel ist Jung-Stilling zunächst als Lehrer, Schneider und Vermessungsgehilfe im Siegerland tätig. Mit 22 Jahren wandert er in das benachbarte Herzogtum Berg. Dort wird er bald Hauslehrer der Kinder und rechte Hand bei den Geschäften von Peter Johannes Flender (1727–1808) in Kräwinklerbrücke (heute Teil der Stadt Remscheid).

(ba) Sieben Jahre lebt Jung-Stilling in der Familie Flender. Sein Geschäftsherr ist vermögender Hammerwerksbesitzer, Landwirt und Viehzüchter. Überdem betätigt er sich als Großhändler. Flender liefert Eisenwaren aus seinen Hämmern vor allem für den Schiffbau an den niederländischen Küstenwerften. Diese Fabrikate läßt er teilweise mit in Amsterdam ankommenden Kolonialwaren (Reis, Zucker, Tee, Kaffee, Gewürze, Baumwolle, Farbhölzer) verrechnen. Solche “Barattogeschäfte” nützen auf vielfältige Weise die gründliche Kenntnis der Waren sowie die Vertrautheit mit den Marktbedingungen, welche die niederländischen Geschäftspartner vor Ort besitzen. Zudem vermeidet Flender so einen Geldumtausch mit den (damals teilweise sehr hohen) Kursrisiken. Die barattierten Kolonialwaren gelangen mit dem Schiff nach Mülheim bei Köln (es liegt rechtsrheinisch und gehörte zum Herzogtum Berg), wo Flender eine Niederlassung unterhält. Zum Teil mit betriebseigenen Fuhrwerken setzt Flender die Waren als Grossist in das seinerzeit sehr kaufkräftige Bergische Land sowie in die Stadt Köln ab.

(bb) Peter Johannes Flender ist ein außergewöhnlich kluger, gewandter Kaufmann; dabei aber von ausgeglichenem, durch den christlichen Glauben geprägtem Wesen. Er spricht und schreibt niederländisch; auch steht er durch Geschäftsreisen mit der Kundschaft in persönlicher Verbindung. Die (aus späterer Zeit) erhaltenen Briefe Flenders zeigen diesen als lebensklugen, gebildeten und zuvorkommenden Menschen. Er bleibt auch in der für seine Geschäfte äußerst schlimmen Lage während der Kriegszeit im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 mit viel Geschick um den Erhalt seines Unternehmens bemüht.

(bc) Der tägliche Umgang Flenders mit dem dreizehn Jahren jüngeren Jung-Stilling gestaltet sich (wie Jung-Stilling in seiner Lebensgeschichte schreibt) von Anfang an sehr freundschaftlich; beide Männer “waren recht vertraulich zusammen”, “ohne eine einzige trübe Stunde dazwischen”. Jung-Stilling selbst nimmt das reichhaltige Fachwissen von seinem Prinzipal auf. Er bekennt, daß das Haus Flender seine Hochschule war, “wo ich Oeconomie, Landwirthschaft und das Commerzienwesen aus dem Grund zu studiren Gelegenheit hatte.”

(bd) Jung-Stilling kündigt im Hause Flender 1770, weil er sich – trotz seines vergleichsweise hohen Alters von 30 Jahren – noch zum Studium der Medizin an der Universität Straßburg entschlossen hatte. Peter Johannes Flender “weinte blutige Thränen” ob des Ausscheidens von Jung-Stilling aus seiner Familie und seinem Unternehmen.

(c) Neben der hier geschilderten wirtschaftlichen Praxis war Jung-Stilling aber auch ein Vierteljahrhundert als Hochschullehrer für angewandte ökonomische Wissenschaften tätig. Der 38jährige Arzt in Wuppertal-Elberfeld erhält 1778 einen Ruf als Professor an die Kameral Hohe Schule nach Kaiserslautern. Mit der Verlegung jener Anstalt und ihrer Eingliederung in die Universität Heidelberg wirkt Jung-Stilling drei Jahre lang an dieser berühmten Hochschule. Bereits 1787 erreicht ihn unter sehr günstigen Bedingungen ein Ruf nach Marburg. Dort lehrt er sechzehn Jahre lang. Die widrigen Zeitumstände bewegen ihn, 1803 sein Lehramt aufzugeben. Er wird in seinem letzten Lebensabschnitt persönlicher Berater des Großherzogs von Baden. In der badischen Hauptstadt Karlsruhe stirbt Jung-Stilling im 77. Altersjahr; hier liegt er auch begraben.

(d) Was die schon erwähnten Veröffentlichungen betrifft, so schreibt Jung-Stilling 11 Lehrbücher, und zwar zur Fabrikwissenschaft, Finanzwissenschaft, Forstlehre, Handlungswissenschaft (sein erstmals 1785 erschienener, praxisnaher Leitfaden wird nach der 2. Auflage 1799 auch ins Dänische übersetzt; noch 1824 erlebt das Buch zu Kopenhagen einen Neudruck), zur Kameralpraxis, Kameralrechnung, Kameralwissenschaften, Landwirtschaftslehre, Staatspolizei, Staatswirtschaft und Vieharznei (diese zählt seinerzeit noch zu den angewandten ökonomischen Wissenschaften). — Dazu verfaßte Jung-Stilling eine stattliche Anzahl fachökonomischer Aufsätze. Sie erschienen größtenteils in dem Jahrbuch “Bemerkungen der Kuhrpfälzischen physikalisch–ökonomischen Gesellschaft”. Eine Auswahl dieser Arbeiten kam 1788 in Kopenhagen heraus unter dem Titel: “Herrn Professor Jungs Abhandlungen, Oeconomisch und statistischen Inhalts”. Der (unerlaubte) Nachdruck wird im Vorwort damit begründet, daß die älteren Fachaufsätze von Jung-Stilling so sehr gesucht seien.

(3) Warum die sozialwissenschaftlichen Arbeiten von Jung-Stilling so gesucht waren, kann der Leser aus den hier neu gedruckten Abhandlungen erkennen. Jung-Stilling verbindet stets anschauliche Schilderung mit in sich schlüssigen Folgerungen. Dies geschieht auf einer Ebene, wo jedermann mit gesundem Menschenverstand ohne Schwierigkeiten folgen kann. Im besonderen sind es einleuchtende, genau passende Beispiele, an die er richtig und überzeugend verallgemeinernde Ableitungen knüpft. Jung-Stillings Lehrgrundsatz hieß: “Beispiele belehren am besten”; von rein theoretischen Darlegungen und Gedankenmodellen hielt er nicht viel.

(4) Bei dem allem war Jung-Stilling nach den zeitgenössischen Berichten auch im mündlichen Vortrag ein sehr guter akademischer Lehrer. Er konnte seine lange Erfahrung als Dorfschullehrer und Hauserzieher, verbunden mit dem in der Praxis erworbenen ökonomischen Wissen in seine Lehrveranstaltungen an der Universität einbringen. Die meisten seiner Kollegen hatten nie einen Betrieb kennengelernt. Dazu kam Jung-Stilling als Arzt und Augenarzt in viele Haushaltungen und mit unzähligen Menschen zusammen. Auch von daher hatte er eine genaue Kenntnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Vergleicht man damit seine zeitgenössischen Kollegen, so kann man die wiederholte Warnung von Jung-Stilling vor “Projektanten” (die tatsächliche ökonomische und soziale Lage der Haushalte und Betriebe nicht kennende, aber forsch Ratschläge erteilende Gelehrte und Beamte) wohl verstehen.

(5) Die folgenden Abhandlungen sind vom Herausgeber leicht bearbeitet. Zunächst ist der Text in die heutige Rechtschreibung gebracht. Sodann sind allzu lange Satzgebilde (in den wissenschaftlichen Abhandlungen von Jung-Stilling leider die Regel) getrennt und in mehrere kürzere Sätze gefaßt. Überdas finden sich die Abschnitte zweckmäßig gegliedert sowie mit sinnentsprechenden Überschriften versehen. Endlich werden in Anmerkungen für heutige Leser notwendige Erklärungen zu alten Geld- und Maßeinheiten, Namen sowie aus dem Gebrauch gekommenen Wörtern gegeben. Dies kommt sicher der besseren Lesbarkeit und damit der leichteren Verständlichkeit zugute. — Wer die Originalfassung lesen möchte, kann die Aufsätze in mehreren deutschen öffentlichen Bibliotheken finden; die genaue Quelle ist jeweils angegeben. Gegen Kostenerstattung liefert eine Kopie auch die Jung-Stilling-Gesellschaft e.V., Postfach 10 04 33 in 57004 Siegen (Deutschland); freilich, ohne sich zu einer solchen Dienstleistung rechtlich zu verpflichten.

Siegen, den 8. Mai 1992

Der Herausgeber

 


Pracht und Luxus*

 


A. Widersprüchliche Ansichten über Pracht und Luxus


Wenn wir die Schriften der berühmtesten Staatslehrer durchlesen, so finden wir verschiedene, welche behaupten, die Pracht sei gewissermaßen den Gewerben nützlich, mithin von den Regenten nicht einzuschränken. Andere weisen sogar dem Luxus eine Stelle in der Reihe zulässiger Übel an. Denn daß diese Art der Verschwendung ein Übel sei, leugnet wohl niemand. Aber sie glauben, es gäbe Arten derselben, welche den Gang der Gewerbe unterstützten und so anderen viel Nahrung gäben — ob sie gleich einzelne Familien zu Grunde richteten. Wieder andere lehren von dem allen das Gegenteil. Sie suchen zu beweisen, daß weder Pracht noch Luxus dem Staate und seinen Gewerben zuträglich seien.

Ich habe Gelegenheit gehabt, jeden Gewerbestand in seinen inneren Getrieben genau kennenzulernen.2 Zudem habe ich die Folgen der Pracht und des Luxus sowohl bei einzelnen Familien als auch in gesellschaftlichen Verhältnissen oft und vielfältig bemerkt. Daher versuche ich, aus meinen Erfahrungen die Wahrheit zu entwickeln, in wiefern die eine oder die andere Klasse obiger Gelehrten nach meiner geringen Einsicht Recht oder Unrecht habe.

Freilich bin ich der Mann nicht, der dazu gesetzt ist, Streitsachen solcher Lehrer zu entscheiden, denen ich nicht wert bin, die Schuhriemen aufzulösen.3 Aber wenn man die Sache im rechten Licht betrachtet und mich von Seiten meiner Erziehung, meines Herkommens und der Schicksale meines Lebens ansieht, so wird man mir zugestehen, daß ich vieles bemerkt haben könnte, das jenen Männern (die immer von den niedrigeren oder Gewerbeklassen der Menschen zu weit entfernt waren) nie in die Augen fiel.4 Sie konnten daher in diesen Fällen ihre Vernunftschlüsse nur auf theoretische Grundsätze bauen. Diese aber weichen sehr oft von der Natur der Sache ab, und müssen also auch falsche Folgerungen ausgebären.


B. Wesen von Pracht und Luxus


Damit ich nun die Wahrheit in philosophischer Ordnung vortragen möge und also meine Abhandlung so viel als möglich deutlich werde, so will ich erst durch Beispiele erläutern und untersuchen, was Pracht und was Luxus ist. Zweitens will ich erzählen, was beide für Wirkungen auf die Familien haben, um endlich drittens daraus zu folgern, ob sie dem Staate nützlich oder schädlich seien.


I. Merkmale von Pracht und Luxus oder Üppigkeit


Wenn ein Mann ein großes Vermögen besitzt, dieses aber nicht ganz in seinem Gewerbe verwendet, sondern in seiner Wohnung, Kleidung und Nahrung zu dem Ende Aufwand macht, damit er von anderen als ein großer vornehmer und geschmackvoller Mann angesehen werden möge, so treibt er Pracht. Wenn wir also die Quelle untersuchen, woher diese Gesinnung kommt, so finden wir, daß der Mann von prächtiger Lebensart gern unter Seinesgleichen hervorstechen und bemerkt sein will. Er ist also hochmütig.5

Ein anderer auch vermögender Mann hat eine sehr reizbare Sinnlichkeit. Nicht so sehr das in die Augen Fallende und wodurch er sich von anderen unterscheiden könnte, treibt ihn an, Aufwand zu machen, sondern vielmehr seine Empfindungen.6 Was seinen Gaumen kitzelt, das ißt und trinkt er. Er wählt sich aus der großen Mannigfaltigkeit der Speisen und Getränke immer das Wohlschmeckende und Niedliche7, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit und sein Leben.

In seiner Kleidung sieht er nur auf Bequemlichkeit. Er trägt Seide, weil sie ihm leicht und zart um den Leib hängt. Er wählt sich die Möbel, die sein Auge ergötzen. Im Bauen sieht er auf das, was ihm am bequemsten ist, usw. Sein Trieb, Aufwand zu machen, ist also Wollust8, und seine Leidenschaft ist Luxus oder Üppigkeit. Gemeiniglich wirken aber beide Stücke, die Pracht und der Luxus, zusammen. Der Prächtige ist oft üppig, und der Üppige ist oft prächtig.9

Ich komme also von der Meinung ab, die ich sonst mit anderen gemein hatte,10 nämlich daß die Pracht derjenige Aufwand sei, den ein Erwerber binnen der Grenzen seines Einkommens macht; und daß man unter Luxus nur den Aufwand verstehe, wenn ein einzelner unnötiger Weise mehr zu seinem Vergnügen ausgibt, als er erwirbt. Denn man sieht ohne viel Mühe ein, daß jemand Pracht treiben könne, wenn er auch Schulden damit macht; und daß ein sehr üppiger Mann bei einem großen Einkommen doch immer noch reicher wird. Wenn jemand größeren Aufwand macht, als er einnimmt, so ist er ein Verschwender. Sein Trieb dazu kann sowohl Hochmut als auch Üppigkeit sein.


II.Abgrenzungsfragen

 


1. Ruin durch Pracht


Ich habe zwei Handelsmänner gekannt, die mir zur Erläuterung dienen können. Der erste war ein Weinhändler. Er hatte ein Vermögen von etwa dreißigtausend Taler.11 Er zog sich prächtig an, trug Kleider von schweren Gold- und Silbertressen12 und hielt sich Kutschen und Pferde, deren sich ein Fürst nicht schämen durfte. Ebenso war auch seine ganze Lebensart fürstlich.

Zugleich fing er an, ein Haus zu bauen. Nur um Aufsehen zu machen, wählte er sich eine Felsenklippe zum Platz. Er sprengte die Klippe an einer gähen13 Bergseite weg und machte eine Höhle in den Berg, deren lotrechte Seiten er mit starken Lagermauern14 gegen den Einsturz sicherte. In diese Höhle setzte er ein großes, schönes Haus von gehauenen Steinen, legte über dem Gipfel des Hauses, gegen den Berg hinauf, seinen Garten in Terrassen an, usw.15

Kaum war alles fertig, so guckte er einsam oben zu den Fenstern heraus. Sein Haupt deckte keine Perücke mehr, sondern eine bürgerliche wollene Kappe. Sein seidener Schlafrock hatte sich in ein boyenes16 Wämsgen verwandelt, und seine Mahle waren nun sehr frugal17, ohne lachende Gäste.

Sonst fuhr er in seiner prächtigen Equipage18 nach Frankfurt in die Messe. Jetzt aber brauchte er weder dahin zu fahren noch zu gehen; denn er hatte nichts mehr da zu tun. Er starb; sein Haus wurde verkauft, und seine Kinder darben.

Wenn wir diese Erfahrung genau untersuchen, so war nicht die Üppigkeit, sondern die Pracht die Ursache des Ruins dieses Mannes. – Ein anderer junger Mensch, der die Handlung erlernt hatte, erbte 20 000 Taler. Dazu heiratete er ein reiches Mädchen, deren Eltern noch beide lebten. Nun wollte er eine Manufaktur anfangen. Er machte sich also einen Plan zu einem Wohnhause, in welchem er zugleich seine Manufaktur betreiben könnte. Er fing an, den Plan auszuführen; das Haus wurde prächtig errichtet. Als es fertig war, da war auch der Bauherr fertig: denn sein Vermögen war dahin. Auch hier war die Liebe zur Pracht und nicht die Üppigkeit Ursache am Verderben.


2. Ruin durch Luxus


Eben so weiß ich einen Ort, wo die Üppigkeit fast allgemein herrscht. Hier ist freilich der Geist des Volkes kaufmännisch. Ein jeder möchte gern handeln; allein der ganze Gewerbestand ist noch viel zu weit zurück. Selten erhebt sich der größte Geist über die Grenzen eines ziemlich großen Krämers19, und das Handelsgetriebe ist mehr einem jüdischen Schachern20 als einer wahren Handelschaft21 ähnlich.

Mehr als zehn Familien habe ich an diesem Ort gekannt, die der Luxus von ihrer kaum erstiegenen Höhe allgewaltig herunterstürzte. Der Gang dieser Leute ist so beschaffen. Gesetzt, ein junger Mann heiratet. Hat er etwas Vermögen, so glüht ihm der Kaufmann vor seiner Seele. Nun fängt er an, nach seiner Art mit Macht zu wirken. Der eine beginnt eine Bierbrauerei, der andere brennt Branntwein, ein Dritter handelt mit Vieh (denn der Ort ist ländlich), der Vierte wird ein Krämer, und so fort. Anfänglich wirken diese Leute mit großer Tätigkeit, und in kurzer Zeit steigt ihr Handelskapital auf ein paar tausend Taler.

Jetzt aber übermannt sie schon die Wollust; und der Trieb, sich gütlich zu tun, fängt an mitzuwirken. Sie legen sich Rhein- und Moselweine in den Keller; damit trinken sie sich nun mit ihren Freunden satt. Ihr Tisch ist der delikateste der Welt. Durch diese Lebensart erschlafft bald die Handels-Energie. Ehe sie sich recht umgesehen, sind sie arm. Dem allem ungeachtet sieht man dort nirgends Pracht. Die Häuser sind altfränkisch und bürgerlich; die Kleider sind nicht prächtiger als gewöhnlich, aber weicher, wollüstiger22 und feiner.


III. Definitionsversuch


Ebenso könnte ich auch noch (wenn ich es für nötig hielte) Beispiele anführen von Erwerbern, die in einem beständigen Luxus fortleben, ohne eben darum gleich arm zu werden. Ich folgere also aus diesen Bemerkungen folgende, wie mir deucht, ganz richtige Erklärungen.

Die Pracht ist: wenn ein Erwerber nicht bloß seine Befriedigungsmittel nach der Regel des Nötigen und Nützlichen, sondern vielmehr zu dem Endzweck wählt, für reich, vornehm und als ein geschmackvoller Mann angesehen zu werden.

Der Luxus ist: wenn ein Erwerber seine Befriedigungsmittel mehr den Reizen seiner Sinnlichkeit gemäß wählt, ohne sonderliche Rücksicht auf das Nötige und Nützliche zu nehmen.


IV. Stufen und Formen von Pracht und Luxus


Oben schon habe ich gesagt, daß der Hochmut die Pracht und die Wollust den Luxus erzeuge. Allein, das ist nicht genug, um die Sache in ihr wahres Licht zu setzen. Nicht nur die Grade der Pracht und des Luxus sind verschieden, sondern auch die Richtungen sind höchst mannigfaltig, welche beide im gemeinen Leben und in den Gewerben zu nehmen pflegen. Daher entstehen dann auch höchst verschiedene Wirkungen.

Ich will sowohl von den Graden als auch von den Richtungen der Pracht und des Luxus Beispiele geben, damit ich hernach die Wahrheit desto besser außer allen Zweifel setzen könne.


1. Pracht bei Vermögen


Ein gewisser Handelsmann besaß ein großes, prächtiges Haus. Es fand sich überall solide und ansehnlich ausgearbeitet. Die Zimmer waren mit schweren Stoffen tapeziert und alle Möbel kostbar: zwar nicht in die Augen fallend, aber teuer. Er und seine Frau kleideten sich nicht nach der neuesten, aber auch nicht nach der ältesten Mode, sondern recht bequem23, um unbemerkt durch dieses Leben fortzukommen.

Betrachtete man aber ihre Kleider genau, so waren sie äußerst kostbar; und ich kann sagen, daß der Halsschmuck der Frau schwerlich unter etlichen tausend Taler gekauft wurde. Jetzt muß ein jeder denken, der Mann trieb doch bei dem allem eine ungemeine Pracht! Ich behaupte: nein, er tat es nicht. Denn er besaß über eine Million Taler an Vermögen.


2. Pracht ohne Vermögen


Wieder ein anderer besaß ein gemeines24, aber hübsch gebautes Bürgerhaus. Von weitem sah es aus, als wäre es von Quadersteinen gebaut. Alles war nämlich so überfirnißt, daß es das Ansehen kostbarer Sachen hatte. Aber im Grunde war es gemeines Holz. Überall, wo man hinsah, war etwas Glänzendes. Alles war nach der Mode eingerichtet. Er und seine Frau kleideten sich nach dem neuesten Geschmack. Alles war schön – aber nur auf der Außenseite. Sein ganzer Aufwand betrug gewiß nicht so viel, als die Interessen25 des Aufwandes des vorigen ausmachte. Und doch kam er nach fünf bis sechs Jahren in den Bankrott.

Dieser Mann trieb eigentlich keinen Staat. Im Grunde aber war sein Prachtaufwand doch ungemein viel größer als der Aufwand des Vorigen. Denn er war der Sohn eines Pfarrers und ohne Vermögen, und seine Frau desgleichen. Er hatte die Handelswissenschaft gelernt, fing einen Weinhandel ohne Geld an und verdarb.


3. Pracht und Einkommen


Aus diesen wie auch aus vielen anderen Beispielen ist klar, daß der Grad des Prachtaufwandes beziehend ist und daß er sich verhalte wie das Einkommen. Ein Mann, der ein großes Vermögen hat, macht einen sehr mittelmäßigen Aufwand in Ansehung seines Einkommens. Er wird daher immer reicher. Dahingegen geht ein anderer zu Grunde, der lange nicht so prächtig lebt, weil sein Aufwand für sein Einkommen nun doch zu groß ist.

Hieraus erkennt man, daß der Prachtaufwand dem Erwerber nicht eher schädlich wird, bis er die Quelle des jährlichen Gewinnes, wodurch die Familie wohlbehalten bleibt, mehr oder weniger schwächt.


4. Pracht und Erwerbssinn


Es kommt also hier auf zwei Triebe des Hauswirts an. Der erste ist, sich und seine Kinder glücklich zu machen. Der andere heißt ihn, Pracht zu treiben. Ist der erste Trieb stärker als der letzte, so wird nie die Pracht die Grenzen übersteigen. Ist aber der letzte Trieb der stärkste, so wird die Familie früher oder später verderben.

Hier liegt der Grund des Prognostikons26 der Kaufleute. Wenn die Kaufleute Gelegenheit haben, ein Handelshaus von nahem zu beobachten, so können sie fast mit Gewißheit die Jahre bestimmen, wie lange es sich noch halten werde. Sehen sie, daß ein Mann einen höheren Grad der Aufmerksamkeit auf die Pracht verwendet als auf seine Handlung und Gewerbe, so weissagen sie ihm seinen Fall und entziehen ihm den Kredit, je nachdem sie denselben näher oder entfernter vermuten. Dieses beschleunigt dann noch vollends seinen Untergang.

Es ist also ausgemacht, daß auch die Zeit der Blüte eines Hauses in umgekehrtem Verhältnis mit dem Grad des Prachtaufwandes stehe. Je geringer der Grad dieses Aufwandes ist, desto länger dauert die Glückseligkeit27 einer Familie – wenn anders kein zufälliges Unglück die Familie verdirbt. Im Gegenteil: je höher der Grad der Pracht steigt, desto kürzer ist die Zeit des Wohlstandes. Alles, was ich hier von der Pracht gesagt habe, läßt sich in allem Betracht auch auf den Luxus anwenden.


V. Zielrichtungen von Pracht und Luxus


Nicht bloß von Seiten des Grades sind die Pracht und der Luxus merkwürdig, sondern eben so sehr in Ansehung ihrer Richtung.

Der eine treibt vorzüglich Pracht im Bauen, der andere in Möbeln, der Dritte in den Kleidern, der Vierte in Gärten, usw. Eben so treibt der eine den Luxus im Essen, der andere in kostbaren Weinen, der Dritte in Ausschweifungen mit Tanzen, Bällen, Schauspielen28 und mit dem weiblichen Geschlechte, der Vierte in anderen Ergötzlichkeiten, usw., je nachdem einer einen individuellen Geschmack hat.

Besonders aber wirkt hier die allgewaltige Mode29 mit unwiderstehlicher Kraft. Sie regiert den einzelnen Geschmack eines jeden Erwerbers und leitet ihn je nach seiner individuellen Lage zu den allgemeinen Prachtgegenständen der Nation.

Beispielsweise wird eine gewisse Gattung des Kopfputzes30 Mode. Anfänglich ist sie ein Unterscheidungszeichen der vornehmeren Stände. Nach und nach bringt es der emporstrebende Geist der anderen Stände auch dahin, daß die Mode allgemeiner wird. Nun ist sie kein Unterscheidungszeichen mehr. Im Gegenteil: sie wird nun Wohlstand.31 Die vornehmere Frau schämt sich jetzt, einen an und für sich selbst wohlfeileren oder auch sittsameren Kopfputz zu tragen, weil sie dadurch aller Augen auf sich ziehen und verächtlich werden würde. So tyrannisch ist die Mode, daß sie auch die rechtschaffenden Menschen endlich unter ihr Joch beugt, und diese ihr also wider Willen und Dank fröhnen müssen.

Hieraus folgt nun der sehr wichtige Grundsatz: Je geschwinder sich der Modegeist in seiner Sphäre32 herumwälzt, desto schleuniger ist das Steigen und Fallen der Familien und im Gegenteile. Sind nun überdas noch hier und da Erwerber, die durch ihre Liebe zur Pracht das Rad der Mode in noch feurigeren Schwung bringen, so ruinieren sie sich noch geschwinder und werden also ein trauriges Opfer dieser feindseligen Göttin.


VI. Allgemeiner wirtschaftspolitischer Grundsatz


Aus diesem allem ziehe ich nun folgende, meinem Bedünken nach sehr fruchtbare Wahrheit: Wer den Geist der Industrie33 und der Gewerbsamkeit so zu leiten weiß, daß er durchgehends zur Pracht und zum Luxus die Oberhand erhält und zugleich Gewalt über die Mode bekommen kann, der hat ein mächtiges Mittel in der Hand, den Staat glücklich zu machen. Ich mußte mir diesen Grundsatz hier auszeichnen34 und zur Hand legen, damit ich ihn hernach desto füglicher und nützlicher brauchen könnte.

Das, was ich bisher abgehandelt habe, wird nun die eigentliche Beschaffenheit der Pracht und des Luxus in ein hinlängliches Licht setzen. Daher gehe ich nun zum zweiten Teil über.


B. Wirkungen von Pracht und Luxus


Oben gedachte ich des Aufsteigens und Fallens der Familien, daß es nämlich in seiner Geschwindigkeit der rascheren und langsameren Umwälzung der Mode-Sphäre gleich sei. Dieses Aufsteigen und Fallen ist so äußerst merkwürdig wegen seiner einzelnen und allgemeinen Wirkungen, daß man sich nicht genug verwundern kann, warum die Lehrer der Staatswirtschaft wenig oder gar nichts davon sagen; geschweige, daß sie auf diese Beobachtung wichtige und lehrreiche Schlüsse bauen. Ich will also hier etliche Bemerkungen über diese Materie machen und sie dann zu meinem Zweck anwenden.


I. Entwicklungsgang der Völker


Es ist bekannt, daß einzelne Königreiche, Völker und Staaten einen gewissen Kreis durchlaufen. Eine Nation ist erstlich wild: Nach und nach wird sie nomadisch35 oder, wie es ihre Richtung mit sich bringt, bäurisch. Dann wird sie im Anblick der Morgenröte ihres Glückes enthusiastisch36 sowohl in Bezug auf die Religion, als auch auf ihre Gewerbe und den Geistesdrang, um nun groß und mächtig zu werden.37

Jetzt ist eigentlich ihre glücklichste Zeit. Allmählich erwacht die aufgeklärte Vernunft38; der Gang des Volkes wird philosophisch39; die Gewerbe verfeinern sich, und nun fängt auch die Kaufmannschaft an zu blühen. Der hieraus entspringende allgemeine Wohlstand schwächt die Nahrungssorgen und erweckt den Trieb zum hohen Geschmack.

Nun werden die Vergnügungen geistiger und feiner, und damit auch Herz und Geist empfindsamer und schwächer. Die Vergnügungen werden also zur unentbehrlichen Nahrung des Geistes. Die Stimme der Religion, welche nur solche Ergötzlichkeiten erlaubt, welche die Seele zum Schwunge über alles Irdische fähiger machen,40 wird altfränkisch41 und verhaßt, weil sie dem hoch verfeinerten Geschlechte das Angenehmste raubt.

Die Schwester Vernunft will indessen dem Bruder Herzen zu Gefallen leben. Daher fängt sie an, mit strenger Wahrheitsliebe (wie sie vorgibt) die Religion zu untersuchen. Zur größten Freude findet sie keinen Grund und Boden mehr im Religionssystem42. Denn sie hat das Gesicht verloren, oder ist doch myops43 geworden, ohne daß sie es weiß.

Jetzt reißt die Macht des Zweifels und des Unglaubens wie ein Strom alle Dämme durch. Der Geist der falschen Freiheit44 herrscht allenthalben; die Üppigkeit entnervt alles. Kein Einkommen reicht dem Aufwand mehr zu. Auf diese Weise sinkt die Nation zertrümmert in ihr Nichts zurück.

So ist der allgemeine Gang der Menschheit beschaffen. Dazu kommen aber bei einzelnen Nationen noch Privatumstände und besondere Absichten der hohen Vorsehung,45 so daß das Aufsteigen und Fallen der Nationen mehr oder weniger von jenem allgemeinen Plane abweicht. Wenn man aus diesem Gesichtspunkt die Geschichte studiert, so wird man Wunder finden und ungemein viel Nützliches in Absicht auf die Regierungs-Kunst und Staatswirtschaft erlernen können.

Nur eine wichtige Anmerkung will ich hier an den Weg legen: wer sie fassen mag, der fasse sie! Da der Regent die Direktion46 des Steigens und Fallens einer Nation in der Hand hat: wieviel Gottähnliches kann er da wirken? Aber auch: wieviel Böses stiften? Was soll man also dem jungen Prinzen lehren? Worin soll man ihn unterrichten? Wem gellen die Ohren nicht bei diesen Fragen?47

Der ganze Umlauf einer Nation zerfällt also in vier Hauptzeitläufe. Der erste ist: Barbarei, der zweite: Enthusiasmus, der dritte kaufmännisch und philosophisch und der vierte: üppig und ungläubig. Darauf folgt Zertrümmerung und wieder Barbarei.


II. Entwicklungsgang der Familien


Eben diesen Gang gehen auch die einzelnen Familien; nur ist hier die Zeit kürzer. Im folgenden will ich nur einige merkwürdige Beispiele anführen, die ich aus der Nähe erlebt habe. Dadurch werde ich mich in den Stand setzen, meinen Zweck desto sicherer zu erreichen.


1. Bildungsfeindliche Umgebung


Ein gewisser Handwerksmann bemerkte einen Handelszweig, den er neben seinem Handwerk betreiben konnte. Sein Trieb war, wohlhabender zu werden. Er fing an zu wirken und war glücklich. Bald wurde er ein wohlhabender Handwerksmann.

Weil es ihm so weit gelungen war, so wünschte er nun auch Kaufmann zu werden.48 Er wandte also sein ganzes Vermögen auf jenen Handelszweig an und hörte auf, im Handwerk zu arbeiten; er ward nun Kaufmann. Auch dieses war ihm nicht genug: er wollte nun auch gern ein reicher Kaufmann und der erste seiner Gegend sein. Er strebte seine Riesenkräfte an diesen Vorsatz und überwand.49 Er wurde der reichste Kaufmann in seiner Gegend.

Wenn ich den Charakter dieses Mannes durchdenke, so wie er sich in allen seinen Handlungen äußerte, so finde ich, daß auf einer Seite eine wohlüberlegte und ordentliche Sparsamkeit und auf der anderen eine unversöhnliche Feindschaft gegen Pracht und Luxus die Triebfedern seiner Handlungen war. Diese Feindschaft rührte aus vielfältigen Beobachtungen her, die er gemacht und gesehen hatte: wie sehr Pracht und Luxus der Industrie50 und ihren nützlichen Folgen im Wege stehen. Er fand also, daß ein Mann, der reich werden und empor kommen wollte, beide Stücke ganz vermeiden müsse.

Diese Gesinnung hatte nun auch Einfluß auf seine Kinderzucht. Er wohnte auf dem Lande. Wohl sah er ein, daß seine Söhne das Schreiben, Lesen und Rechnen lernen müßten. Daher hielt er ihnen einen ordentlichen gemeinen Schulmeister51 der aber ja nicht gelehrt sein durfte, damit seine Schüler nicht etwa einen hohen Ton annehmen möchten. Viel weniger ließ er seine Söhne reisen. Sie blieben also im väterlichen Hause und vom Gedränge der Mode, von Pracht und Luxus entfernt.

Die Folgen davon waren zweifelhaft. Er lebte so lange, bis seine Enkel anfingen, groß zu werden. Der Geist seiner Familie war eiserner Drang nach Reichtümern. Der alte Greis starb; seine Söhne und Enkel blieben, was sie waren; aber zugleich dumm und stolz. Das erste rührte von der Erziehung und das zweite vom Reichtum her.

Die Enkel kamen nun mehr unter die Leute. Sie fanden sich in der Aufklärung52 und Verfeinerung ein Jahrhundert zurück. Das ärgerte sie. Sie wollten sich nun mit Gewalt anderen gleich bilden. Daher fingen sie an, ohne Wahl und Einsicht prächtig und üppig zu werden. Sie entwickelten sich zu barbarischen, verhaßten Wollüstlern.53 Die Familie fing an, zu Grunde zu gehen, nachdem sie kaum achtzig Jahre von ihrem ersten Ursprung an bestanden hatte.

Hier muß also ein Fehler begangen worden sein, und diesen zu finden ist nicht schwer. Woher kommt der Verfall dieser Familie? Daher, daß sie ohne Wahl und Einsicht prächtig und üppig wird; daß sie nicht mit ihrem Einkommen zu Rate geht, und daß eben durch ihre Üppigkeit alle Energie zu erwerben erschlafft. Pracht und Luxus sind also die Ursachen ihres Falles.

Woher aber kommen hier diese zwei Feinde des Wohlstandes? Sie entspringen aus der plötzlichen Entdeckung, daß die guten Leute zu Hause zwar große und mächtige Herren sind, daß sie aber nicht das mindeste Ansehen haben, so bald sie in die große Welt kommen. Anstatt nun in der Verbesserung ihres rohen Charakters die Verfeinerung und Erhöhung zu suchen, verfallen sie auf die äußere Schale. Sie machen die Pracht und den Luxus der Vornehmen ohne Wahl und Einsicht nach.

Jetzt aber ist der Fehler entdeckt! Er lag in der Erziehungsmethode des Stifters der Familie. Hätte er seinen Kindern die Wissenschaften beibringen lassen, die dem Handelsmanne nötig sind; hätte er sie hernach in ordentliche Handelsplätze geschickt und sie einige Jahre vernünftigen braven Leuten anvertraut, so hätten sie Weltkenntnisse erlangt und hätten mithin auch ihren Stand und Haushaltung ordnen können.

Eine zu große und strenge Entfernung von der Welt setzt der Seele zu enge Schranken. Sie sprengt diese mit aller Gewalt, wenn sie einmal frei und sich selbst überlassen wird. Sie bricht durch und zertrümmert alle ihre Glückseligkeit.54


2. Falsche Bildungsinhalte


Ein anderer Handwerksmann ging den nämlichen Gang wie jener. Er wurde ein großer, reicher Kaufmann. Auch er war sparsam und ein Feind der Pracht und der Üppigkeit.

Doch dieser wollte es besser treffen. Er schickte seine zwei Söhne auf eine bekannte Verfeinerungsschule, wo Jünglinge und Jungfrauen die französische Sprache und Lebensart lernen.55 Es ist wahr: verfeinert kamen die beiden jungen Herren zurück. Sie wußten artig zu leben, konnten jedem anständig begegnen und waren auch standesgemäß gekleidet. Überhaupt traten sie als Jünglinge auf, die jeder gern um sich sah.

Indessen starb ihr Vater. Die jungen Leute traten die Handlung in Kompanie56 an und fanden nun, daß sie sehr reich waren. Nichts deuchte erlaubter zu sein, als nun auch einen ihrem Reichtum gemäßen Aufwand zu machen. Daher rissen sie das väterliche Haus ein und bauten ein zweckmäßigeres und prächtigeres dahin. Ihre Kleidung und ihr Tisch stieg auch gewaltig. Und nun, wenn man einmal den Schwung zum Steigen genommen hat, so kann man wohl nicht mehr Maß und Ziel halten. Die beiden Herren stiegen und stiegen, bis sie endlich fanden, daß es mit aller Herrlichkeit ein Ende hatte. Sie waren und wurden arm.

Hier war der Fehler ebenfalls vom Vater begangen worden. Es ist nicht genug, bloß Lebensart und Französisch zu lernen. Entscheidend ist die Erziehung zur Industrie57 und zum guten Gewerbegange, den vernünftige und gesegnete Handelshäuser zu gehen pflegen. In einem solchen Hause vier bis sechs Jahre zu dienen, ist zur künftigen Lebensordnung das zweckgemäßeste Mittel.58


3. Standesgemäße Lebensumstände


Ein anderer rechtschaffener Jüngling, der auch ein Handwerk gelernt hatte, heiratete die Tochter eines reichen Kaufmanns. Er fing an zu handeln und war sehr glücklich. Ich muß aber zugleich mit anführen, daß dieser Mann ein Freund der Religion und der guten Sitten war.

Er lebte auch gar nicht prächtig und viel weniger üppig. Sein ganzer Wandel war Anstand und Furcht59 einflößend. Seine Kinder erzog er vernünftig und seinem Stande gemäß. Da er ebenfalls auf dem Lande wohnte, so nahm er einen frommen, rechtschaffenden Kandidaten60 für seine Kinder. Sie wurden also ländlich, aber edel erzogen.

Die Kinder wurden groß, heirateten ihrem Stande gemäß und wurden alle der Reihe nach vortreffliche Leute, die ihre Kinder eben so erziehen, wie sie erzogen worden sind. Freilich entdeckt man einen langsamen Fortgang in der Pracht. Aber ihr Vermögen wächst doch geschwinder; mithin verspricht die Familie eine lange glückliche Dauer.

Hier entdecken wir also unvermerkt eine wichtige Quelle dauerhafter Glückseligkeit. Die beiden ersten Familienstifter waren grobe, unwissende und ungesittete Leute. Eigentlich hob sie nur der Drang hoch, reich zu werden. Sie verstanden also nicht, wie und worauf man den Wohlstand bauen müsse. Dahingegen war der Letztere ein vernünftiger, gesitteter und wohlerzogener Mann. Denn die Dorfschulen seines Vaterlandes sind von jeher trefflich, und daher die ganze Nation sehr edel verfeinert.61


4. Mißachtung der Bildung


Ich habe nun drei Beispiele von Kaufleuten oder vielmehr von Manufakturanten62 angeführt. Jetzt will ich auch eines von einem Landwirt erzählen, welches uns vieles Licht in die Sache geben wird.

a. Hufschmied schwingt sich empor

In einer wüsten und wilden Gegend streicht eine lange Berghöhe etliche Stunden weit fort, die nichts hervorbrachte als Heide und verkroppte63 Birkensträucher. Hin und wieder lag an den Seiten derselben eine ärmliche Bauernhütte. Diese Familien lebten elend.

Eben über diese Höhe hin ging eine sehr gangbare Landstraße. An einem gewissen Ort stieg eine eben so gangbare Straße den Berg hinauf, wo sie dann die erste durchkreuzte und weiter fort in entferntere Länder ging. Gerade da, wo diese Wege ineinander liefen, schieden sich auch zweier Herren Länder. Diesseits des Weges war es dem einen Herrn und jenseits einem anderen.64

Ein gewisser Hufschmied hatte an dem Scheideweg ein Häuschen. Er erwartete da einen guten Verdienst von den Fuhrleuten, die dort hin und her fuhren. Dies gelang ihm auch. Er ernährte sich ordentlich, wurde aber nicht reich, weil es ihm an ökonomischem Genie65 fehlte.

Nun hatte er einen Sohn, welcher sich ins Haus verheiratete. Diesen Mann habe ich lange Jahre gekannt und seinen sonderbaren66 Charakter von allen Seiten beobachten können. So bald er die Haushaltung antrat, fing er an, sich stark auf die Wirtschaft zu legen. Er baute einen großen Pferdestall, mietete sich einen Knecht, der das Schmiedehandwerk verstand; einen anderen, der ein guter Bierbrauer war, und wieder einen anderen Knecht, der Branntwein brennen konnte sowie noch einen, der das Backen verstand. Alle diese Leute wußte er durch sein ernsthaftes Beispiel so zu leiten, daß alle ihre Verrichtungen mit militärischer Genauigkeit vonstatten gingen.

Diese Anstalten waren so wohl gewählt, daß der Mann anfing, ungemein viele Waren abzusetzen. Bier, Brot und Branntwein gingen dergestalt ab, daß er nicht genug machen konnte. Die Menge an Fuhrleuten, die häufig bei ihm herbergten und fütterten, und die bald ledig67, bald halbbeladen oder auch ganz befrachtet vorbeifuhren, machten ihm den Absatz und den Transport wohlfeil und leicht.68 Zugleich hatte er den großen und nicht genug erkannten nützlichen Grundsatz: gegen einen geringen Gewinn, aber oft umzuschlagen.69

Seine Landwirtschaft war ebenfalls ausnehmend glücklich. Denn der häufige Pferdedünger war ihm auf seinen kalten Heidefeldern sehr dienlich. Daher kam es auch, daß alle seine Äcker selbst mitten im Winter grünten. Er erzielte doppelt und dreifach mehr als seine Nachbarn. Mit einem Worte: dieser Mann wußte alle Vorteile aus seiner Lage zu ziehen. Er wurde daher bald ein schwer reicher Mann.

Als ich ihn kennenlernte, hatte er schon dreißig Jahre hausgehalten. Seine Kinder waren groß und alle seine Umstände in blühendstem Zustande. Ich war Handlungsbedienter, und auf meinen vielfältigen Reisen hielt ich mich oft Geschäfte halber wochenlang bei ihm auf.70 Er war ein Todfeind der Pracht und des Luxus. Dieser Haß ging so weit, daß er es kaum über das Herz bringen konnte, Leute zu beherbergen, die über den gemeinen Stand gekleidet waren.

Daher kam es auch, daß er mich kaum wiedergrüßte, als ich das erste Mal in sein Haus trat.71 Indessen war er ein sehr gescheiter Mann und in der Tat ein großer Menschenkenner. Als er fand, daß ich mich mit Freuden zwischen die Fuhrleute setzte und mit ihren Traktamenten72 zufrieden war, so fing er nach und nach an, freundlich und vertraut gegen mich zu werden. Auch würdigte er mich zuweilen, an seinem Tische zu speisen; bis ich endlich nach und nach die Ehre hatte, ganz sein Vertrauter zu werden.

Er selbst war ganz bäurisch gekleidet, ohne das geringste Merkmal eines reichen Mannes an sich zu haben. Aber in der Tat besaß er eine ausgebreitete Belesenheit, aber nicht nach der Art des gemeinen Mannes. Er räsonierte73 sehr vernünftig und aufgeklärt.74 Alles, was er schrieb, war ein meisterhafter deutscher Stil. In seinem ganzen Betragen war er ernst, still, furchtbar und sehr geheim.75 Bei dem allem aber war er redlich und politisch ohne Falsch.76

b. Erziehung seiner Kinder

Bis dahin muß uns dieser Mann sehr ehrwürdig sein. Aber mit seiner Kinderzucht verdarb er alles. Er war ebenfalls Familienstifter. Sein Zweck ging natürlich dahin, seine Kinder emporzubringen und etwas Rechtes aus ihnen zu machen. Nun schlug er aber einen ganz verkehrten Weg ein, um zu diesem Zwecke zu gelangen.

Damit seine Kinder von einer höheren Lebensart, von Pracht und Luxus zurückgehalten würden, ließ er sie von Jugend auf am Gesindetische77 speisen und Gesindearbeit tun. Überhaupt machte er nicht den geringsten Unterschied zwischen Knechten und Mägden, Söhnen und Töchtern. Er schickte sie in die benachbarte Dorfschule, wo sie eben so wie alle anderen Bauernkinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernten, sonst aber in keiner Rücksicht besser und gesitteter wurden.78

So wuchsen sie heran. Der Vater beobachtete sie nun von allen Seiten. Er erwartete, daß sie aufgeklärte,79 nicht nach gemeinem Schlage gebildete Köpfe sein sollten. Von allem dem fand er aber keine Spur. Er ärgerte sich, sagte: „Ihr seid Dummköpfe“ und warf ihnen immer sein eigenes Beispiel vor.

Er blieb also von seinen Kindern entfernt und ließ sie gehen. Daher kam es nun, daß sie den bittersten Haß gegen ihn faßten. Denn sie sahen, daß ihr reicher Vater, der sie alle glücklich machen könnte, sie verachtete und vernachlässigte. Sie gingen also ihren eigenen Gang fort. Ihres Vaters Geld machte sie sorglos und faul. Daher entstand die böse Folge, daß die Söhne an das Saufen und die Mädchen auf liederliche Wege gerieten. Sie zerstäubten nach und nach und sanken wieder in ihr urväterliches Chaos zurück. Hier fing also der Flor80 der Familie mit einem Manne an und hörte auch wieder mit ihm auf.


c. Mißratene Kinder großer Männer


Mir deucht, diese Geschichte könnte uns auch das Rätsel erklären, warum große Männer so oft ganz ungeratene Kinder haben. Sie erwarten nämlich geniereiche Köpfe, wie sie selbst sind. Wenn sie die nicht finden, so achten sie es auch nicht der Mühe wert, Aufmerksamkeit auf ihre Erziehung zu verwenden. Wenigstens kann diese Bemerkung nebst anderen zugleich wahr sein.


III. Ursachen des Abstiegs durch Pracht und Luxus


Diese Beobachtungen sind nun zu meinem Zwecke hinlänglich: nämlich zu zeigen, welche Wirkungen die Pracht und der Luxus auf das Steigen und Fallen einzelner Familien und also auch auf ihr Glück haben. Ich wählte mit Fleiß solche Beispiele, wo der Familienstifter – jeder seinem Charakter gemäß – Pracht und Luxus zu entfernen versuchten, um zugleich auch Stoff zu der besten Auswahl der Mittel gegen jene Übel zur Hand zu haben.


1. Falsche Einschätzung der Vermögenslage


So viel ist nun einmal gewiß, daß Pracht und Luxus (je nach ihren höheren oder geringeren Grade) das Glück der Familien früher oder später untergraben und zu Grunde richten. Wir wollen auch den Fall setzen, der Prachtaufwand sei mäßig und hindere den jährlichen Anwachs des Vermögens nicht. Dann ist doch sehr leicht möglich, daß diese geringe Pracht dem allem ungeachtet die Ursache eines baldigen Ruins der Familie wird! Niemand weiß das besser, als kluge Kaufleute. Sie haben einen Grundsatz, der hierher gehört und der von allen Ständen gilt. Dieser Grundsatz ist höchst wichtig. Er besagt: der Aufwand eines Hausvaters muß jederzeit so beschaffen sein, daß die Kinder, wenn sie jetzt ihr elterliches Vermögen teilten, ein jedes von dem Gewinn seines Teiles den nämlichen Aufwand machen könnte.

Freilich geht das einen anfangenden Erwerber nichts an, der noch kein Vermögen unter seinen Kindern zu verteilen hat. Allein, dieser soll sich auch ganz auf die Befriedigung seiner wesentlichen Bedürfnisse beschränken.81 Für einen ordentlich bemittelten Mann aber ist obiger Satz ein unaussprechlich wichtiges Gesetz.

Wir wollen den Fall stellen, ein Mann besitze 10 000 Taler an Vermögen und er habe fünf Kinder. Nun soll er mit seinem Kapital jährlich 10 Prozent gewinnen. Folglich hat er jährlich 1 000 Taler zu verzehren. Indessen will er doch als vernünftiger Mann sein Vermögen vermehren. Er darf also nur 600 Taler verzehren, um die übrigen 400 Taler alle Jahre dem Kapitale zuschlagen zu können.

Jetzt glaubt der gute Mann weislich zu handeln. Und doch kann es sein, daß er bei dem allem seine Familie zum Unglück reif macht! Gesetzt, er erziehe seine Kinder sehr wohl, aber in einem etwas hohen Tone, der kaum merklich zu sein braucht. Dadurch versetzt er sie in eine Klasse von Menschen, die Aufwand zu machen gewohnt sind. Ja, sie sehen gar alles, was sie haben, als eine Notdurft82 an, ohne darüber nachzudenken. Selbst bei dem heiligsten Vorsatz, sparsam zu sein, werden die Kinder doch zu Verschwendern.

Die Folge läßt sich leicht einsehen. Denn die Moden verändern sich, und der Aufwand wächst allmählich mit den Jahren. Das Vermögen ist endlich auf 30 000 Taler gestiegen und mithin das jährliche Einkommen (wenn es recht glücklich geht) auf 3 000 Taler. Aber eben so ist auch die Pracht, der Luxus und die Notwendigkeit83 empor gekommen. Der eingeführte hohe Ton wirkt bei den erwachsenen Kindern mächtig. Sie sehen des Vaters Vermögen als groß an, träumen sich reiche Heiraten, und so weiter.

Jetzt stirbt der Vater. Die Kinder teilen, und jedes bekommt 6 000 Taler. Die Gelegenheit zu erwerben mindert sich aber auch mit dem Kapital. Nun ist schon der Aufwand weit jenseits der Grenzen des Einkommens gestiegen! Man heiratet und erheirate eben so viel. Das Handlungskapital beträgt nun 12 000 Taler, aber der gewohnte Prachtaufwand gleicht einem Gewinn aus einem Kapital von 30 000 Taler. Da muß also alles den Krebsgang gehen! Auf diese Weise schreiten die mehrsten braven Familien zu Grunde, ohne daß man recht weiß, wo der Fehler steckt.


2. Übertriebene Entsagung


Es gibt hier eine glückliche Mittelstraße. Sie muß der Erwerber notwendig suchen und gehen, wenn er das Glück seiner Familie darauf gründen will. Aus vielen Erfahrungen weiß ich (und es ist auch aus den weiter oben angeführten Beispielen erwiesen), daß ein Hausvater seine Nachkommen in ein schleuniges Verderben stürzt, wenn er sich in seiner und der Seinigen Aufführung84 um ein halbes Jahrhundert zurücksetzt.

Er selbst setzt sich zwar über den Modedrang weg. Man hält ihn für einen Sonderling. Das schiert ihn jedoch nicht: er bekümmert sich nicht darum. Aber seine Kinder sind verloren und verdorben. Da hilft die Schutzwehr der Religion nicht. Denn die erwachsenen Söhne und Töchter haben eben dadurch einen Haß gegen die Religion gefaßt, weil sie zum Mittel dienen mußte, ihnen zu den Vergnügungen der Welt den Weg zu versperren – selbst zu den zulässigsten. Sie hassen den Vater wegen seiner – wie sie glauben – bizarren Grundsätze. Alles, was er tut, wird ihnen verhaßt. Seine Sparsamkeit ist ihnen Geiz, seine Eingezogenheit Frömmelei, seine Aufführung Grille, Eigensinn und Menschenfeindlichkeit.

Was geschieht nun? Sobald die Kinder erwachsen sind, heiraten sie; oder der Vater stirbt. Sie empfinden nun die süße Freiheit. Sämtliche Vergnügen der Welt sind ihnen neu: sie haben sie noch nie gekostet. Alle, auch die besten und weisesten Lehren des Vaters sind ihnen verhaßt. Sie können sich nicht mehr enthalten, und sie stürzen sich in den Strudel der Lüste, welche ihre ganze Glückseligkeit85 auf ewig zu Grunde richtet. So bringt die allzu strenge Eingezogenheit und Entfernung von der Welt hernach den allerverderblichsten Luxus hervor!


3. Erziehung zu Überfluß


Eben so sehr wird auf der anderen Seite gefehlt, wenn man die Kinder in Pracht und Luxus erzieht. Die menschliche Seele ist unersättlich. Sie wählt immer neue und, wenn sie kann, höhere Vergnügen. Darauf sollten die Eltern bei ihrem Aufwand immer Rücksicht nehmen.

Fängt man hoch an, so muß man gleich den Überschlag86 machen, daß die Kinder diese Höhe für ihre erste Stufe halten, und daß ihre Neigungen gewiß noch um ein Beträchtliches höher steigen werden. Wenn nun das Vermögen nicht unermeßlich ist, so wird es in Pracht und Luxus verschwendet. An die Enkel kommt nichts. Elender ist aber nichts zu denken, als Bettler von reichem Herkommen. Gemeiniglich werden sie die allerschlechtesten Menschen.


IV. Richtiger Mittelweg


Man sieht leicht ein, daß beide Klippen gefährlich sind. Viele Familien sind an der einen oder anderen gescheitert und werden noch scheitern. Aber hier nun den wahren Mittelweg zu finden, das ist die große Kunst! Ich will versuchen, ob ich ihn auszeichnen kann.


1. Standesbezogenheit von Pracht und Luxus


Wir können die Menschen oder Familien in vier Klassen87 teilen, deren jede ihre besondere Grenze des Aufwands und der Aufführung88 hat. Die erste betrifft den Bauernstand, die zweite den ordentlichen Bürger, die dritte die Gelehrten und Kaufleute sowie die vierte den Adel bis zum Fürsten hin.

Alle Erfahrungen bezeugen, daß jede dieser vier Klassen gleichsam ihre eigene Modesphäre hat. Doch grenzen sie genau zusammen, und gar oft laufen sie ineinander. Der vornehmste Bauer ist schon im Aufwande und in der Mode dem Bürger ziemlich ähnlich, der vornehmste Bürger dem Gelehrten und Kaufmanne, diese dem niedrigen Adel, usw. Dem ungeachtet sind dies nur einzelne Beispiele. Im Ganzen bleibt doch die eigentliche Klasse in ihrem eigenen Kreise.

Jede Klasse hat ihre eigene Pracht und ihren eigenen Luxus, welche die Familien zugrunde richten können. Mithin hat auch jede ihren eigenen Mittelweg, den sie gehen muß, wenn sie glücklich sein und bleiben will. Die Mode herrscht in allen vier Ständen. Sie bestimmt immer den Aufwand und die Lebensart, je nach dem Geiste und Charakter der Nation. Wer vorn an der Spitze der Mode läuft, der ist bald fertig. Wer zuhinterst nachschleicht, der erlebt Unglück an seinen Kindern. Folglich heißt es hier mit Recht: MEDIO TUTISSIMUS IBIS.89


2. Grundregel des Mittelweges


Der rechtschaffene Mann zeichnet sich gar nicht aus.90 Er kennt seinen Stand und was nötig ist, denselben zu behaupten. Sobald die Mode unter Seinesgleichen etwas notwendig gemacht hat, so folgt er dem allmählich. Er wandelt auf diese Weise unbemerkt seinen Gang fort, ohne die Verachtung der Menschen auf sich zu ziehen. Indessen tut er nichts mit dem Zwecke, sich vor anderen hervorzutun oder seinen Sinnen weiter zu schmeicheln, als dies zur Stärkung und Erhaltung seiner Leibes- und Seelenkräfte nützlich ist.

Wenn er bei dieser Gesinnung ein guter Erwerber ist, seine Kinder weder von den Menschen entfernt noch sie ohne Wahl und Einsicht dem Gewühle überläßt; sie indessen aber, so wie es der Stand mit sich bringt, in der Religion, in den Sitten und in den Wissenschaften unterrichten läßt, so wird er gewiß seinen Zweck erreichen. Er vermag so das Glück seiner Familie zu gründen, wenn ihm anders keine zufälligen Unglücksfälle, die ihn zu Grunde richten, im Wege stehen. Solche Unglücksfälle aber kann niemand vermeiden.

Dieser allgemeine Heischesatz91 läßt sich auf alle Stände anwenden. Ihn befolgt jedesmal derjenige, welcher die wahre Würde des Menschen kennt. Ihm ist es lächerlich, sich durch Pracht auszuzeichnen und darin einen Vorzug zu suchen. Er findet vielmehr die wahre Größe seines Standes, wenn er das Glück seiner Familie in eben diesem Stande (oder, wenn er sich mit Ehren zu einem höheren geschwungen hat, in diesen neuen Verhältnissen) dauerhaft zu gründen weiß. Bei allem diesem sollte er immer Liebe und Wohlwollen um sich her ausbreiten. Er muß denen, die hinter ihm sind, nachhelfen, so viel es seine Kräfte erlauben. Ihm obliegt es auch, durch eine weise und wohlgewählte Erziehungsmethode seinen Nachkommen eben diese Gesinnungen einzuflößen.


D. Wirkungen von Pracht und Luxus auf den Staat


Ich habe jetzt, wie ich glaube, hinlänglich erwiesen, daß die Pracht und der Luxus den einzelnen Familien in aller Rücksicht schädlich sind; und daß sich der frühere oder spätere Ruin genau so verhalte, wie der größere oder geringere Grad der Pracht und des Luxus, dem die Familien ergeben waren.

Nun kommt es also darauf an, daß ich die Folgen bestimme, welche Pracht und Luxus auf den ganzen Staat haben. Dieses war der Zweck meiner gegenwärtigen Abhandlung. Wenn ich im vorigen etwa zu weitläufig geschienen habe, so wird dieser Gedanken wegfallen, so bald man findet, daß jene Begriffe meinen ferneren Schlüssen zur Unterlage dienen mußten, um sie desto fester auf die Wahrheit gründen zu können.


II. Untergang des Staates durch Ruin der Familien und der Modehäufigkeit


Es ist ausgemacht, daß ein jeder Staat aus lauter einzelnen Familien zusammengesetzt ist. Eine jede ist Teil eines Ganzen. Wenn nun Pracht und Luxus unfehlbare Mittel sind, um eine einzelne Familie – das ist: einen Teil des Staates – früher oder später zu Grunde zu richten, so ist es unwidersprechlich wahr, daß der ganze Staat gerade in dem Verhältnisse seinem Verderben und Umsturz entgegeneile, in welchem Pracht und Luxus herrschen. Dies geschieht um so rascher, je mehr das Steigen und Fallen der Familien beschleunigt wird, und je größer die Anzahl der Familien ist, die sich durch dieses Übel zu Grunde richten.

Oben habe ich daran erinnert (und es ist eine allgemeine Erfahrung), daß die Mode in der Pracht und im Luxus herrsche. Je lebhafter nun die Mode wirkt, je schleuniger die Umwälzungen ihres Wirkungskreises sind (so daß am Ende jeden Augenblick eine neue Art des Prachtaufwandes und des Luxus eingeführt wird), desto allgemeiner werden solche Übel. Damit beschleunigt sich das Steigen und Fallen der Familien, und desto rascher eilt der Staat seinem Verderben entgegen.

Ich hoffe, diese beiden allgemeinen Sätze wird man mir zugeben. Geschieht dies aber, so habe ich gewonnen und alles, was ich noch sagen werde, ist so als gut erwiesen.


II. Vorgeblicher Nutzen von Luxus und Pracht


Die Erzeugungen, welche zur Pracht und zum Luxus dienen, sind entweder Landesprodukte oder sie kommen aus anderen Ländern vermittelst des Einfuhrhandels zu uns.


1. Ausländische Luxusgüter


Ich halte mich mit diesem letzteren Falle nicht lange auf. Denn es ist so allgemein bekannt und so in die Augen fallend, daß Pracht und Luxus, die mit ausländischen Gütern getrieben werden, in aller Hinsicht schädlich seien, daß ich es nicht der Mühe wert erachte, dabei zu verweilen. Der Fall, welcher Herr von Sonnenfels92 anführt: wenn wir nämlich in die Notwendigkeit versetzt wären, unmittelbar oder mittelbar unsere eigenen Produkte und Fabrikationen durch einen Tausch gegen fremde Prachtwaren umzuschlagen, ist äußerst selten und macht keine Ausnahme. Denn in diesem Falle ist es ja auch noch gar nicht ausgemacht, ob wir es auch nötig haben, die eingetauschten Prachtwaren selber zu brauchen. Ist es doch sehr wohl möglich, dieselbe vermittelst des Wiederausfuhr-Handels an andere Ausländer abzusetzen.


2. Inländische Luxusgüter


Ich schränke mich demnach auf die Frage ein: Ist es nützlich, bloß mit inländischen Produkten und Fabrikwaren Pracht und Luxus zu treiben? Wie ist es zu beurteilen, wenn sich nur wohlhabende Familien damit abgeben und diesen Aufwand machen?

a. Begründung des Nutzens

Man antwortet: „Ja, es ist nützlich!“ Die Gründe, womit man diesen Satz zu behaupten sucht, sind folgende.

Je mehr die Landwirtschaft in einem Lande blüht, desto fester ist die Wohlfahrt desselben gegründet.93
Je mehr Manufakturen, Fabriken und die Handlung in einem Land empor kommen, desto mehr wird jene Wohlfahrt, jenes Glück erhöht. –
Der Flor94 dieser drei Gewerbeklassen treibt die beschäftigte, nützliche Bevölkerung95 auf das höchste, und mit ihr die Glückseligkeit des Staates.96
Der Flor der Landwirtschaft beruht ganz auf dem ungehinderten und gewinnvollen Absatz ihrer Produkte.97
Die Blüte der Fabriken beruht ebenfalls auf diesem Absatz. Beiderlei Absatz wird durch die Handlung betrieben. Je mehr also die Handlung blüht, desto mehr muß auch die Landwirtschaft und Kunstwirtschaft98 blühen. –
Der Absatz sowohl der landwirtschaftlichen Güter als auch der Fabrikwaren beruht ganz allgemein auf der Verzehrung.99 Je größer und ausgebreiteter der Aufwand100 und die Verzehrung sind, desto größer ist jener doppelte Absatz,101 und mithin auch der Flor jener drei Gewerbeklassen.

Bis dahin ist alles richtig! Alle diese Schlüsse sind unzweifentlich wahr. Ob aber nun auch der daraus gefolgerte Schluß wahr sei, das ist eine andere Frage.

b. Prüfung des Schlußverfahrens

Man schließt hier so. Die Pracht und der Luxus vermehren den Aufwand und die Verzehrung ungemein. Das ist unstreitig. Nun ist aber oben bewiesen, daß Aufwand und Verzehrung102 die Quellen des Absatzes und mithin der Staatsglückseligkeit sind. Folglich müssen es Pracht und Luxus auch sein.

Hier sieht man ganz deutlich, wie wenig man sich auf die bloße Vernunft, sie mag auch noch so sehr mit Logik bewaffnet sein, verlassen könne; und wie nötig es sei, daß sie die Erfahrung immer an der Hand leite! Aus obigen ganz richtigen und sicheren Vordersätzen103 war es also sehr leicht möglich, einen Trugschluß zu folgern. Diese Möglichkeit leuchtet ein, sobald ich den verdeckten Syllogismus104 entwickle. Er heißt nämlich so:

— Obersatz: Aller Aufwand und Verzehrung vermehrt den Absatz und vermehrt also auch die allgemeine Glückseligkeit.

— Untersatz: Nun sind aber die Pracht und der Luxus nichts anderes als ein hoher Grad des Aufwandes und der Verzehrung.

— Schlußsatz: Folglich sind sie auch ein mächtiges Vermehrungsmittel der allgemeinen Glückseligkeit.

Hier ist nur ein Blick nötig, um einzusehen, daß der Obersatz ganz falsch ist. Denn wo steht es geschrieben und welche Erfahrung hat es bewiesen, daß alle Gattungen, daß alle Arten des Absatzes die allgemeine Glückseligkeit vermehren? Noch weniger ist es erwiesen, daß alle Gattungen des Aufwandes und der Verzehrung unter diejenigen Arten des Absatzes gehören, die den Staat blühend machen. Laßt uns daher den Schluß folgender Gestalt umbilden und den Obersatz in eine Wahrheit verwandeln, so wird der Fehler ganz nackend dastehen.

— Obersatz: Einige Gattungen des Aufwands und der Verzehrung vermehren den nützlichen Absatz und mit ihm die Staatsglückseligkeit.

Das ist vollkommen wahr. Aber nun:

— Die Pracht und der Luxus gehören zu jenen Gattungen des Aufwands und der Verzehrung, die den Staat glücklich machen.

Das ist eine große Frage! Deren Grund oder Ungrund habe ich noch zu erörtern.


III. Ausbreitung des Luxuskonsums


Ich muß nämlich zeigen, welche Arten des Aufwands und der Verzehrung die glücklichsten, und welche die unglücklichsten Folgen hervorbringen. Daraus werde ich dann noch einige wichtige Schlüsse ziehen, wie der Gesetzgeber am füglichsten die schädlichen Arten des Absatzes hindern und die nützlichen befördern könne.


1. Übel der Gallomanie


Hat die Gallomanie105 der Deutschen gute oder schädliche Folgen gehabt? Schon ohne Nachdenken wird man antworten: schädliche. Jene Gallomanie ist aber nichts anderes als rasende, eiserne Nachahmung der französischen Moden, ihrer Pracht und ihres Luxus.

Freilich kann man sagen, daß die Torheit der Deutschen besonders dadurch schädlich geworden sei, weil man zugleich auch die französischen Prachtwaren eingeführt habe. Aber so gern ich dies gestehe, so gewiß bin ich überzeugt, daß der Modegeist oder der allgemeine Hang zu französischer Pracht und zu französischem Luxus unendlich mehr Schaden gestiftet habe als jene Einfuhr. Ich möchte bloß vom wirtschaftlichen Schaden reden; an den moralischen will ich gar nicht denken!106

Von den urältesten Zeiten waren die Deutschen immer eine Nation, die ihre eigenen Sitten, ihren eigenen Charakter hatte. Das Feudalsystem und die ewigen Katzenkriege der Reichsbarone hinderten alle Bevölkerung, alle Aufklärung107 sowie die Verfeinerung der Sitten und Gewerbe. Nun erfolgte der allgemeine Landfriede108 und darauf die Reformation. Diese war nun wieder ein Anlaß, der manchen Reichsfürsten in Harnisch brachte.109 Endlich machte im vorigen Jahrhundert der Westfälische Friedensschluß110 dem immerwährenden Blutvergießen ein Ende. Seit dieser Zeit wurde das Kriegführen zum Teil menschlicher, oder die Verwüstungen trafen doch hie und da nur ein einzelnes Land.

Nun trat Ludwig der Vierzehnte in Europa auf.111 Der Hof dieses prächtigen und geschmackvollen Fürsten war der glänzendste seiner Zeit. Zu allem Unglück warfen die deutschen Fürsten und der Adel ein Auge auf diesen Glanz. Sie fanden sich in der Verfeinerung noch schrecklich weit zurück.

Anstatt nun aber Anstalten unter sich selbst zur Aufklärung112 zu machen, anstatt die Wissenschaften, die Künste, die Handwerke und die Landwirtschaft in Flor zu bringen, statt dessen glaubte man, eben so glänzend wie die Franzosen zu werden, wenn man sie nachahmte. Man reiste nach Paris. Fürsten, Grafen und Edelleute besuchten den französischen Hof. Sie gewöhnten sich an alles, was französisch war. Sie brachten die französische Sprache, Kleider und Perückenmacher sowie Stallbuben zu Hofmeistern für ihre Kinder mit. Wäscherinnen und – wurden zu Erzieherinnen ihrer Fräulein Töchter.113

Nun gab es auf einmal eine Trennung. Man hatte französische Deutsche und deutsche Deutsche. Die ersteren waren der hohe und niedere Adel, und die anderen bildeten die übrigen Menschenklassen. Die ersten sahen jetzt mit noch weit größerer Verachtung auf alle übrigen herab. Denn sie hielten sich nun für verfeinert und die übrigen für Barbaren. Daher fingen auch die reichen Bürger und Gelehrten an, nach Frankreich zu reisen, und damit grassierte die französische Modeseuche allenthalben.

Wenn wir nun bedenken, wie der Prachtaufwand und der Luxus seitdem gestiegen sind, und welche Verheerungen, Druck und Elend sie unter uns angerichtet haben, so muß man sich wundern, wie es möglich ist, daß man der Pracht und dem Luxus noch das Wort reden könne.

Will man mir einwenden: dem allem ungeachtet ist doch Deutschland seit der Zeit im Wohlstand immerhin gestiegen, so antworte ich: Wer das sagen kann, der sieht den vermehrten Puls des Fiebers und die daher entstehenden roten Wangen für volle Gesundheit an. Ein großer Staat wie Deutschland braucht mehr als ein Jahrhundert zum Fallen. Und wer sieht denn nicht, daß er am Fallen war? So fällt auch Frankreich wirklich mit beschleunigter Bewegung, wenn nicht sein weiser König in Heinrich des Vierten Fußstapfen tritt.114


2. Erwachendes Nationalbewußtsein


Eben diesem Sinken Frankreichs und dem redlichen deutschen Charakter der Väter Deutschlands haben wir es zu danken, daß man jetzt überall anfängt einzusehen: der französische Schwindelgeist würde uns gestürzt haben! Daher fangen wir nun an, Aufmerksamkeit auf die Gewerbe zu verwenden. Wir haben nun auch wieder – Gott Lob! – deutsche Edelleute unter uns, die Deutsch schreiben und lesen können. Ja sogar schenkt uns unser alter berühmter Adel würdige Gelehrte.

Dieses große Beispiel zeigt schon zum voraus, was man von der Pracht und vom Luxus zu gewarten habe. Der Bauernstand, der sonst – wie der Saturnus von der Sonne – erst in dreißig Jahren von der Mode herumgeführt wird, trägt doch jetzt schon in den meisten Provinzen Deutschlands französische Kleiderschnitte – freilich so, wie es vor dreißig Jahren Mode war.116 Allein, wenn wir uns nicht noch zeitig besonnen hätten, so wäre der Bauernstand, uns nach, in den Abgrund geschleudert.

Das ist eine sehr wichtige Bemerkung. So bald der Bauernstand auch in den Modewirbel gerät, so sehe man dieses als ein Symptom des nahen und gänzlichen Ruines an. Denn die Landwirtschaft ist die Grundfeste des Staates.117 Sie ist im Augenblick zu Grunde gerichtet, so bald der Bauer prächtig und üppig wird. Sinkt aber dieses Fundament, so zerfällt der ganze Bau.


IV. Ausbreitungsdruck von Pracht und Luxus


Die Verteidiger der Pracht und des Luxus werden mir das alles eingestehen. Sie werden sagen: das alles trifft uns nicht! Nur reiche und wohlhabende Familien sollen Pracht treiben, und so ihr Geld unter die Leute bringen. Gesetzt auch, eine Familie ginge durch allzu große Pracht und durch Luxus zugrunde. Dann hat sie vielleicht doch zehn Familien dadurch aufgeholfen. Mithin hat der Staat nichts dabei verloren.

Das ist schon nicht billig, wenn man erlaubt, daß zehn Familien durch den Ruin einer einzigen emporkommen sollen. Eine Familie muß sowohl vor dem Untergang geschützt werden als die andere. Dies gilt besonders dann, wenn es Mittel gibt, ohne dieses Verderben glücklich zu werden. Man wird freilich mit aller Vorsicht solche Fälle nie ganz verhüten können. Aber deswegen soll man sie doch nicht für Mittel zur Glückseligkeit118 erklären!

Was aber die Forderung betrifft, daß nur reiche und wohlhabende Leute Pracht und Luxus treiben sollen, so ist leicht zu beweisen, daß sie der Erfahrung nach hypothetisch unmöglich ist.119

Der Hof, die Residenzstadt oder auch andere große Städte sind gewöhnlich der ordentliche Sitz der Pracht und des Luxus. Hier wohnen gemeiniglich die reichsten Familien, die also Pracht treiben sollen. Wer hat aber hier die Gewalt der Mode in der Hand? Die reichen Familien treiben Pracht, und die weniger reichen vom nämlichen Stande ahmen nach. Was die Tochter des reichen Ministers, des geheimen Rats (und so die Reihe herunter) trägt, das trägt auch bald die Tochter dessen, der nichts als seine Besoldung zu verzehren hat.120

Dabei aber bleibt es noch nicht! Auch die anderen angrenzenden Stände ahmen bald nach. Auf solche Weise wird die Pracht allgemein. Diese Erfahrung ist so wahr, daß jedes Beispiel überflüssig sein würde.

Aber der Modezirkel bleibt nicht in den Stadtmauern eingeschränkt! Der Landbeamte sucht seine Kinder ebenfalls standesgemäß zu erziehen. Um Sitten und den Modeton kennenzulernen, schickt er die Töchter in die Stadt. Die Söhne müssen studieren und sich hernach auch wohl in der Hauptstadt aufhalten, um sich Freunde und Patrone zu erwerben.121

So kommen endlich Söhne und Töchter recht nach der Mode gebildet nach Hause. Die benachbarten Familien der Prediger und Kaufleute sowie andere Wohlhabende machen auch die Mode nach, die jene wohlerzogenen Kinder des Beamten mitbrachten. Und so wird der Prachtaufwand allgemein. Indessen erfinden die reichen Familien wieder neue Moden; denn sie wollen sich doch immer auszeichnen.122 Diese neuen Moden kreisen nun abermals durch alle Stände herum und machen immer neueren Platz.

Hieraus ist leicht einzusehen, daß es – wie ich oben sagte – eine hypothetische Unmöglichkeit sei, die Pracht und den Luxus bloß auf die wohlhabenden Familien einzuschränken. Tatsache ist vielmehr, daß jede Art der Pracht ein neues Ressort ist, welches der Modesphäre neue Kraft zum Umschwung gibt und ihren Umlauf beschleunigt.


V. Einfluß von Pracht und Luxus auf die Gewerbe


Nun wollen wir die Folgen untersuchen, welche aus dieser Verfassung in sämtlichen Gewerben entstehen müssen. Ich behalte aber immer den Gesichtspunkt, daß aller dieser Aufwand bloß mit inländischen Erzeugnissen betrieben werde. Denn wenn – wie es fast durchgehends der Fall ist – ausländische Modewaren gebraucht werden, so ist die Frage schon lang entschieden, daß dieser Aufwand der gerade Weg zum Verderben sei.


1. Ruin, Verarmung und Arbeitslosigkeit


Ich habe gezeigt, daß die Pracht und der Luxus reicher Familien sich nicht bloß auf diese beschränken. Vielmehr wurde nachgewiesen, daß Pracht und Luxus sich durch die Mode allgemein ausbreiten, und zwar ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen. Dadurch wird nun das Steigen und Fallen der Familien beschleunigt. Dies ist schon ein an und für sich schädliches Staatsfieber.

Laßt auch fortwährend eben so viele Familien steigen, als gefallen sind. Dann verliert das Land noch immer beträchtlich! Denn die Kinder gefallener Häuser sind nicht wieder alsofort nützliche Glieder der Gesellschaft. Im Gegenteil sind sie glänzende Arme, die noch immer den vorigen Stand und die Pracht im Kopfe haben. Mit Recht heißt es von ihnen: „Graben mag ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln.“123

Diese Bemerkung ist vollkommen wahr. Auf ein halbes, wo nicht gar auf ein ganzes Jahrhundert hat also der Staat an diesen Leuten nützliche, erwerbende Glieder verloren. Ihre Anzahl vermehrt sich aber immer in gleichem Verhältnis mit dem Steigen und Fallen der Familien. Daher ist es schon in dieser Rücksicht anerkannt schädlich, wenn Pracht und Luxus herrschen. Ich könnte die Folgen, welche aus verarmten Familien entstehen, noch weiter untersuchen, wenn obiges nicht schon zu meinem Zwecke genug wäre.124


2. Kostendruck und Produktionsrückgang


Die herrschende modische Pracht vermehrt die jährlichen Ausgaben des Hausvaters. Er kommt nun nicht mehr mit seinem Ertrag125 aus. Die Beamten, welche von der Besoldung leben, müssen nun entweder Blutsauger werden, oder Schulden machen, oder eine höhere Besoldung haben. Das erste hat die betrübtesten Folgen,126 das zweite dauert nicht lange ohne den gänzlichen Ruin, und das dritte erfordert höhere Auflagen des Staates.127

Erwerber, welche nun größeren Prachtaufwand machen, sind gezwungen, auch mehr zu verdienen. Mithin müssen sie ihre Produkte teurer verkaufen. Die höheren Auflagen aber und die gestiegenen Warenpreise machen allen nötigen und unnötigen Aufwand teurer. Diese Folge verbreitet sich durch alle Menschenklassen bis zu den ärmsten hin.

Der Landwirt erzielt stärker und verkauft teurer. Aber alles, was er nicht erzielen kann: was er von anderen Gewerbeklassen kaufen muß, das ist ebenfalls sehr teuer. Es war es schon als rohes Produkt. Der Handwerksmann, welcher es umgestaltet, hat auch seinen hohen Lohn darauf geschlagen. Mithin verliert der Bauer im Ankauf schon mehr, als er in seiner Produktion gewann. Nun muß er aber noch die hohen Abgaben bezahlen, folglich also ohne Rettung in seinem Gewerbe zurückgehen. Geht aber der Bauernstand zurück, so vermehrt sich das Übel mit jedem Augenblick. Er kann seinen Ackeraufwand nicht mehr machen,128


3. Rückgang der Ausfuhren


Eben so geht es auch den übrigen Ständen. Der Handwerksmann kann die rohen Produkte wegen dem hohen Preise nicht mehr kaufen. Sein Lebensunterhalt ist ebenso kostspielig. Will er bestehen, so muß er seine Waren auf einen ungewöhnlich hohen Preis setzen. Außer Landes ist nun aber kein Absatz mehr möglich; der inländische reicht aber der Beschäftigung nicht zu. Da nun keine Waren mehr außer Landes gehen, so kommt auch kein ausländisches Geld mehr herein. Jedoch bringt kein Land alles das hervor, was es selber braucht. Mithin geht noch das Geld immerfort aus, ohne je wieder zu kommen.


4. Häufung der Konkurse


In dieser Verfassung geht auch die Kaufmannschaft zugrunde. Denn die Waren sind zu teuer und können daher nicht mehr außer Landes gehen. Es folgt ein Bankrott auf den anderen. Der allgemeine Kredit ist dahin.129 Jeder sucht und braucht Geld. Die Interessen130 steigen hoch. Wer noch Geld hat, gewinnt mehr beim Ausleihen. Er hört also auf zu handeln.


5. Allgemeine Wirtschaftskrise


Nun fängt die rohe, eiserne und tyrannische Periode an. Stockung der Nahrung ist allenthalben. Wenige reiche Familien sind unbarmherzige Kapitalisten. Sie schätzen ein Bauerngut nach dem andern weg131 und ziehen es an sich.

Die beschäftigte Bevölkerung wandert aus.132 Endlich sieht man alte Städte mit leeren, zerfallenen Palästen, ärmlichen Bauernhütten; man gewahrt große öde Bauernhöfe und zerlappte, arme Handwerksleute.133 Der Fürst ist Minister oder General im Dienste eines fremden Staates.134 Derweil häufen sich seine Beamten ein vollgerütteltes Maß der Sünden und Bedrückungen.

Das sind die wahren Folgen der Pracht und des Luxus! Wer noch nicht überzeugt ist, der studiere die Geschichte oder vielmehr die Natur. Beispiele sind hier verhaßt. Wer mich mit Aufmerksamkeit angehört und vollkommen verstanden hat, der wird mir das Zeugnis geben, daß meine Behauptung wahr und in der Erfahrung gegründet sei.


6. Entbehrlichkeit der Luxusnachfrage


Der Warenabsatz also, welchen die Pracht und der Luxus hervorbringen, ist höchst schädlich. Folglich ist nur der Warenabsatz nützlich, welcher sich auf den notwendigen und nützlichen Aufwand aller Stände gründet.135 Dieser ist aber auch ganz hinlänglich, um die höchste Bevölkerung zu beschäftigen.

Ich könnte dieses leicht beweisen, wenn ich nicht ohne meinen Willen schon zu weitläufig geworden wäre. Ich will also meine Abhandlung mit einigen Regeln beschließen, welche nach meinem Bedünken die fruchtbarsten sind, der Pracht und dem Luxus zu steuern.


E. Mittel zur Eindämmung von Pracht und Luxus


Kleiderordnungen, Gesetze gegen den üppigen Aufwand und dergleichen Mittel sind niedrige, schwache Zäune. Sie überhüpft jeder, wo und wann er will. Daher ist kein besseres Mittel als die Hemmung des Modegeistes.


I. Höfe als Vorbild


Dieses vermag der Fürst durch sein erhabenes Beispiel zu erreichen. Er sehe die Pracht und den Luxus mit scheelen Augen an; er behandle jeden mit einer Art von Ungnade, der prächtig erscheint oder üppig lebt; und er ziehe den mäßigen, ernsten und vernünftigen Mann immer vor. Dann wird es nicht lange währen, und der ganze Hof wird ernst, mäßig und vernünftig sein.136

Der Hof ist die Quelle der Ehre. Wer sich also vor anderen auszeichnen will, der nähert sich der Hofmode. Ist diese nun mäßig, ernst und feierlich,137 so wirkt dieses Beispiel eben so allgemein wie Pracht und Üppigkeit. Jetzt ist schon alles gewonnen!


II. Bildungsanstrengungen


Zugleich fange man an, den Geist der Nation zu bilden und ihn auf den Standpunkt der wahren Ehre zu setzen. Dieses ist nun das eigentliche Hauptstück der Staatskunst! Ein aufgeklärter Verstand in den nützlichsten Wissenschaften, ein zu guten Sitten, Gottes- und Menschenliebe geneigter Wille und dies verbunden mit der zweckgemäßesten Anwendung dieser Eigenschaften auf den Beruf138 jedes einzelnen Bürgers: das ist in jedem Stand die wahre Ehre.

Dazu leite man alle Menschenklassen durch Stiftung herrlicher Dorf- und Stadtschulen, durch die beste Bedienung der Religion sowie durch Unterstützung der Gewerbe (vorzüglich der Landwirtschaft und der auf inländischen rohen Produkten gegründeten Manufakturen), die notwendige und nützliche Waren verfertigen. Wird ein Regent das Glück haben, dieses alles gehörig auszuführen, so kann er die verderbliche Seuche der Pracht und des Luxus entfernen. Er wird an deren Statt Blüte, Segen und Gedeihen über sein Volk ausbreiten.


Erschwerung des Kaffee-Verbrauchs*


Es wird nun siebzig und etliche Jahre her sein, daß die Arabischen Bohnen oder Kirschen-Kerne139 anfingen, ihren Despotismus140 über Europa auszubreiten. Es ist ihnen besser gelungen als ihren Landsleuten, den ehemaligen Sarazenen.141 Denn diese konnten ihre Eroberungen nie so weit ausdehnen.

In wiefern nun dieser asiatische Zwingherr, der Kaffee, seine Untertanen schade oder nütze, das läßt sich ziemlich genau bestimmen. In Ansehung der Gesundheit sind die Gesundheits-Gelehrten (welches – leider! – gar oft der Fall ist) nicht einerlei Meinung.142 Ich denke, es kommt auch viel darauf an, ob der eine oder andere unter ihnen selbst Kaffee trinkt!

Meine Gedanken darüber (und ich denke, ich habe auch noch eine Stimme im Hippokratischen Senat143 – wenigstens hat mich dieser noch nicht ausgestoßen), also: meine Gedanken darüber sind unmaßgeblich folgende. Der Kaffee ist ein erbärmliches Nahrungsmittel,144 aber ein herrliches Arzneimittel. Wer Heiterkeit und Tätigkeit der Lebensgeister bedarf, dem dienen täglich ein paar gute Tassen Kaffee (aber auch nicht mehrere!) zu einer unvergleichlichen Stärkung, deren ihn keine gesetzgebende Gewalt berauben darf und soll. Sobald aber dieses Getränk als Nahrung oder zur Üppigkeit145 oder bloß um des Wohlgeschmacks willen getrunken wird, so wird es schädlich.146


A. Wirtschaftliche Schäden


Um aber meinem Zweck näherzukommen, nämlich staatswirtschaftliche Ideen zu schreiben, so will ich nun untersuchen, in wiefern der Kaffee in ökonomischer Rücksicht schädlich sei.


I. Volkswirtschaftliche Sicht


Wir haben in der Staatswirtschaftslehre147 einen Hauptgrundsatz, der heißt: inländische auch teurere Befriedigungsmittel sind immer den ausländischen wohlfeileren vorzuziehen.148 Denn bei den ersteren bleibt das mehrere Geld im Kreislauf des Vaterlandes, aber bei den letzteren wandert das wenigere ganz hinaus.

Diesen Satz auf den Kaffee angewendet, erhellt, daß er in allen Fällen, wo er nicht als Arznei gebraucht wird, dem Staat durchaus nachteilig sei und sich mit dem wahren Beglückungs-Geschäft nicht vereinbaren149 lasse. Dies ist also meine Entscheidung in Ansehung des allgemeinen Besten.


II. Einzelwirtschaftliche Sicht


Ich muß nun aber auch untersuchen, wie es sich in Betracht des einzelnen damit verhalte. In dieser Rücksicht teile ich alle Hausväter in Gutsbesitzer150 oder Produzenten und in Nichtproduzenten, nämlich bloße Konsumenten ein. Jene erzielen ihre Nahrungsmittel größtenteils selbst; diese aber müssen alles kaufen, was sie genießen. Nun besteht aber einer der vornehmsten Haushaltungs-Grundsätze darin, daß das Vermögen einer Familie in dem Verhältnis zunehme, in welchem die baren Geldausgaben, ohne Einschränkung der beglückenden Bedürfnisse, vermieden werden.151


1. Unternehmerhaushalte


Wenden wir nun diesen unwiderlegbaren Satz auf die Produzenten an, so finden wir augenblicklich, daß kein Beglückungsbedürfnis dadurch unbefriedigt bleibt, wenn kein Kaffee getrunken wird. Denn unsere Vorfahren entbehrten deswegen an ihrer Nahrung nichts, weil sie dies Getränke nicht kannten. Folglich würde der Bauer und mit ihm jeder Gutsbesitzer jährlich um so viel reicher werden, wie er für Kaffee ausgibt, ohne dadurch im geringsten eines wahren beglückenden Bedürfnisses zu entbehren.

Man wird mir doch hoffentlich hier nicht einwenden wollen, daß der Kaffee gewiß für manchen ein beglückendes Bedürfnis sei, weil er sich, wenn er ihn entbehren müßte, unglücklich fühlen würde! Denn das ist ja auch der Fall bei Mißbrauch des Weins, Branntweins und aller starken Getränke. Ich habe hier nur wahre beglückende Bedürfnisse im Auge. Die Bedürfnisse des Luxus gehören dazu aber bestimmt nicht.


2. Verbraucherhaushalte


Was nun aber den eigentlichen Konsumenten betrifft, der alles, was er genießt, für Geld kaufen muß, so ließe sich da vielleicht ein Scheingrund zur Verteidigung des Kaffees ausfindig machen. Aber wenn man ihn bei Lichte betrachtet, so zeigt er sich auch schon als Scheingrund, der keiner Probe stichhält.

Der Bürger und Handwerksmann im Bergischen152 stellt des Morgens und des Abends je nach der Größe seiner Familie einen Kessel mit ein, zwei oder drei Maß Wasser153 über das Feuer. Wenn es kocht, so tut er auf jedes Maß ein halbes, dreiviertel – und, wenn er es recht gut machen will, ein ganzes – Lot154 Kaffee in eine Kanne, schüttet dann das kochende Wasser darauf und setzt sich nun mit allen seinen Hausgenossen um das Geschirr her. Da trinkt dann jeder sechs bis zwölf Tassen von diesem bräunlichen Aufguß mit etwas Milch und ißt drei bis vier große, dicke Brotschnitten mit Butter bestrichen dazu.

Diese Brotschnitten sind es also, was ihn sättigt und nährt: der Kaffee gewiß nicht! Würde nun die Hausfrau halb so viel Brot und halb so viel Butter mit eben so viel Wasser und etwas Salz nehmen, so könnte daraus eine weit kräftigere und gesündere Brotsuppe gekocht werden.155 Dabei würden täglich 4 bis 5 Stüber156 gespart! Ein andermal kaufte sie für 2 Stüber Bier und kochte mit etwas Milch und Mehl eine Biersuppe daraus. Kurz: mit der Hälfte der Kosten und des baren Geldes läßt sich eine Familie weit besser und kräftiger nähren als mit jenem erbärmlichen Gespüle. Bedenkt man nun, daß dieser Gebrauch des Kaffees noch der allerwirtschaftlichste ist,157 so läßt sich leicht erachten, wie groß der Schaden in solchen Haushaltungen sein müsse, wo er kräftiger getrunken wird.

Von allen After- und Titular-Kafeearten158 mag ich hier kein Wort sagen. Darüber werde ich in diesen Blättern ein andermal eine ganze Abhandlung mitteilen.159


B. Verbot des Kaffees


Nachdem ich also – welches aber auch ohnehin schon ausgemacht war – entschieden habe, daß der Gebrauch des Kaffees (den medizinischen ausgenommen) in jeder Rücksicht schädlich sei, so wende ich mich nun zur Beantwortung der Frage: ob denn dieses verheerende Getränk nicht durch die gesetzgebende Gewalt abgeschafft werden könne?


I. Mißlingen bisheriger Maßnahmen


König Friedrich der Zweite,160 der so vieles zwingen konnte, zwang den Kaffee nicht. Landgraf Friedrich der Zweite von Hessen-Kassel161 versuchte es mit Ernst: aber es half nicht. Woran das liege, das läßt sich leicht ausfindig machen. Wenn einmal etwas durch die Mode allgemein und sogar zum Wohlstand162 notwendig geworden ist, so hilft auch das strengste Verbot nicht; besonders auch dann nicht, wenn die Natur seit der Jugend an so etwas gewöhnt ist. Denn in diesem Falle sind die Forderungen des Gelüstens so stark, daß man sich lieber strafen läßt, als entbehrt. Nirgendwo schmeckt der Kaffee dann besser als im verborgenen Winkel, wo man sich vor der hundertäugigen Polizei163 sicher glaubt.


II. Unmöglichkeit der Überwachung


Jedes Gesetz, jede Verordnung bleibt vergeblich, wo die Beobachtung unmöglich ist, ob es auch eingehalten wird.164 Wie oder wo läßt sich aber nun eine Polizei denken, die da fähig wäre, alle verborgenen Winkel in sämtlichen Wohnungen eines ganzen Landes in jeder Minute zu bewachen?

Wo das aber nicht geschehen kann, da trinkt man den Kaffee nun noch umso lieber. Jetzt nämlich ist er mit dem NITIMUR IN VETIUM gewürzt.165 Das Kaffeetrinken also durch ein absolutes Verbot verhindern oder aufheben zu wollen, ist vergebliche Arbeit und noch dazu schädlich. Denn die gesetzgebende Gewalt zeigt dadurch eine Schwäche oder Blöße, die hernach auch in anderen Fällen böse Folgen hat.


C. Wirksame Einschränkungen


Und doch deucht mir, es sei noch ein Mittel übrig, wodurch man allmählich den wohltätigen Zweck sicher erreichen würde. Dieses Mittel könnte etwa in dem folgenden sein.


II. Belehrung und Kinderschutz


Man belehre durch alle Mittel der Volksaufklärung das Publikum über die Schädlichkeit des Kaffees in Ansehung der Gesundheit, wenn er nicht als Arznei, sondern als Nahrung getrunken wird. Dies belege man mit Beispielen und Erfahrungsbeweisen. Zugleich mache man dem gemeinen Mann durch deutliche Berechnung begreiflich, wie viel er jährlich sparen würde, wenn er keinen Kaffee tränke.166 Indessen verbiete man doch den Erwachsenen dieses Getränke nicht. Man gebe vielmehr nur das Gesetz, daß sich kein Hausvater und keine Hausmutter bei hoher Strafe unterstehen solle, den Kindern Kaffee zu geben. Auf dieses Gesetz wacht man nun durch alle erlaubten Mittel so gut man kann. Jeder, der dagegen handelt, sollte ohne Schonung bestraft werden.

D er natürliche und unausbleibliche Erfolg dieser Polizei-Operation167 wird folgender sein. Die allgemeine Überzeugung von der Schädlichkeit des Kaffees wird zwar den Gebrauch nicht aufheben, aber doch hin und wieder schwächen. Und geschähe dies auch nicht, so wird doch das Gesetz, den Kindern durchaus keinen Kaffee zu geben, dadurch unterstützt und dessen Ausführung erleichtert. So gewiß es nun auch ist, daß dem ungeachtet es noch immer Eltern geben wird, die ihre Kinder mit diesem Getränke nähren, so wahr ist es doch auch, daß viele das Gesetz streng beobachten werden. Folglich nimmt doch der Konsum allmählich ab. Man kann hoffen, daß es die folgenden Generationen kaum mehr kennen werden. Würde man nun auch die so schädlichen Kaffee-Visiten168 bei hoher Strafe verbieten, so würde das ganze Geschäft169 sehr dadurch erleichtert.


II. Günstige Anzeichen


Ich muß gestehen, daß mich oft eine Art von ahnender Überzeugung anwandelt, daß gerade jetzt der wahre Zeitpunkt gekommen sei, wo mein Vorschlag am ausführbarsten und fruchtbarsten sein dürfte. Denn wirklich ist schon der ganze Stand der Honoratioren170 auf dem Wege, den ich vorgeschlagen habe. Man gibt in den mehrsten Familien von Ansehen den Kindern keinen Kaffee mehr. Und selbst Frauen vom Stande versagen sich dieses ihr ehemaliges Lieblings-Getränke, ohne etwas Modisches an seine Stelle aufgenommen zu haben – welches ein außerordentliches Wunder ist!

Überhaupt deucht mir doch, man komme dem großen Ziel der Aufklärung merklich näher.171 Denn man fängt an, den Kaffee abzuschaffen und zugleich weit fleißiger und arbeitsamer zu sein als sonst. Wie weit das schon gediehen ist, erhellet daraus, daß unsere Damen in Konzerten stricken und sogar den Sonntag nicht mäßig sein können.


III. Modezwang und Freiheit


Nimmt man nun auch noch die Ersparung an Kleidern dazu, so hat es doch den Anschein, daß am Ende noch etwas gegen den Luxus ausgerichtet werden könne. Denn wie viel weniger Zeug172 braucht jetzt das Frauenzimmer zum Beispiel zu den Ärmeln und Überhaupt zu seiner ganzen Kleidung.173 Zwar nehmen die Beinkleider174 wieder einen Teil von der Ersparung weg. Aber dazu kann man ja auch Leinwand, Drillich175 oder dergleichen Zeuge gebrauchen.

Ich denke, da wir nun einmal anfangen, vernünftig zu werden und uns dem Stand der einfachen Natur zu nähern,176 man täte am besten, wenn man alle Kleider abschaffte und sich bloß mit Feigenblätter-Schürzen bedeckte! Dann hätte das Modewesen ein Ende. Auch würde etwas Merkliches dadurch gespart – geschweige, daß der große Zweck der Menschenrechte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit dadurch zur höchsten Vollkommenheit gelangen würde.177 Die Sache wäre zu überlegen!


D. Abschließende Bemerkungen


Doch will ich wieder auf den Kaffee zurückkommen. Gott weiß, welche Richtung nun bei so großen Revolutionen178 der Seehandel, folglich auch der Handel mit dem Kaffee nehmen werde. Dem Anschein nach gibt die veränderte Verfassung der Seemächte dem Kreislauf der Waren einen ganz anderen Schwung.179 Und sollte der Zephyr180 der Revolution auch die südöstlichen Ufer des mittelländischen und die Landstriche am rotem Meer durchsäuseln, so könnte Venedig an Ansehung des Handels wieder werden, was es ehemals war.181

Man muß das Beste hoffen: das Schlimme kommt von selbst. Vielleicht würde dann der Kaffee von Jemen so wohlfeil, daß man ihn wie Bier trinken könnte. Das aber würde meinem Vorschlag wieder einen gewaltigen Stoß geben. Die große Lehrerin, die uns seit zehn Jahren182 so außerordentliche wichtige Lehren gegeben hat – die Zeit – wird es entwickeln. Ich mag nicht weissagen. Sonst nämlich gedächte ich meinen Lesern Dinge zu sagen, die ihnen in den Ohren gellen würden.183 Aber was hülfe das?

Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orion auflösen?184 Kannst du den Morgenstern185 hervorbringen zu seiner Zeit, oder den Wagen am Himmel über seine Kinder führen?186 Nein, das kannst du nicht! Das kann nur Einer. Ihn müssen wir auch walten lassen und im übrigen tun, was an uns ist.

 


Mittel zur Heilung der Spielsucht*

 


A. Spielsucht – ein Volkslaster


Durch die Spielsucht187 ist das Glück so mancher tausend Familien zerstört worden. So manche Gattin wurde durch sie ihres Mannes beraubt, so manches Kind seines Vaters, so mancher Vater seines Sohnes, in dem er die Stütze seines Alters hoffte. Sie hat aber ihre unglückseligen Folgen nicht allein in der Zerstörung einzelnen Familienglücks geäußert. Ihr schädlicher Wirkungskreis ist größer. Sie kann das Unglück ganzer Länder verursachen – wenn es wahr ist, was die Stimme des Volkes sagt.188 Denn VOX POPULI, VOX DEI sagt das Sprichwort,189 wobei ich doch die Stimme eines gewissen Volkes zur Ausnahme rechnen möchte.190

Es scheint wohl wahr, daß wenn ein gewisser, freilich bestrafter – aber, wenn es wahr ist: lange nicht genug bestrafter – Heerführer seinen Aufenthalt näher bei seinen Truppen als beim Spieltische gewählt hätte, wenn er öfter jene als diesen besucht, mehr und öfter die Stellungen und Absichten der Feinde als die Schlangengänge191 des Spielglücks zu ergründen gesucht hätte: daß dann nicht so manche deutsche Länder nochmals Schauplatz des Krieges, der Erpressungen und Räubereien geworden sein würden, unter welchen sie schon so lange – und jetzt noch – seufzen.192

Mir dünkt also, in einem Journal, das „Volksglück“ an der Spitze führt, sollte ein auf Erfahrung gegründetes erprobtes Mittel, wodurch einige Menschen vor diesem Laster bewahrt worden sind, wohl einen Platz verdienen. Vielleicht, daß einige Väter und Erzieher, denen das Glück ihrer Kinder und Zöglinge teuer ist, einen Versuch damit machen möchten? Glücklich würde ich mich schätzen, wenn er auch nur bei einigen von ihnen von glücklichem Erfolg wäre!

Ich besitze es schon lange,193 und gedachte es zum eigenen häuslichen Gebrauch aufzubewahren. Allein, ich teile es doch hier mit. Denn auf das Glück, Vater zu sein, tat ich lange Verzicht. Die großen Herren wissen nämlich die Ehelustigkeit ihrer subalternen Bedienten194 von Grund aus zu heilen, indem sie diese auf sparsame Besoldung setzen. So harrte ich bis auf mein 30. Jahr ehelos heran.195 Weil dieses Journal nur Speise für Männer enthält und nicht Knaben zum Spielwerk aufwartet (oder auch – wie so viele andere Journale – nicht zum Nachtstühlchen dient, worin sie sich ihrer ordures entledigen können),196 so darf ich dabei nicht befürchten, daß die Arznei dem Patienten bekannt werde. Dies nämlich würde ihre Wirkung verhindern oder doch vermindern.


B. Spielscheue Brüder in Straßburg


Bei meinem Aufenthalt auf einer der berühmtesten deutschen Universitäten197 waren in dem nicht kleinen Zirkel meiner Bekannten,198 mit denen ich häufigen vertrauten Umgang pflog, drei Brüder. Zwei waren Zwillinge.199 Sie waren verschieden in Temperament, Lieblingsneigungen, Geist und Herzen. Nur in einem Stück waren sie sich völlig gleich: in der entschiedenen Abneigung gegen alles, was mit Spiel um Gewinn zusammenhängt. Diese war so stark, daß sie jedem ihrer Bekannten alsbald auffallen mußte. Ich erinnere mich, daß ihre Abneigung oft den Stoff zu unseren Unterhaltungen abgab, und wir die Ursachen derselben zu ergründen suchten.

Unkenntnis des Spiels war es nicht, die sie abhielt. Denn alle nur ersinnlichen Spiele waren ihnen bekannt. Der Kenner merkte auch sehr bald aus ihren Bemerkungen, daß sie in allen sogenannten Feinheiten initiiert waren.200 Furcht vor Verlust war es auch nicht. Denn sie waren nichts weniger als geizig und ihr Wechsel sehr stark.201 Aus moralischen Grundsätzen verabscheuten sie das Spiel nicht. Denn solche waren ziemlich locker und wurden in anderen Fällen sehr oft von ihnen außer Acht gelassen. Dabei bemerkte man, daß das Spiel, wenn sie spielen mußten (sie spielten nie für sich, konnten es aber oft nicht umgehen, das Spiel eines Bekannten, den ein Geschäft abrief, auf kurze Zeit zu übernehmen), auch auf ihr Physisches wirkte. Ihr Körper wurde unruhig, und der Schweiß rann ihnen von der Stirn herab.

Ich blieb mit meinen Freunden in der Ungewißheit, bis endlich einer dieser Spielfeinde mir das Rätsel selbst löste. Es war gerade derjenige, mit welchem ich am vertrautesten lebte.202 Er wurde wieder für einen Freund in ein Spiel gezogen und mußte eine reichliche halbe Stunde mit immer steigender Ungeduld und Beängstigung spielen. Als er endlich abgelöst wurde, sprang er auf, nahm mich am Arm und zog mich mit sich fort auf einen Spaziergang.

„Bin ich doch fast über dem verdammten Spielen erstickt. Wenn doch alle Karten und Würfel beim Teufel waren!“, so zürnte er heraus. Das berechtigte nun mich zu der oft unterdrückten Frage, woher die seltene Abneigung gegen das Spiel bei ihm und seinen Brüdern rühre. „Dir will ich es sagen. Aber versprich mir, daß du es unseren Freunden verschweigst! Sonst werde ich ihrem Gelächter oder ihren Anreizungen ausgesetzt. Dem bin ich nämlich enthoben, weil wir Brüder uns eidlich verpflichtet haben, nie darüber zu sprechen.“


C. Spielekel durch väterliche Erziehung


„Mein Vater hat die Schuld, oder vielmehr (wie ich von Herzen bekenne:) den Dank dieser Abneigung. Wir hatten in unserer Familie einige schreckliche Beispiele von Folgen der Spielsucht. Sie heilten aber meinen Vater nicht von der Spielwut: er war ein ausgelassener Spieler. Ihn trieb die Spielwut in den schrecklichen Fall, daß sein ganzes Glück, das Glück unserer Mutter, die er zärtlich liebte, und auch unser Glück (wir waren schon geboren) von einer einzigen Karte abhing. Sie wendete sich ihm zum Glück – zum Glück auf immer! Er hat mir vor unserer Trennung203 erzählt, daß die wenigen Sekunden zwischen dem Wort, das sein Schicksal bestimmte und dem Umschlag der Karte, die es entschied die Summe alles Schrecklichen, was wirklich und denkbar ist, in sich begriffen haben.

Seine Kräfte waren erschöpft. Er entfernte sich; die Gemütsbewegung verscheuchte den Schlaf. In dieser Nacht reifte der Vorsatz, den er als Mann faßte und als Held ausführte: er entsagte gänzlich dem Spiel. Gereinigt von dieser Leidenschaft, nahm die väterliche Liebe nun völlig Besitz von seinem Herzen. Seine größte Sorge war, uns vor seinen Fehltritten zu bewahren: vor einer Leidenschaft, die ihn so lange gefesselt und an den Rand des Verderbens gebracht hatte.

Er las alles, was über diesen Gegenstand geschrieben war. Er ließ sich Gutachten von berühmten Erziehern geben. Aber nichts tat ihm Genüge. So ersann er sich endlich einen eigenen Plan, den er mit der größten Beharrlichkeit – und wie du siehst, mein Freund – mit Erfolg ausführte.

Er ließ uns, sobald wir die Jahre erreicht hatten, durch einen geschickten und rechtschaffenen Lehrer in Sprachen und Wissenschaften unterrichten. Er selbst aber übernahm einen Unterricht bei uns, den du seltsam finden wirst. Er lehrte uns nämlich – das Spielen! Glaube aber nicht, daß dieser Spielunterricht auch spielend getrieben wurde! Nichts weniger. Mein Vater war ein ernster Mann und als ein alter Soldat an militärische Ordnung und Strenge gewöhnt.

Der Unterricht wurde mit exemplarischen Ernst erteilt. Versehen, Unachtsamkeit und Vergessenheit fanden eine unnachlässige Strafe. Mit skrupulöser Genauigkeit204 behutsam mußten die gesetzten Stunden eingehalten werden. Nur daß er solche Lektionen absichtlich von einer Tageszeit auf die andere verlegte, je nachdem er merkte, daß dieselben uns jetzt ungelegener als zu einer anderen Zeit sein dürften, weil wir lieber im Garten oder Feld gesprungen oder gespielt hätten.

So erreichte er bald den Hauptzweck und den Nebenzweck. Diesen, daß unser Gedächtnis und unser Scharfsinn geweckt und gestärkt wurden, und wir wegen der minderen Strenge beim Unterricht mit Vergnügen zu unserem Lehrer eilten. Jenen, daß wir die Spiele nicht als Erholung oder Zeitvertreib, sondern als eine Arbeit, und zwar eine sehr lästige Arbeit ansahen.

Nach einigen Jahren hatten wir beinahe alle schweren und witzigen Spiele205 erlernt. Als unser Vater merkte, daß die kindliche Trägheit, die zum Lernen angetrieben werden muß, der Wißbegierde Platz gemacht hatte (so daß uns ein neues Spiel willkommen war, weil wir damit Neues lernten), so lehrte er uns die Glücksspiele. Diese wurden uns bald als dumme Spiele lächerlich und ekelhaft. Wir wunderten uns, wie unser Vater jetzt noch uns solche zeigen mochte. Denn er verdarb uns damit die Zeit, die wir lieber bei unseren Büchern zugebracht hätten.

Wir waren Knaben. Wir ahnten nicht, daß diese verachteten und wirklich dummen Spiele bald unsere fürchterlichsten Tyrannen werden sollten: die Gebieter über unsere Lieblingsneigungen, Wünsche und Vergnügungen. Und doch geschah es so!

Von jetzt an wurde alles, was unter jene Rubriken gehörte,206 durch ein Glücksspiel bestimmt. Es fehlte unserem Vater niemals an einem Vorwand, uns seine Absicht zu verbergen und den Verdacht, daß er unseren Neigungen entgegenarbeitet, von sich zu entfernen. Das Spiel bestimmte, welcher von uns Dreien ein neues Kleid bekam,207 wer bei einer Lustreise,208 bei einer Jagd oder Fischerei nicht sein dürfe, wer – während die anderen bei einem Freunde schmausten – zu Hause allein speiste, usw. Alles bestimmte das Spiel!

Bald hatte unser Vater seinen Endzweck erreicht: das Spiel wurde uns zur Qual. Diese war oft umso größer, als es unser Vater verstand, das Spiel so zu lenken, daß der Verlierer immer der war, dem das Vergnügen (über dessen Genuß das Spiel gerade entschied) am meisten am Herzen lag. Da saß nun der Arme zu Hause! Er erdachte sich alle Vergnügungen, die seine Brüder genossen und die ihm seine Einbildungskraft noch süßer malte, als sie waren. Diese mußte er nun entbehren, weil das Spiel ihn dazu verurteilt hatte. Er verwünschte nun das Spiel, dem er allein sein Unglück zuschrieb.

Dies alles erregte den bittersten Haß gegen das Spiel in uns. Ich erinnere mich noch lebhaft, daß wir mit Zittern und Zagen ein dergleichen entscheidendes Spiel begannen. Oft baten wir flehentlich, uns damit zu verschonen. Alle wollten lieber keinen Anteil an dem Vergnügen haben. Aber vergebens: wir mußten spielen!

Endlich, als unser Alter die Entfernung aus dem väterlichen Hause erforderte und wir uns zum Unterricht auf einer öffentlichen Schule anschickten, ging unser Vater zum dritten Grad seines Unterrichts über. Er machte uns mit den sogenannten Feinheiten des Spiels, mit (deutschen) Spitzbübereien bekannt.

Der Vater hatte zusammen mit unserem vortrefflichen Lehrer die Grundsätze der Moral209 in unsere Herzen gelegt. Wir entsprachen seiner Erwartung. Das Spiel, das uns bisher lästige Arbeit und Qual gewesen war, erregte nunmehr unseren Abscheu. Als er jetzt davon überzeugt war (überzeugt durch häufige Proben); als er sah, daß selbst mehrmaliger Gewinn, selbst Lobsprüche über unsere Geschicklichkeit im Spielen (deren man uns in den Gesellschaften machte, in welchen er uns einführte) unsere Abscheu nicht verminderten und uns keinen Hang zum Spielen abgewinnen konnten, da entdeckte er uns seinen ganzen Plan, den er mit uns ausgeführt hatte. Auch nannte er uns die Ursachen dafür. Unaufgefordert erhielt er das Versprechen von uns, daß er sich nie in seiner Erwartung betrogen sehen solle.

Ob wir es halten? Davon kannst du selbst urteilen. Jedenfalls kann ich dir auf Ehre versichern, daß uns die Erfüllung des Versprechens nie schwer werden wird.

Hier schloß mein Freund. So lange ich diese Spielfeinde kannte, blieben sie unter manchen Versuchungen Spielfeinde.


Steigen und Fallen von Familien*

 


A. Familiärer Aufstieg und Niedergang anhand von Beispielen

 

Ob ich gleich nur erst vierzig Jahre alt bin;210 ob ich gleich älter aussehe (wie ich euch, wo mir recht ist, schon einmal gesagt habe),211 so habe ich doch viel erfahren. Dabei konnte ich sonderbare Dinge sehen, die es wohl wert sind, daß man darauf Acht habe: zum Beispiel das Steigen und Fallen der Familien. Aber ihr werdet gar nicht wissen, was das Steigen und Fallen der Familien ist. Seht, ich will es euch erklären.

Ihr werdet es schon erlebt haben, daß ein Haus,212 eine Familie blutarm und gering war. Nach und nach kam ein solches Haus in die Höhe. Kinder und Kindeskinder wurden reich. Nun blühte das Haus und die Familie; alles war voller Wohlstand. Nach und nach kamen die Kinder wieder herunter; Kinder und Kindeskinder wurden wieder arm.

Das ist nun etwas gar Besonderes und Merkwürdiges:213 da mag man wohl darauf Acht haben. Denn man kann nirgends die Vorsehung und Regierung Gottes besser kennenlernen als im Steigen und Fallen der Familien. Da will ich euch nun merkwürdige Geschichten erzählen und dann so meine Gedanken darüber sagen. Daraus könnt ihr vieles lernen.


I. Familien-Unglück lastet auf Haus in Grund


In unserem Dorf214 war ein Haus, das oben an der Winterseite215 stand. Des Winters schien die Sonne ein ganzes Vierteljahr lang nicht in das Haus. Es wohnte ein alter Mann darinnen. Er hatte eine alte Frau, drei große Söhne und drei große Töchter. Der alte Mann war ein Kohlenbrenner. Seine Söhne halfen ihm in der Hantierung.216 Der älteste Sohn hatte das Schneiderhandwerk gelernt und die Töchter versahen mit der Mutter die Haushaltung.217


1. Armut und Kümmernis der Alten


Da weiß ich nun nicht, wie es war. In dem Hause war kein Segen und Gedeihen. Die Leute plagten sich alle, wie sie konnten. Tag und Nacht waren sie fleißig. Aber sie konnten nicht vorwärts kommen. Überall war Schuld und Ungeduld.218

Der älteste Sohn verheiratete sich ins Haus, die älteste Tochter auch. Diese kriegte einen schläfrigen, faulen, trägen Mann. Sie bekam viel Kinder mit ihm, aber nichts zu essen. Da war nun eine erschreckliche Armut. Wenn ich noch daran denke, wie diese Frau sich plagte! Sie hatte acht lebendige Kinder: einen doppelten Bruch.219 Der Mann lag im Walde, schlief und richtete nichts aus, derweil sich die gute Frau zu Hause erbärmlich abmühen mußte. Dadurch brachte sie es dahin, daß ihre Kinder nicht bettelten. Endlich starb die arme, geplagte Frau. Die Kinder zerstreuten sich und fingen an, Kühe und Schweine zu hüten.220 Der Vater aber ging nun umher und bettelte.

Der alte Mann starb nun auch nach und nach im höchsten Alter; seine Frau folgte ihm. Beide hatten sich in der Welt erschrecklich geplagt. Sie hatten Güter221 genug und waren recht sparsam. Dennoch blieben sie arm und voller Schulden.


2. Zweitgeborener in Dürftigkeit und Elend


Der zweite Sohn diente lange als Knecht bei anderen Leuten. Er war ein roher, harter Mensch. Da beschlief er nun ein armes Mädchen, das nichts hatte und nichts verstand. Sie mußte er heiraten.222 Er bekam von ihr viele Kinder. Zwar arbeitete er wie ein Pferd und seine Frau auch. Trotzdem war nirgends Brot, sondern überall nur Elend, Hunger und Kummer. Die Frau starb endlich auch vor lauter Elend, Plage und Arbeit. Der Mann mußte seine Kinder bei anderen Leuten in Dienste bringen.223 Er selber mußte auch wieder in seinem Alter bei anderen Leuten dienen.


3. Jüngster Sohn stirbt früh


Der jüngste Sohn war ein ganz besonderer Mensch. Er hatte immer eine trockene Miene,224 und sein Gang war so stolz, als wenn er ein Spanier gewesen wäre.225 Er blies immer in die Backen und sah furchterregend aus. Als ich noch ein Knabe war, da hatte ich so meine eigenen Gedanken dabei. Da kamen oft ungarische Husaren durch unser Dorf.226 Da dachte ich dann, warum wird doch der Helmann (so hieß der Mensch) kein Husar? Der würde mit dem Schnurrbart höllenmäßig aussehen. Aber Helmann wurde kein Husar. Er half, im Walde Kohlen zu brennen. Er war immer still. Wenn jemand so etwas Läppisches227 von sich gab, so sah er so verächtlich über eine Seite, als wenn er ihn hätte fressen wollen. Darin tat der Helmann eben nichts Böses.

Wenn der Pastor kam und Hausbesuchung hielt,228 dann putzte er den Helmann aus, daß er so wenig in die Kirche und zum Nachtmahl ginge. Aber der Helmann war der Mann nicht, der sich ausputzen ließ! Nun ging er gar nicht mehr in die Kirche und zum Nachtmahl. Er starb, als er vierzig Jahre alt war. Da ließ ihn der Pastor ohne Sang und Klang des Abends im Dunkeln zum Kirchhof fahren und so still an der Mauer einscharren. Das war nun eine große Schande bei uns.

Da habe ich manchmal wunderliche Gedanken über den Helmann gehabt. Der war nicht am rechten Ort. Wäre der Mensch recht erzogen worden, so wie es in seiner Natur lag, dann wäre ein Mann daraus geworden, über den die Welt erstaunt wäre. So aber ward nichts daraus. Das wußte doch aber unser Herr Gott. Warum ließ er ihn denn nicht von Eltern geboren werden, die ihn ordentlich erziehen konnten?

Ja, ihr lieben Leute! Das sind Dinge, über die wir nicht urteilen müssen. Wenn wir bloß diese Welt nehmen, so kommt uns vieles seltsam und wunderlich vor. Aber wir müssen auch die zukünftige Welt in Rechnung stellen. Wer weiß, ob da nicht gerade unser Herr Gott so einen wunderlichen, ungezogenen Helmann brauchen konnte? Und wenn es auch nicht der Himmel war: die Hölle hat vielleicht auch mancherlei Bediente nötig.229 Ich will nur soviel sagen: wir können hier in dieser Welt über so etwas nicht urteilen. Denn man weiß nicht, was in jener Welt geschieht.


4. Ältester Sohn durchbricht den Unglücksbann


Nun will ich weiter erzählen. Die übrigen Töchter verheirateten sich noch ziemlich ordentlich. Aber sie mußten sich doch kümmerlich nähren. Der älteste Sohn war nun mit Frau und Kindern allein im Haus. Er war ein munterer, fleißiger Mann, der viel Artiges und Gutes an sich hatte. Zwar war er etwas großsprecherisch, aber es ging doch an. Seine Frau war auch recht brav und fleißig. Aber wiewohl sich die Leute Tag und Nacht plagten, so hatten sie doch immer Schulden und kaum das liebe Brot.

Der gute Mann kränkte sich darüber aus der Maßen, als er sah, daß alles nichts half. Endlich kam er auf einen sonderbaren Einfall. Er fing an, zu seinen Nachbarn zu sagen: „Ich glaube, daß unser Herr Gott auf unser Haus einen Fluch gelegt hat, wie dies auch sein mag. Mein seliger Vater hat oft gesagt, sein Großvater sei ein gar gottloser und ungerechter Mann gewesen. Der habe das Haus im Fluch gebaut, und darum sei auch kein Segen dabei. Gern hätte mein Vater ein neues Haus gebaut. Er konnte aber nie zu Kräften kommen. Nun will ich aber nichts mehr mit dem Haus zu tun haben. Ich baue mir eine Hütte an einem anderen Ort allein.“

Jedermann verwunderte sich über diese Reden, die der Mann führte. Viele widerrieten ihm; er aber ließ sich nicht raten. Er lieh Geld, kaufte Holz und baute sich ein schönes Haus unten im Dorf auf einem hübschen Platz. Zu dem neuen Haus brauchte er nicht ein einziges Stück Holz von dem alten. Das ließ er stehen und wohnte so lange darinnen, bis das neue Haus ganz fertig war.

Nun, was tat er? Jetzt riß er das alte Haus bis auf den Boden ab! Die Leute kamen zu ihm und sagten ihm, er solle das doch bleiben lassen. Lieber möge er das Haus verpachten. „Nein“, antwortete er dann, „bewahre mich Gott davor. Die alte Knallhütte230 soll keinen ehrlichen Mann mehr arm machen!“

Das Holz aus dem Hause spaltete er ganz zu Kohlholz. Davon setzte er einen Meiler auf und brannte es ganz zu Holzkohlen. Die Kohlen brachte er zum Markt. Als er sie verkauft hatte, da schlug ihn das Gewissen. Nun sagte er wieder zu seinen Nachbarn: „Was soll ich mit dem Gelde machen? Das ist ungerechtes Geld. Soll ich es den Armen geben? Oder was soll ich tun?“ Die Leute verlachten ihn; aber es ging artig.231 Der Mann, der die Kohlen bekommen hatte, machte bankrott, und daher bekam er nichts. Als er das hörte, da lachte er und sagte: „Gut, daß es der Teufel vollends geholt hat. Jetzt wird mir doch unser Herr Gott wohl Segen geben!“

Der Mann wohnte nun in seinem neuen Haus und alles, was er anfing, brachte Segen und Gedeihen. In wenigen Jahren hatte er seine Schulden bezahlt. In seinem Alter war er ein wohlhabender, glücklicher Mann. An seinen Kindern hatte er eitel Freude.

Diese Geschichte ist wahrhaft passiert. Es ist etwas Sonderbares; ein jeder kann dabei denken, was er will. So viel aber ist wahr: man hüte sich vor ungerechtem Gut. Das bringt nämlich über kurz oder lang Fluch und Verderben auf Kinder und Kindeskinder. Da heißt es wohl zurecht, daß Gott die Missetat der Väter will heimsuchen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied.232


II. Prassende Rentmeisterfamilie in Hilchenbach


Ich weiß einen ansehnlichen Flecken, in welchem viele Häuser und zahlreiche wohlhabende Bürgerfamilien sind. Da habe ich das Steigen und Fallen der Familien sehen können. Als ich noch ein Knabe war, da ging ich in dem Flecken in die Schule.233

Auf einem Baumhof war da so ein altes Mauerwerk und ein zerfallener Keller. Ich fragte meine Großmutter,234 was das für ein Haus gewesen sei? Da seufzte sie dann. „Ja“, sagte sie, „so geht es! Da stand ein prächtiges Haus, worin der Rentmeister wohnte.235 Nun hatten wir damals einen Fürsten, der war immer in holländischen Diensten im Kriege und auf See.236 Da ging es gar erbärmlich. Der Rentmeister tat, was er wollte. Er sog den armen Leuten den letzten Tropfen Blutes aus den Adern.

Als ich noch ein Mädchen war, herrschten dort Saus und Schmaus. Wenn man an dem Haus vorbeiging, dann guckten Dickköpfe zu allen Fenstern heraus, die von Wein glühten. Auch roch man von weitem das Sieden und Braten und hörte das Klappern der Bratenwender. Nun aber heulen in der Nacht die Eulen da; und man fürchtet sich, im Dunkeln dort vorbeizugehen.“

„Ach“, sagte meine Großmutter dann weiter, „wenn ich noch daran denke: ich kam wohl oft in das Haus. Die Frau Rentmeisterin war ganz dick und ganz rot im Gesicht. Wenn es dann des Sommers warm war, so ging sie in den Keller. Dort setzte sie sich auf die kalten Steine, um sich zu kühlen. Aber sie hatten ungeratene Kinder. Sie sind derart in die Welt zerstoben, daß man nicht weiß, wo sie geblieben sind. Das Haus aber ist verfallen.“


III. Verhätschelte Krämerfamilie in Hilchenbach


In dem nämlichen Flecken lebte noch eine Familie, die zu meiner Zeit gestiegen und dann wieder gefallen war. Mit dieser ging es zu, wie im folgenden beschrieben.


1. Schulmeister wird Händler


Es wohnte dort ein Schulmeister, der ein geschickter Mensch war. Auf den Dörfern umher hielt er Schule.237

Weil er nun aber sehr geschickt und auch sonst ein braver Mensch war, so gab man ihm ein Amt, bei dem er viel Geld einzunehmen hatte.238 Er setzte sich in den Flecken, baute sich ein schönes Haus, nahm sich eine hübsche Frau, legte sich einen Kramladen an und handelte mit Wein.

Nun sagte ein jeder: das kann der Mensch doch nicht mit seinem eigenen Geld tun! Denn er hat nichts und seine Frau nicht viel. Dem mag nun sein, wie es will: man weiß es nicht. Jedenfalls war der Mann immer ein guter, ehrlicher Mensch. Er lebte recht gut, trank dabei ein gutes Glas Wein, und so machte es seine Frau auch. Der Frau gefiel es so gut in der Welt, daß sie wohl sagte: wenn sie wüßte, daß sie es ewig so gut haben würde wie jetzt, so verlangte sie nicht nach dem Himmel.


2. Kinder geraten in Armut


Der Mann kam ehrlich an sein Ende und die Frau auch. Sie starben beide in Wohlstand. Nie hat man gehört, daß sie jemanden betrogen hätten. Nun hatte er viele Kinder. Der älteste Sohn verheiratete sich ins Haus. Er führte eine reiche Frau heim. Die anderen Kinder heirateten so umher: bald besser, bald schlechter. Als es aber nun zur Teilung kam, so waren gerade so viel Schulden da als Vermögen. Alles wurde verkauft, und das tat der älteste Sohn. Als die Schulden bezahlt waren, da hatten alle Kinder nichts.

Die Kinder, welche sich zu Lebzeiten der Eltern vermählten, hatten ziemlich reich geheiratet. Die aber noch ledig waren, denen ging es nun schlecht: sie mußten dienen.239

Der älteste Sohn hatte also das väterliche Haus bezahlt241 und wohnte darinnen. Er fing nun mit seiner Frau einen Großhandel an. Er setzte sich in weitläufige Umstände; er lebte herrlich und in Freuden. Seine Kleider waren fein, kommode242 und gar prächtig. Deren besaß er eine Menge. Das Essen war fett, niedlich243 und in allem Überflusse immerfort auf seinem Tisch. Dabei labte er sich mit den kostbarsten Weinen. Deren trank er sich herzlich satt, ob er sich gleich niemals vollsoff. Der Mann wurde endlich so dick, wie er lang war. Seine Frau starb ihm. Er machte bankrott und starb auch. Nun schmachten seine Kinder im Elend.


3. Falsche Erziehung der Eltern


Seht: bei dieser Familie lag der Fehler an Vater und Mutter. Ein Mann, der ein herrschaftliches Ämtchen oder nicht viel Einkommen hat, der muß nicht so gut leben, wie er es ausführen könnte. Denn die Kinder werden des guten Lebens gewöhnt: sie werden darin aufgezogen. Nun trägt aber den Eltern ihr geringes Einkommen nicht so viel ein, daß sie jedem Kind so viel mitgeben können, um das gute Leben fortzusetzen, an das es gewohnt ist. Da gibt es dann Elend. Die gute Frau, die den Himmel so gern auf der Welt haben wollte, hatte ihre Kinder mit allerlei Leckereien aufgezogen. Daran hatte sich nun der älteste Sohn gewöhnt. Er lebte so fort und machte endlich bankrott. Seine Kinder aber waren nun bettelarm.

Daher kommt es nun, daß die meisten Familien wieder zurückgehen. Die Kinder werden verzärtelt und sind hernach des guten Lebens gewohnt. Sie sind dann keine Haushälter. Kommt nun noch unrechtes Gut dazu, so ist vollends alles verdorben. Denn unrecht Gut gedeiht nicht. Freilich gibt es auch noch andere Ursachen, warum die Kinder reicher Eltern arm werden. Es liegt nicht immer am Verzärteln.


IV. Falsche Erziehung bringt Handwerkerfamilie zu Fall


In dem nämlichen Flecken war noch ein anderes Haus, davon ich euch erzählen will. Hier bestand die Schuld nicht im Verhätscheln der Kinder. Vielmehr führte eine andere Ursache zum Verfall.


1. Bäcker verlegt sich auf den Handel


Es lebte dort ein Mann, der ziemlich viel von seinen Eltern geerbt hatte. Auch heiratete er eine Frau, die ihm etwas zubrachte. Mit diesem Vermögen war der Mann jedoch keineswegs zufrieden. Auch wurde ihm die Zeit viel zu lang, bis ihn unser Herr Gott in seinem Beruf segnen würde. Doch war er dabei zu ehrgeizig,244 um die Leute grob zu betrügen. Aber aus so kleineren Betrügereien machte er sich nicht eben viel.

Er fing nun so allerhand an. Erstlich war er Bierbrauer und Bäcker. Beides ging gut, und er hatte reichlich Nahrung daran. Jetzt fing er aber auch an zu schlachten. Da er Schöffe245 war und eine Perücke trug, so sah es kurios aus, wenn er so durch die Dörfer lief, als wenn ihn einer jagte und dann an jeder Tür fragte, ob da ein Kalb zu verkaufen wäre.246

Das alles war ihm aber noch nicht genug. Er gab sich auch noch ans Handeln. Er kaufte und verkaufte holländische Waren.247 Weil ihm aber immer bange war, der möchte zu viel verspielen, so wagte er nichts. Daher verdiente er dann auch nicht viel. Doch wurde er nach und nach so ziemlich reich. Er hätte damit zufrieden sein können. Allein, Zufriedenheit war nicht in seiner Natur. Wenn er des Morgens aufwachte, dann lief er unruhig im ganzen Haus herum und sang sein Morgenlied. Er tat dies aber so geschwind und so eilig, daß man seiner Andacht lachen mußte.

In der Haushaltung wurde nichts Unnötiges vertan. Trotzdem war alles schicklich. Ein jeder kriegte satt zu essen und zu trinken. Das kam wohl von der Frau her: sie war brav und ordentlich. Die Kinder waren also auch alle geziemend erzogen.


2. Fähigkeiten der Kinder werden unterdrückt


Ein Fehler lag freilich darin: Weil der Vater alles geschwind aus ihnen machen wollte, so wurde aus allem gar nichts. Denn jedes Ding erfordert seine Zeit und Weile.

Zum Exempel: der älteste Sohn sollte seines Vaters Hantierung treiben. Nun hatte der Vater nicht viel gelernt. Da sollte jetzt der Sohn aus dem Fundament das Schreiben und Rechnen lernen.248 Ja, du lieber Gott! Der hatte Lust zu Pferden und zum Fuhrwerk: das war seine Sache, nicht aber das Rechnen und das Schreiben.249 Er lernte zwar noch so ziemlich, aber doch nicht, wie es sein Vater wünschte. Da schlug ihn nun sein Vater und plagte ihn Tag und Nacht mit Lernen. Am Ende war er so dumm wie ein Stück Holz. Alle Lust und aller Mut waren nun fort.

Er heiratete eine ziemlich reiche Frau. Die aber war ebenfalls ein Mutterkind. Denn obgleich sie nur vier Stunden von zu Hause war, so kriegte sie doch das Heimweh so stark, daß sie an Zehrung litt und starb.250 Seine Kinder erzog er nun gar nicht. Denn weil sein Vater ihn verdorben hatte, so wollte er die Seinigen nicht verderben. Er ließ sie deshalb aufwachsen wie das Vieh. Kurz: noch zu Lebzeiten seines Vaters wurde er bettelarm.

Der zweite Sohn war noch dümmer. Mit dem wollte es noch viel weniger fort. Auch er wurde bald arm.251


3. Wichtigkeit ausreichender Bildung


Seht, ihr lieben Leute: wie viel kommt doch auf die Kinderzucht an! Alles Glück und Unglück in den Familien hängt davon ab. Sorgt ihr nur dafür, daß ihr euch ehrlich ernährt; aber nicht mit Geizen, Scharren und Schrappen,252 sondern mit christlicher Sparsamkeit sowie unter beständigem Beten und Arbeiten. Diese Lebensart ist schon die halbe Kinderzucht! Denn da sehen es die Kinder und werden von Jugend auf daran gewöhnt. Da geht es mit der Kinderzucht viel leichter. Oh, die Gottseligkeit253 ist zu allen Dingen nütze!


V. Hochmütige Schlosserfamilie zu Hilchenbach


Ich kann mit dem Flecken nicht fertig werden: ich muß da noch mehr davon sagen. – Der Hochmut richtet auch manche Familien zu Grunde. Hütet euch vor dem Hochmut, denn er kommt immer vor dem Fall.254 Es lebte dort ein alter Schlosser: ein sehr geschickter Mann. Er hatte drei Söhne und eine Tochter; wo die Tochter geblieben ist, das weiß ich nicht. Der Mann verdiente mit seiner Kunst viel Geld, so daß er reich wurde. Seine Frau hatte es im Kopfe: sie war stolz. Die Kinder wurden ziemlich hochmütig erzogen. Der Hochmut war ihnen von der Mutter her gleichsam angeerbt. Die drei Söhne waren alle viel älter als ich.


1. Unglück beim Feuerwerk


Als der Fürst an die Regierung kam,255 da waren überall Freudenfeste im Lande. Die Bürger des Fleckens wollten sich dabei nun auch sehen lassen. Der Schlosser und seine Söhne verstanden allerhand Feuerkünste, daher erhielten sie den Auftrag. Auf einem Hügel bei dem Flecken wollten sie ein Feuerwerk abbrennen. Es sollte des Fürsten Namen in der Luft brennen. Auch wollten sie eine kleine Kanone lösen, und was sie noch mehr vorhatten.

So etwas wird des Abends spät im Finstern veranstaltet. Da hatte nun der Schlosser mit seinen Söhnen das alles vorbereitet. Nun gingen sie bei Anbruch der Nacht dorthin und wollten das Feuerwerk anzünden. Der alte Schlosser steht vor einer Kanone, sein Sohn dahinter und raucht Tabak. Dabei fällt ihm nun ein Funke von der Pfeife auf das Zündloch der Kanone. Diese geht los, und der Vater bleibt auf dem Platze tot. Einem zweiten Mann reißt es die Ferse an einem Fuße weg. Das war nun ein schönes Feuerwerk! Aus diesem wurde natürlich nichts. Denn wo immer ein Sohn seinen Vater totschießt, da hat die Freude ihr Ende. Nun war es aber geschehen. Sie brachten den toten Vater nach Hause; seine Frau fiel in Ohnmacht.


2. Kinder entwickeln sich schlecht


Die Söhne setzten nun des Vaters Hantierung fort. Sie waren ebenso künstlich256 als der Vater, deshalb konnten sie alle wohl leben. Auch verheiratete sich der älteste Sohn in ein Nachbarshaus ziemlich günstig. Die beiden anderen Söhne blieben aber noch immer bei der Mutter.

Des Hochmuts aber war kein Ende. Ich glaube auch noch immer, daß das Unglück mit dem Vater eine Strafe des Hochmuts war. Unser Herr Gott ließ es zu, um sie dadurch klein und demütig zu machen.257

Bei dem ältesten geschah dies auch. Dem war das Unglück passiert, und er war nun ein ordentlicher, braver Mann. Die anderen aber waren und blieben Windbeutel.


3. Zweitgeborener bleibt ein Tunichtgut


Der zweite Sohn, der nun bei der Mutter der älteste war, begegnete mir schon als ausgewachsener Bursche, als ich noch ein Knabe war. Wenn wir dann am Sonntagnachmittag in die Kirche gingen,258 dann fragte der Pastor die jungen Leute aus der Vormittagspredigt und aus dem Katechismus.259

Da war dann immer der Schlosser der Gelehrteste unter uns allen. Der konnte dem Pastor antworten, daß man eine Freude daran hatte. Aber dabei war er doch immer stolz.

Zu der Zeit führte er sich auch brav auf, so daß jedermann sagte, er sei ein rechtschaffender Bursche, wenn er nur nicht so stolz wäre. Da kam er dann in die Kirche. Damals fingen die großen Hüte an, Mode zu werden. Er hatte immer den größten Hut auf! Auch fingen die papierenen Schnupftabaksdosen erst an. Er hatte die größte und schönste. So war es mit allen Sachen. Der Hochmut brachte ihn zum Unglück, und das ging so zu.

Er hatte einen großen Nagel im Kopf, und darum wollte er auch vornehm heiraten. Zu seines gleichen Handwerksleuten ging er nicht hin, sondern nur zu Vornehmeren. Aber da bekam er dann immer einen Korb. Darüber wurde er nun immer älter, und das gefiel ihm auch nicht. Da kam es dann erstlich heraus, daß ein armseliges Mädchen, aber eines angesehenen Mannes Tochter, schwanger von ihm war. Jetzt mußte er das arme Ding heiraten. Aber das gab nichts. Das Weibchen konnte er nicht lieb haben. Auch hatte sie nichts; sie war nicht reich. Da gab es nun lauter Verdruß. Auch vermochte sie die Kindbette260 nicht auszuhalten. Sie starb im zweiten. Das Kind war tot, und das Erstgeborene auch.

Nun war er wieder frei. In der Nähe konnte er jetzt nicht mehr nach seinem Sinne freien. Daher hielt er in der Ferne Umschau. Bei dieser Gelegenheit traf er in einer Stadt, sechs Stunden von da, ein Stück Fleisch an, das Geld hatte und auch ziemlich ansehnlich war. Sonst jedoch war nichts an ihr, das nutzte. Da ging nun alles mit ihm hinter sich. Er war zu stolz, um arm zu werden. So geriet er gar ans Stehlen. Ich konnte es kaum glauben, daß dieser Mensch so verfallen war, als ich es das erste Mal hörte: und doch war es wahr! Das Stehlen trieb er so lange, bis er weglaufen mußte. Nun weiß ich nicht, wo er geblieben ist. Seine Mutter war nun auch schon lange tot, und aller Segen ist vom Hause weg. So etwas kann die Hoffart anrichten! Sie führt immer zum Fall.


VI. Chronik des Hauses Bertram


Nun will ich einmal von dem Flecken aufhören und von anderen Familien erzählen, deren Steigen und Fallen auch heute noch vielerlei anderes erkennen läßt. Denn was ich bisher erzählt habe, das ist so vor vierzig bis fünfzig Jahren geschehen. Aber es gibt auch in dieser Zeit anschauliche Beispiele aus großen, reichen Familien. Das hat vielleicht mehr zu sagen. 260


1. Schneider schwingt sich auf


Es mag wohl hundert und mehr Jahre zurückliegen. Da wohnte in einer Stadt ein Schneider, der sein Handwerk ordentlich trieb. Auch war er ein braver Mann, der wohl leben konnte. Er hatte einen Sohn, den er auch zum Handwerk führte. Dieser jedoch hatte kein Sitzfleisch und keine Lust dazu. Bei ihm war es wohl Stolz.262 Kurzum: er hatte keine Laune dazu, sondern wollte lieber handeln. Sein Vater hatte nichts dagegen; er versuchte es mit ihn. Daher gab er ihm etwas Geld und sagte: „Hier: fang an zu handeln! Wenn dir nur unser Herr Gott Glück gibt, so bin ich zufrieden.“ Der Schneider hieß Bertram.

Der junge Bertram ging nun und ließ sich einen Kasten auf den Rücken machen. Er kaufte sich Nähnadeln, Garn, Schnüre und dergleichen Waren. Damit ging er von Haus zu Haus und verkaufte auch alles ganz ordentlich.263 Und damit ich nicht so lange erzähle: er verstand das Ding so ordentlich, daß er bald ein Kapitälchen von fünfhundert Taler verdient hatte264

Nun entstand ein Krieg. Da reiste er den Armeen nach. Er lieferte Wein, Branntwein und allerhand solcher Waren, die beim Heer gebraucht werden. Auf diese Weise wurde er in etlichen Jahren sehr reich. Als dann der Krieg zu Ende war, zog Bertram sein Geld zusammen. Er hatte nun die Welt kennengelernt. Bertram verheiratete sich; nahm sich aber keine reiche Frau, sondern eine Bürgerstochter, die jedoch die Haushaltung recht wohl verstand. Er selbst war nichts weniger als stolz. Er hatte einen Bauernrock an und ging auch nicht anders gekleidet als ein Bauer. Sein Lebtag ritt er nicht nach Frankfurt auf die Messe. Vielmehr ging er zu Fuß mit seinem langen dornenen Stock dahin.265

Ebenso reiste Bertram zu Fuß nach Leipzig und Braunschweig. Seine Messebücher und Brieftaschen trug er auf dem Rücken in einem Reisesack. In Frankfurt, Leipzig und Braunschweig hatte er seine Warenlager; auch in Amsterdam hatte er einen starken Handel.

Sein Haus war wie ein ordentliches Bürgerhaus. Da war kein Staat, keine Pracht: von dem allem nichts. Was aber dahin gehörte, das war alles fein und gut sowie zur Notdurft da.266 Als Bertram schließlich starb, da hinterließ er seinen Kindern über hunderttausend Reichstaler. Nun, das war wahrlich ein guter Anfang!

Bertram selbst hatte nicht viel gelernt; er konnte aber lesen und schreiben. Nun sah er aber sehr wohl ein, daß ein Kaufmann mehr verstehen müsse. Daher ließ er seine beiden Söhne alles das ordentlich lernen, was ein Kaufmann nötig hat. Auch schickte er sie in die Fremde auf ein Kontor,267 wo sie die Handlung gehörig lernten.


2. Söhne ändern den Lebensstil


Solange der Vater lebte, durften sie keinen Staat268 machen. Sie mußten eben so gut wie er zu Fuße auf die Messen reisen. Als er aber tot war, da gingen die Dinge anders. Die Söhne brachen das Haus ab und bauten sich für achttausend Reichstaler ein ordentliches Kaufmannshaus dahin, worin sie beide auch wohnen konnten.269

Auch schaffte sich ein jeder ein Reitpferd an, und nun ritten sie zur Messe. Diese Gebrüder Bertram habe ich noch gekannt. Sie waren sehr wackere Männer und handelten zusammen als Gesellschafter. Nun war im Hause Bertram alles ordentlich kaufmannsmäßig eingerichtet. Nichts war übertrieben, sondern alles so, wie es sich gehört. Die beiden heirateten nun auch zwei Schwestern, deren jede dreißigtausend Taler reich war. Es waren recht brave Frauen.

Die beiden Brüder handelten dreißig Jahre lang. Da starb der ältere zuerst, hernach auch bald der jüngere. Jeder hinterließ nun seinen Kindern hundertzwanzigtausend Taler. Die Kinder verheirateten sich nun auch wieder an gute Häuser. Jetzt sind abermals zwei Bertrame, welche der Alten Söhne sind, im Hause und in der Handlung.


3. Enkel auf Pracht ausgerichtet


Aber doch scheint es schon, als wenn die Familie anfing zu fallen. Sie stieg bis an der Gebrüder Bertram Tod. Bei den Kindern aber will es nicht recht fort. Denn bei ihnen ist der Staat nun sehr hoch gestiegen: viel höher als bei den Eltern. Und doch mußten die Kinder der Eltern Geld unter sich teilen.270

Sie haben also lange nicht so viel als die Eltern und machen doch mehr Staat. Seht: da muß es ja hinter sich gehen!271

Ich habe oft so bei mir darüber nachgedacht. Mit der Kaufmannschaft ist es nichts Beständiges. Man wird sehr selten einen Kaufmann finden, dessen Familie hundert Jahre nacheinander in gleichem Wohlstand geblieben wäre. Es steigt und fällt da immer, und das kommt gemeiniglich durch die Pracht und durch die Verschwendung. Eine gute, ehrliche Bauernfamilie hält sich am allerbesten bei Wohlstand.


VII Anzeichen familiären Niedergangs


Ich weiß noch viele Familien, die jetzt an Steigen sind, und die sich aus einem geringen Stande hervorgemacht haben. Aber da ist man nicht sicher, wie lange es noch dauern wird. Ich jedoch kann es so ungefähr wissen, wann es wieder bergab geht.

Seht: wenn man erkennt, daß ein Hausmann und seine Kinder nicht mehr wissen, wie sie sich kleiden sollen und was sie essen und trinken mögen, dann geht es bergab. Da habe ich so meine Merkzeichen. Wenn der Bauer anfängt, mit Pferden, Kühen sowie Ochsen zu handeln und oft nach dem Wirtshaus zu gehen, dann denke ich: „Oh weh: jetzt geht es zu Ende!“ Wenn der Handwerksmann am hellichten Tage werktags an der Tür steht und aus einer langen Pfeife raucht, dann weiß ich, daß da bald Schränke, Bettwerk und Hausgeräte feil werden. Wenn der Gelehrte und Bediente Gastereien und Visiten272 hält, und wenn seine Frau Juwelen kauft, so werden (wenn es nicht ein vornehmer Bedienter ist) bald Bücher und Hausrat feil. Und wenn ein Kaufmann einmal anfängt, wohlfeil zu verkaufen und viele Waren teuer auf Kredit nimmt, dann gibt es einen Bankrott. Wenn ein junger Kaufmann, der nicht viel Vermögen hat, ein Reitpferd für seinen eigenen Leib hält und es oft vertauscht und verkauft, so weiß ich gewiß, daß er bald wieder zu Fuß gehen wird.

Dererlei Merkzeichen habe ich noch mehr. Ich will sie aber nicht alle gerade so sagen. Denn ein kluger Mann behält auch noch etwas für sich!


VIII. Geschichte von Peter Adolf Clarenbach


Nun will ich zum Beschluß noch eine Geschichte erzählen.273 Ein Handwerksmann wohnte an einer Straße, wo viele Fuhrleute vorbeifuhren. Da fiel es ihm nun ein, er wollte wohl Bier und Branntwein feil haben sowie die Fuhrleute beherbergen. Das tat er dann auch. Dadurch wurde er mit den Fuhrleuten bekannt. Sie führten Eisen und Stahl in das Kirchdorf, wo unser Mann zum Gottesdienst ging.274 Da fing er nun an, ersparte sich ein Kapitälchen und kaufte sich Eisen und Stahl, wenn es wohlfeil war. Er verkaufte es dann wieder in dem Kirchdorf, sobald es teuer wurde. Auf diese Weise gewann er in etlichen Jahren viel Geld. Doch blieb er immer ein Handwerksmann und Wirt.

Nun schickte aber einmal der Fürst des Landes, wo das Eisen und Stahl gemacht wurde, einen Rat in das Kirchdorf.275 Der sollte achttausend Taler für ihn leihen. Niemand aber borgte dem Fürsten das Geld. Solches erfuhr unser Mann. Er hatte bei den Kaufleuten Kredit, und so lieh er hier und da heimlich so viel zusammen, wie der Fürst brauchte. Nun gab er dem Rat das Geld mit.

Der Fürst war deshalb dem Manne erkenntlich. Er war selber im Besitz einer Eisen- und Stahlfabrik. Jetzt mußte sein Verwalter an niemanden anders verkaufen als an diesen Mann, und zwar zu wohlfeilem Preise. Nach und nach bezahlte ihm auch der Fürst die achttausend Taler ehrlich.

Nun hatte der Mann viel Geld gewonnen. Er baute daraufhin selber eine Eisenfabrik, die sehr groß war. Seinen Söhnen hinterließ er über hunderttausend Taler bares Geld und dazu noch Güter, Häuser und Eisenhämmer. Bis dahin stieg er mit seiner Familie. Bis an den heutigen Tag sind die meisten von seinen Kindern und Kindeskindern noch in Flor.276

Einige freilich sind schon den Krebsgang gegangen, und die anderen werden wohl nachfolgen. Ausgenommen davon ist ein Mann, der an Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit wenige seinesgleichen hat. 277 Ich glaube, er wird mit seinen Kindern noch gesegnet sein.278 Ob der Segen auch auf die Kindeskinder übergehen wird, das kommt auf deren frommes, ordentliches Leben an. Wie aber schon gesagt: den anderen Zweigen des obigen braven Mannes279 sehe ich es allen an, daß sie nach und nach verdorren werden. Da liegt nun die Schuld nicht eben am Stolz, wohl aber an Ungerechtigkeit, Betrügerei, unmenschlich wilder Lebensart, Fressen und Saufen, und was der Greuel noch mehr sind.


C. Weg zum familiären Glück


Oh ihr Leute: laßt es euch gesagt sein! Hört mich und folgt mir, eurem Lehrer! Wollt ihr mit euren Kindern und Kindeskindern glücklich sein, so wählt euch einen ehrlichen Beruf, der sich am besten für euch schickt. Seid dann fleißig in eurem Beruf und sparsam. Haltet ordentlich damit Haus und lebt auch ziemlich davon, so wie es sich gehört. Erquickt euch zuweilen, wenn es euch nottut. Was ihr dann übrig habt, das haltet hübsch zu Rat280 und verwahrt es euren Kindern. Sucht so immer mit Ehren eure Güter zu vermehren.

Wo ihr auch eurem Nächsten dienen könnt, da müßt ihr es nicht versäumen. Den Armen tut Gutes, wo ihr könnt. Das bringt euch unser Herr Gott an einem anderen Ort wieder doppelt ein. Und endlich seid gottesfürchtig und erzieht auch eure Kinder in Gottesfurcht.281 Dann werden auch eure Kinder und Kindeskinder grünen und blühen. Wenn dann auch eure Familie langsam steigt, so wird sie auch desto langsamer wieder fallen.

Anmerkungen

1 Der Begriff Familie hatte um 1780 eine etwas andere Bedeutung als heute. Man verstand darunter nicht bloß (wie jetzt) die häusliche Lebensgemeinschaft, die Hausgenossenschaft, sondern auch die in gemeinsamer Arbeit verbundenen Anverwandten samt dem Dienstpersonal, also die Leistungsgruppe, die Belegschaft, die Mitarbeiter. Es galt als selbstverständlich, daß alle Kinder und sämtliche im Haus lebenden Verwandten in der Landwirtschaft bzw. im Handwerk des Hausvaters mithalfen. Dieser weitere Inhalt des Begriffes “Familie” ist auch stets bei den folgenden Ausführungen von Jung-Stilling zu denken.

Das Wort “Familie“ kam erst im 16. Jahrhundert (über das Französische aus dem lateinischen FAMILIA in gleicher Bedeutung) in die deutsche Sprache. Zuvor sagte man “Haus”, und dies blieb im Bibeldeutschen sowie im (gehobenen) Gebrauch der kaufmännischen Sprache (etwa: “unser Haus besteht seit 200 Jahren”, “Haustarif”, “Haus-Meister“ [= tamias = DISPENSATOR!] erhalten.

 

 

  • Originalquelle: Ueber die Würkungen des Prachts und des Luxus auf die Gewerbe. Von J. H. Jung, Prof. In: Bemerkungen der Kuhrpfälzischen physikalisch–ökonomischen Gesellschaft, von dem Jahre 1781. Mannheim und Lautern, in der neuen Hof- und akademischen Buchhandlung, 1782, S. 253 bis 336. — Jung-Stilling weist dem Wort „Pracht” durchgehend das männliche Geschlecht zu.

2 Jung-Stilling ging früh schon dem Großvater beim Köhlerhandwerk zur Hand; beim Vater lernte er die Schneiderei und das Knopfmachen. Die Familie besaß eine (teil)selbstversorgende Landwirtschaft mit eigenem kleinen Viehbestand und hatte Arbeit in den genossenschaftlich betriebenen Waldungen („Haubergen”) des Siegerlandes zu leisten. Als Gehilfe des Patenonkels sammelte Jung-Stilling auch Kenntnisse in der Geodäsie (Vermessungskunde).

Sieben Jahre hindurch war Jung-Stilling in allen Sparten der kaufmännischen Betriebsführung tätig als die rechte Hand des bedeutenden bergischen Industriellen Peter Johannes Flender (1727–1808). Sieben weitere Jahre wirkte er als Arzt im damals bereits gewerbereichen Wuppertal-Elberfeld. Als frühreifer Hochbegabter und zeitlebens mit wachsamer Beobachtungsgabe ausgestattet, sammelte Jung-Stilling Erfahrungen und praktische Kenntnisse, die sich auch in seinen sämtlichen ökonomischen Lehrbüchern niederschlagen.

Siehe zum Lebenslauf knapp Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1988 und ausführlich: Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe, mit Anmerkungen hrg. von Gustav Adolf Benrath, 3. Aufl. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1992.

3 Anspielung auf Joh 1, 27. – Im alten Rom war das Anlegen und Ausziehen der (meist bis über die Waden reichenden) Schuhe der Herrschaft sowie der Gäste (man zog gewöhnlich die Schuhe aus, wenn man sich im Haus zu Tische begab) Aufgabe eines sehr niedrig eingestuften Bediensteten.

4 Eine Bemerkung, die sich in den sozialwissenschaftlichen Schriften von Jung-Stilling häufig findet. Tatsächlich liegt das Jung-Stilling besonders Kennzeichnende gerade darin, daß er bei (wirtschafts)politischen Maßnahmen stets an die Reaktion der betroffenen “kleinen Leute” erinnert. Er bringt eine Reihe von Beispielen, wie sich gut durchdachte Verordnungen der “hohen Herren” verhängnisvoll auswirken. Siehe etwa Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem “Volkslehrer”. Berlin (Duncker & Humblot) 1990, S. 76 ff.

5 Hochmütig = hier: hoffärtig (hoch über andere Menschen hinaus fahren wollend), gefallsüchtig, eitel.

6 Empfindung = hier: Erregung des Gemütes durch Reize, wobei Reiz = Ereignis außerhalb oder innert des Körpers, das einen Empfänger (Rezeptor) in Bewegung setzt, etwa den Geschmacks- oder Geruchssinn.

7 Niedlich = hier: lusterweckend; vom althochdeutschen niot: Verlangen.

8 Wollust = hier: Gier, Verlangen nach Genuß als falsches Bedürfnis. – Siehe ausführlicher Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft. Berlin (Duncker & Humblot) 1988, S. 10.

9 Bei Jung-Stilling bezeichnet das Wort „Üppigkeit“ dasselbe wie „Luxus“, also ein Vergnügen an Dingen, die
– nicht wahr (nämlich: dem Zweck der zeitlichen und ewigen Glückseligkeit entsprechend),
– nicht gut (nämlich: die Kräfte des Leibes und der Seele vollkommener machend) und
– nicht schön (nämlich: eine dauerhafte, den Menschen veredelnde Freude bereitend) sind.
Unter „Dingen” versteht Jung-Stilling dabei sowohl Güter im ökonomischen Sinne als auch geistige Güter; siehe Jung-Stilling-Lexikon Religion. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1988, S. 103.

10 Siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 9), S. 96.

11 Es galt: 1 Reichstaler = 90 Kreuzer = 360 Pfennig. – Der Tagelohn für einen Handwerker im Herzogtum Berg lag um 1780 bei höchstens 30 Kreuzer. – Das Vermögen betrug mithin etwa so viel, wie ein Handwerker jener Zeit in 10 000 Tagen oder etwa 33 Jahren verdient hätte.

Der Weinhändler, von dem Jung-Stilling hier berichtet, hieß Peter vom Heydt, und alles hat sich genau so zugetragen, wie es im folgenden geschildert wird. Er fing 1752 mit dem Hausbau an. – Siehe mehr dazu bei Hermann J. Mahlberg: Der Wunderbau von Elberfeld. Ein Beitrag zur rheinisch-bergischen Architekturgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert. Wuppertal (Müller und Busmann) 1992 (Das Baudenkmal, Bd.2).

12 Tresse = Borte, Besatz; abgeleitet vom griechischen tricha: dreifach.

13 Gäh = jäh in der Bedeutung: steil, abschüssig.

14 Lagermauer = bis tief in das (zu diesem Zweck ausgeschachtete) Felsgestein reichendes Mauerwerk.

15 Jung-Stilling schildert das Bauen vor Felsen an anderer Stelle als die Besonderheit der Häuser im Herzogtum Berg, wo er von 1762 bis 1778 lebte; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Stahlhandel, Metallverarbeitung und Mechanisierung im Bergischen Land. Beobachtungen und Einschätzungen. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992, S. 37 (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 4).

16 Boyen = aus Wollenzeug feiner als Fries und gröber als Flanell (französisch: boie) bestehend.

17 Frugal = sparsam, einfach, dürftig; von lateinischen FRUGALIS in gleicher Bedeutung.

18 Equipage = Wagen mit Pferden samt Bediensteten, zumindest einem Kutscher und regelmäßig auch noch einem Gepäck-Knecht; ein französisches Wort, das seinerzeit auch im Deutschen gebraucht wurde.

19 Krämer = Kleinhändler: ein Kaufmann, der „Kram“ im kleinen (also: einzeln, stückweise, maßweise, ellenweise, usw.) verkaufte. Seine soziale Einstufung war schon im Altertum sehr niedrig; Detailhandel galt als unehrenhaft. So schreibt Marcus T. Cicero: „Der Kleinhandel ist den unsauberen Geschäften beizuzählen, während man den kapitalkräftigen Großhandel … mit vollem Recht loben kann” („MERCATURA AUTEM, SI TENUIS EST, SORDIDA PUTANDA EST: SIN MAGNA ET COPIOSA … VIDETUR IURE OPTIMO POSSE LAUDARI“), DE OFFICIIS, LIB. I, CAP. XLII, § 151.

20 Schachern = feilschen; vom hebräischen sachar: handelnd umherstreichen. – Zur Zeit von Jung-Stilling zogen verhältnismäßig viele arme, ungebildete (des Lesens und Schreibens nicht kundige und die deutsche Sprache in einer ganz typischen Weise regelwidrig aussprechende) jüdische Hausierer über das Land. Sie vertrieben meistens Waren reicher jüdischer Kaufleute in den größeren Städten auf der Grundlage eines Kommissionsvertrages. Ihr gesellschaftliches Ansehen lag weit unter dem der ortsansässigen Krämer.

Jung-Stilling tritt für die Gewerbefreiheit auch der Juden ein. Er steht aber der Forderung nach deren rechtlicher Gleichstellung (wegen des damals bestehenden Bildungsgefälles zur übrigen Bevölkerung) kritisch gegenüber. Siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 77 f.

21 Handelschaft = die Handlung, als ein Gewerbe betrachtet; dem lateinischen MERCATURA und NEGOTATIO nachgebildet. – Siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 2. Leipzig (Hirzel) 1877, Sp. 380.

22 Wollüstig = hier: bedürfnisvoll, genußsüchtig, schwelgerisch; die heute vorherrschende Bedeutung (geschlechtlich anregend) lag dem Begriff zur Zeit von Jung-Stilling noch nicht bei.

23 Bequem = hier: wie es sich gebührt, wie es schicklich ist; das urverwandte Wort ist das lateinische CONVENIRE: zusammenpassen, sich ziemen.

24 Gemein = hier und im folgenden: allgemein, üblich, landläufig. Die heutige Bedeutung (niedrig, schlecht, lasterhaft) kam dem Ausdruck (ebenso dem gleichbedeutenden Fremdwort ordinär, wie in „ordinärer Post”, „ordinärem Preis”, usw.) erst im 19. Jahrhundert zu.

25 Interessen = hier: Zinsen eines Kapitals. – Das alte deutsche Wort Zins (vom lateinischen CENSUS: Abgabe) fand in dieser heute vorwiegend gebräuchlichen Bedeutung erst im 19. Jahrhundert Eingang in die kaufmännische Finanzsprache.

Es ist daher immer darauf zu achten, was in der älteren Literatur (auch in Abhandlungen zum Thema „Wucher und Zins“ bzw. „Zinsverbot“) genau gemeint ist. – Siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 15. Leipzig (Hirzel) 1956, Sp. 1473 ff.

26 Prognostikon = Vorzeichen, Anzeichen: ein griechisches Wort.

27 Glückseligkeit = bei Jung-Stilling das letzte Endziel und höchste Gut des Menschen, das seinen eigentlichen Lebenssinn ausmacht, genauer: die naturgemäße, die eigene Zweckbestimmung erfüllende Betätigung des Geistes durch Erkenntnis der Wahrheit; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften zum Gebrauche der Vorlesungen auf der Kurpfälzischen Kameral Hohenschule zu Lautern. Lautern (Verlag der Gesellschaft) 1779, S. 6 ff. sowie Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 64 zur gesellschaftlichen Glückseligkeit.

28 Jung-Stilling war ein Freund von belehrenden und das Wahre, Schöne und Gute befördernden (Volks-) Schauspielen. Er spricht sich aber gegen die zu seiner Zeit vorherrschenden Theaterstücke mit unsittlichem und verrohendem Inhalt aus; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft. Leipzig (Weidmannische Buchhandlung) 1788 (Reprint Frankfurt 1970), S. 136 f.

29 Über die Mode – verstanden als den sich ständig veränderten Zeitgeschmack vor allem in der Kleidung – äußert sich (der gelernte Schneider!) Jung-Stilling wiederholt sehr kritisch; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 101 f. sowie Hans Grellmann: Die Technik der empfindsamen Erziehungsromane Jung-Stillings. Ein Beitrag zur Empfindsamkeit der Aufklärung; neu hrsg. Von Erich Mertens. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1993, S. 329 (Register, Stichwort “Mode”).

30 Putz = hier: Schmuck. – Bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts trugen sowohl Frauen als auch Männer außerhalb des Hauses zu jeder Jahreszeit eine Kopfbedeckung.

31 Wohlstand = hier: das Übliche und Gebräuchliche, die Regel.

32 Sphäre = Wandelbahn, Wirkungskreis, Rahmen; ein griechisches Wort.

33 Industrie = hier: Fleiß, Emsigkeit, Betriebsamkeit; vom lateinischen INDUSTRIA in gleicher Bedeutung. – Der heutige Sinn (Industrie = Summe von Fabriken eines Gewerbezweiges) liegt dem Wort zur Zeit von Jung-Stilling noch nicht bei. Sie setzt sich erst ab etwa 1850 durch. Siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 2. Leipzig (Hirzel) 1877, Sp. 2112.

34 Auszeichnen = hier: anstreichen, kennzeichnen, markieren.

35 Nomadisch = weidend umherstreifend; vom griechischen nomas (Genetiv: nomados) in gleicher Bedeutung.

36 Enthusiastisch = begeistert, hochsinnig, hochfühlend; ein griechisches Wort.

37 Siehe zum Entwicklungsgang eines Volkes nach Jung-Stilling beispielhaft die Schilderung vom Aufstieg des Königreichs Potokotschischi bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Aus Wirtschaft und Gesellschaft. Ausgewählte kleinere Abhandlungen. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992, S. 44 ff. (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 3).

38 Aufgeklärte Vernunft meint bei Jung-Stilling die Einsicht in die Regeln, durch deren Beobachtung der Mensch vollkommener und glücklicher wird: wodurch er das Wahre, Schöne und Gute erkennt und so zur eigenen Zweckbestimmung, seiner Glückseligkeit, findet. Siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 4.

39 Philosophisch = hier: gründlich forschend, denkend, vernunftwissenschaftlich gesteuert.

40 Der Mensch ist zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit bestimmt. Beides erreicht er bloß durch solche Mittel, welche diesem Ziele angemessen sind. Gewisse Ergötzlichkeiten wie der Luxus befriedigen nun aber definitionsgemäß immer Begehren, die von der Glückseligkeit wegführen. Daher verbietet diese auch die Religion. Siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 9 f.

41 Altfränkisch = unmodern, veraltet, rückständig: nach der Art der alten Franken.

42 Siehe zur Religionskritik auch Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 131 ff.

43 Myops = kurzsichtig; ein griechisches Wort.

44 Jung-Stilling versteht unter wahrer Freiheit, daß jedermann alles das tun dürfe, was er zu seiner Vervollkommnung bedarf. Demgegenüber strebt die falsche Freiheit nach Handlungen, die von der menschlichen Bestimmung (nämlich Erlangung der zeitlichen und ewigen Glückseligkeit) hinwegführen. Falsche Freiheit richtet daher zwangsläufig den einzelnen und die Gesellschaft zu Grunde. – Siehe Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 40 f.

45 Jung-Stilling meint hier die PROVIDENTIA SPECIALIS als den einzelnen Menschen und Gruppen zugewandte Plan in Gottes Wollen; siehe sehr ausführlich erklärend Christlieb Himmelfroh: Jung-Stilling belehrt. Kirchhundem (AK-Verlag) 1991, S. 134 ff., als Download-File unter der Adresse <http://www.uni-siegen.de/~stilling> abrufbar.

46 Direktion = hier: Richtung, Lauf, Gang; vom lateinischen DIRECTIO in gleicher Bedeutung.

47 Jung-Stilling weiß sehr genau, wovon er hier redet. Hatte er doch als Professor in Marburg im Jahre 1790 viermal in der Woche den hessischen Erbprinzen zu unterrichten; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 466, S. 742.

48 Die gesellschaftliche Wertschätzung des größeren Kaufmanns (also nicht auch des Kleinhändlers, des Krämers) lag zur Zeit von Jung-Stilling bedeutend höher als das Sozialprestige des Handwerkers. Solches drückte sich allein schon darin aus, daß man in den Städten Handwerker mit „Meister” (fast regelmäßig gefolgt vom Vornamen), hingegen Kaufleute stets mit „Herr” (und immer verbunden mit dem Nachnamen) anredete.

Der herrschaftliche Fabrikant Peter Johannes Flender (1727–1808), in dessen Hause Jung-Stilling von 1763 bis 1770 als Erzieher der Kinder und Handlungsgehilfe stand, sprach dieses laut Ausweis der „Lebensgeschichte” mit „Herr Informator“ und „Ihr“ an. Jung-Stilling seinerseits hat Flender gegenüber höchst wahrscheinlich „Herr Prinzipal“ und ganz sicher „Sie“ gebraucht.

Peter Johannes Flender zeichnet sich beinebens durch einen gepflegten Briefstil (auch gegenüber seinen Kindern) aus; siehe hierzu die Schreiben bei Ernst Arden Jung: Briefe zum Stand der Eisenindustrie des Siegerlandes und des Bergischen Landes im 18. Jahrhundert. Siegen (Forschungsstelle Siegerland) 1983.

49 Überwinden (vom althochdeutschen ubarwinnan) = übertreffen. Die heutige Bedeutung „überwältigen“ kommt von einem anderen Stamm (winden = sich spiralförmig bewegen) und lag dem Begriff zur Zeit von Jung-Stilling noch kaum bei.

50 Siehe Anmerkung 33.

51 Jung-Stilling will sagen, daß es sich bei dem Hauslehrer um einen im Grunde ungebildeten Menschen handelte; gemein = hier: durchschnittlich, normal. – Siehe näheres zum Schulmeister der damaligen Zeit bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 4), S. 94, S. 140 f. (zum Berufsprestige).

Um 1760, als Jung-Stilling noch selbst Schulmeister in seiner Siegerländer Heimat war, wurde dieses Amt noch unter das des Sauhirten eingestuft; siehe Rainer Vinke: Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften Johann Heinrich Jung-Stillings gegen Friedrich Nicolai (1775/76). Stuttgart (Steiner) 1987, S. 30 (Note 25).

52 Aufklärung = bei Jung-Stilling: Einsicht in alles das, was den Menschen wahrhaft vollkommener macht: was das in ihm angelegte Verlangen nach zeitlichem und ewigem Glück erfüllen kann. – Siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 4.

53 Verhaßt = hier: von ihrer Umgebung mit Abneigung bestraft; gesellschaftlich geringgeschätzt und gemieden. – Zum Begriff „Wollust“ siehe Anm. 22.

54 Glückseligkeit = bei Jung-Stilling: der eigentliche, wirkliche Lebenssinn; das letzte Ziel des Menschen; die persönliche Zweckbestimmung erfüllende Betätigung des Geistes durch Erkenntnis der Wahrheit; siehe Anm. 40.

55 Verfeinerungsschulen = private Lehranstalten (meist in der Form eines Pensionats), in denen gebührliches Benehmen und schickliche Lebensart unterrichtet wurden. Man beschränkte sich auf die Unterweisung in äußeren Formen; eine Charakterbildung lag nicht im unmittelbaren Ziel dieser Schulen. Für Mädchen gab es solche Anstalten noch bis in das 20. Jahrhundert.

Jung-Stilling selbst unterrichtete übrigens im hohen Alter noch an einer derartigen Schule, dem Graimbergschen Institut in Karlsruhe, das 1816 nach Mannheim verlegt wurde. Seine Tochter aus zweiter Ehe Karoline Jung (1787–1821) und nach deren Tod seine Tochter aus dritter Ehe Amalie Jung (1796–1860) amteten später dort als Leiterin; siehe mehr dazu (anonyme Verfasserin): Amalie Jung und das Großherzogliche Fräulein-Institut in Mannheim. Ein Lebens- und Charakter-Bild. Weimar (Böhlau) 1873 sowie Gotthold Untermschloß: Begegnungen mit Johann Heinrich Jung-Stilling. Siegen (Kalliope Verlag) 1988, S. 79 ff., als Download-File unter dem Namen “wirkkraft_geister” eingestellt in die “Nachtodlichen Belehrungen zur Theologie” bei der Adresse <http://www.uni-siegen.de/~stilling>.

56 In Kompanie = beide gemeinsam als Gesellschafter; von französischen compagnie: Handelsgesellschaft.

57 Siehe Anmerkung 33.

58 Siehe auch die Regeln zur kaufmännischen Bildung bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen. Berlin (Duncker & Humblot) 1988, S. 157 ff.

59 Furcht = hier: Achtung, Wertschätzung, Ehrerbietung.

60 Kandidat = ein junger Mann, der die akademischen Studien ordnungsgemäß mit dem Examen beendet hat und nun auf eine lebensberufliche Stelle wartet; vom lateinischen CANDIDUS: weiß gekleidet (weil die Amtsbewerber im alten Rom in weißer Kleidung auftraten). – Vor allem Theologen und Juristen nahmen nach dem Studium zum Lebensunterhalt gern eine Hauslehrerstelle bei einem Adeligen (in der Regel mit dem Titel „Hofmeister“) oder bei einem reichen Bürgerlichen (üblicherweise mit dem Titel „Informator“ an.

61 Über gute Grundschulen wird die Volksbildung am nachhaltigsten gefördert: diesen Kerngedanken trägt Jung-Stilling häufig vor. Er selbst betätigte sich von 1755 bis 1762 als Lehrer in seiner Siegerländer Heimat. – Siehe auch Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 4), S. 89 ff., S. 138ff.

62 Manufakturant = hier: Handwerker; vom lateinischen MANU FACTUM: mit der Hand gemacht.

63 Verkroppt = verkrüppelt; vom niederdeutschen krupen: kriechen.

64 Sehr wahrscheinlich die Grenze zwischen dem Königreich Westfalen (als Teil des Kurfürstentums Köln) und dem Herzogtum Berg; siehe des näheren Johann Heinrich Jung-Stilling: Stahlhandel, Metallverarbeitung und Mechanisierung im Bergischen Land. Beobachtungen und Einschätzungen (Anm. 15), S. 48. ff.

65 Genie = hier: Fähigkeit, Geschick, Talent; vom lateinischen GENIUS: der eingeborene Geist. – Siehe auch Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 50 f.

66 Sonderbar = hier: eigenständig, vor anderem die Aufmerksamkeit erregend (von sonder: für sich, ohne, sowie der Nachsilbe -bar: tragend, also: sich selbst tragend).

67 Ledig = hier: leer, ohne Ladung; vom mittelhochdeutschen ledic: frei.

68 Das heißt: er kannte dank seines günstigen Standorts den regionalen Frachtenmarkt sehr genau und konnte Leerkapazitäten der Fuhrleute zu seinem Vorteil nutzen. – Wohlfeil = billig, preiswert (wohl: leicht, feil: käuflich). Das heute in der ökonomischen Fachsprache und im Umgangsdeutschen gebrauchte billig hatte zu Jung-Stillings Zeit mehr die Bedeutung „schlecht“, „minderwertig“, wenn es auf Güter bezogen wurde.

69 Siehe diese Grundregel näher ausgeführt bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Gemeinnütziges Lehrbuch der Handlungswissenschaft für alle Klassen von Kaufleuten und Handlungsstudirenden. Leipzig (Weygandsche Buchhandlung) 1785, S. 182, § 375. — Dieses Lehrbuch von Jung-Stilling erschien im Nachdruck als Band 10 in der Reihe “Schriften zur Geschichte der Betriebswirtschaftslehre” 1995 im Wirtschaftsverlag Bachem, Köln, hrsg. von Klaus Friedrich Pott. Es enthält leider kein Register.

70 Ganz bestimmt ein Geschäftsfreund, wenn nicht gar ein Verwandter von Peter Johannes Flender, bei dem Jung-Stilling von 1763 bis 1770 in Diensten stand. Siehe auch Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens (Anm. 2), S. 43 ff.

71 Offenbar war Jung-Stilling wohl über seinem Stand gekleidet! Als gelernter Schneider und Knopfmacher achtete Jung-Stilling besonders sorgfältig auf seine Garderobe, die er sich bis ins hohe Alter selbst nähte. In seinen Romanen kennzeichnet er in der Regel sehr treffend die Personen und ihre Charaktere anhand ihrer Kleidung.

Siehe hierzu (mit vielen Zitaten aus dem entsprechenden Romanen) Hans Grellmann: Die Technik der empfindsamen Erziehungsromane Jung-Stillings. Ein Beitrag zur Empfindsamkeit und Aufklärung. Neu hrsg. und mit Vorwort, Dokumenten und Anmerkungen versehen von Erich Mertens. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1993, S. 90 ff.. Der Hrsg. hat dem Werk ein umfangreiches Register beigegeben.

72 Traktamenten = hier: Verpflegung, Speise und Trank; das, was bei einer Traktation (vom neulateinischen TRACTAMENTUM: Bewirtung) im Sinne von Verköstigung auf den Tisch kommt.

73 Räsonieren = verständig reden, urteilen und schließen; vom französischen raisoner in gleicher Bedeutung.

74 Siehe Anmerkung 38.

75 Furchtbar = hier: von anderen geachtet; siehe Anm. 59. – Geheim = hier: zurückhaltend, verschwiegen, vertraulich (zum heim, nämlich zum Hause, gehörig).

76 Politisch = hier: im zwischenmenschlichen Verhalten. – Das Wort politisch hatte in der damaligen Umgangssprache vor allem die Bedeutung „hinterlistig“, „verschlagen“. Nur so ist auch der Vorwurf neidischer Kollegen an der Universität Heidelberg gegen Jung-Stilling zu verstehen, er sei ein „politischer Mensch“, vor dem man sich in Acht nehmen müsse; siehe Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens (Anm. 2), S. 124.

77 Die
– festangestellten Knechte und Mägde,
– die auf Zeit in Dienst genommenen Aushilfsarbeiter
– im ländlichen Bereich vor allem Erntehelfer
– die anfallweise beschäftigten Tagelöhner sowie
– die im Haus vorübergehend arbeitenden Handwerker (siehe hierzu Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 219 f.: Meister Johann Jakob Becker macht sich mit seinem Gesellen Jung-Stilling frühmorgens auf den Weg von Radevormwald in das Haus des Kunden Peter Johannes Flender nach Kräwinklerbrücke und arbeitet dort die „versparte Schneiderarbeit“ auf) wurden an einem besonderen Tisch verpflegt, der sich auch in der Qualität der Speisen von der Tafel der Herrschaft unterschied.

Siehe zum Gesindetisch ausführlicher Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 4), S. 29 ff.: ganz offensichtlich aus eigener reicher Erfahrung mit „unfeinen Gesellen“ geschrieben!

78 Siehe hierzu die Schilderung über die Erziehungsmethoden von Peter Adolf Clarenbach (dem Großvater seines Prinzipals Peter Johannes Flender) bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen (Anm. 58), S.155 f.

79 Siehe Anmerkung 38.

80 Flor = Blüte, gutes Gedeihen: zur Zeit von Jung-Stilling ein vor allem auch im ökonomischen Schrifttum gängiger Ausdruck; vom lateinischen FLOS: Blume, Blüte.

81 Siehe über die Bedürfnis-Lehre von Jung-Stilling mehr im Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 8 f.

82 Notdurft = hier: unentbehrlicher Lebensbedarf.

83 Notwendigkeit = hier: der Lebensbedarf, die zur standesgemäßen Ernährung und Kleidung benötigten Güter; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 10.

84 Aufführung = hier: Lebenshaltung, Ausgaben für Nahrung, Kleidung und Bildung.

85 Glückseligkeit verstanden (wie auch sonst bei Jung-Stilling) als der Besitz alles Guten, das dem natürlichen Streben der menschlichen Natur entspricht: also die innere Persönlichkeitsvollendung oder Vervollkommnung. Siehe Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 176.

86 Überschlag = hier: Schätzung, Annahme, Mutmaßung.

87 Zur Klassenschichtung um diese Zeit siehe Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens (Anm. 2), S. 46 f.

88 Siehe Anmerkung 84.

89 „Auf dem Mittelweg gehst du am sichersten.“ Dieser Kernspruch des römischen Dichters Ovid (Metamorphosen Buch 2, 137) war auch der Leitsatz von Jung-Stilling. Er trägt ihn häufig vor und benutzt ihn sogar als Motto seines 1785 erschienenen Romans „Theobald oder die Schwärmer“. — Siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen (Anm. 58), S. 50, S. 61.

90 Auszeichnen = hier: durch Gepränge nach außenhin aufzufallen suchen.

91 Heischesatz = bei Jung-Stilling: ein eindeutiges, auf Gesetzmäßigkeiten beruhendes Urteil; eine bewiesene Aussage. – Den Begriff benutzt Jung-Stilling sehr häufig und wohl in Anlehnung an den Philosophen Christian Wolff (1679–1754), der ihn (in etwas anderer Bedeutung) in die Sprache der Zeit einführte. Siehe Belege bei Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 2. Leipzig (Hirzel) 1877, Sp. 901.

92 Joseph Heinrich Reichsfreiherr von Sonnenfels (1732–1817) in Wien, ein vielseitiger Gelehrter, Künstler und Politiker, dessen damals weit verbreiteten und führenden ökonomischen Lehrbücher Jung-Stilling sehr häufig zitiert. – Siehe auch Johann Heinrich Jung-Stilling: Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs Festreden. Berlin (Duncker & Humblot) 1988, S. 95.

93 Diese Aussage wiederholt auch Jung-Stilling in seinen Lehrbüchern und Aufsätzen häufig; siehe etwa Johann Heinrich Jung-Stilling: Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs Festreden (Anm. 92), S. 25 ff., S. 46 ff., S. 63 ff. sowie Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 91 f.

Der Beitrag des Agrarsektors zum Sozialprodukt (als der nach bestimmten Grundsätzen gemessenen wirtschaftlichen Gesamtleistung der Volkswirtschaft in einem Jahr) lag zur Zeit von Jung-Stilling noch bei über 80%. Heute ist dieser Anteil in Deutschland auf unter 2% (!) gesunken.

94 Siehe Anmerkung 80.

95 Jung-Stilling ist entschieden gegen eine (zu seiner Zeit allenthalben geforderte) Politik der bloßen Bevölkerungs-Vermehrung und stellt seinen eigenen Bevölkerungs-Grundsatz auf; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 12 f.

96 Mit „Glückseligkeit des Staates“ meint Jung-Stilling das allgemeine Beste oder Gemeinwohl, das er genauer in acht Merkmalen sehr genau definiert; siehe Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 57 f., S. 155 f. sowie Alfred Klose: Johann Heinrich Jung-Stilling als Sozialethiker. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992, S. 23 ff. (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 1) und Johann Heinrich Jung-Stilling: Aus Wirtschaft und Gesellschaft. Ausgewählte kleinere Abhandlungen. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992, S. 21 f. (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 3).

Siehe auch Gerhard Merk: Das ideale politische System nach Jung-Stilling, in: Gertraud Putz et. al. (Hrsg.): Politik und christliche Verantwortung. Festschrift für Franz-Martin Schmölz. Innsbruck, Wien (Tyrolia) 1992, S. 117 ff. (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, N.F, Bd. 53): Dort auch reichlich Literaturhinweise.

97 Auch diese Aussage unterstützt Jung-Stilling in vielen Schriften: er tritt für die völlige Gewerbefreiheit ein; siehe Belege im Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 55 f.

98 Kunstwirtschaft = das verarbeitende Gewerbe, Manufakturen und Fabriken; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 90.

99 Verzehrung = der Verbrauch der Güter, die Verwendung der Güter bei den Endverbrauchern in den Haushalten.

100 Aufwand = hier gemeint: der Gewerbeaufwand, in heutiger Sprache: die Investition; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 4.

101 Also: die Höhe von Investition und Verbrauch bestimmen die Absatzhöhe in der Landwirtschaft und im verarbeitenden Gewerbe.

102 Aufwand und Verzehrung = in heutiger Terminologie: Investition und Konsum.

103 Vordersätze (Prämissen) = Obersatz und Untersatz eines Schlusses. Der Obersatz spricht ein allgemeines Urteil (eine Regel) aus, der Untersatz ein besonderes Urteil (einen namentlichen Fall), das mit dem Obersatz einen gemeinsamen Bestandteil hat; siehe Gerhard Merk: Grundbegriffe der Erkenntnislehre für Ökonomen. Berlin (Duncker & Humblot) 1985, S. 36, S. 50. Der Text des Lehrbuchs ist auch abrufbar unter der Adresse <http://www.uni-siegen.de/~merk/downloads.htm>

104 Syllogismus = Deduktionsschluß als Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere durch Unterordnung.

105 Gallomanie = übertriebene Bewunderung und Nachahmung des Französischen; vom griechischen mania: Sucht. — Jung-Stilling war erkennbar ab 1787 allem Französischen gegenüber feindselig eingestellt (also bereits vor dem brutalen Terror im Gefolge der Französischen Revolution von 1789), während er sich in Hinblick auf alles Englische und Preußische weidlich unkritisch zeigte. – Siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs akademische Festreden (Anm. 92), S. 89 f., S. 131.

106 Siehe über diesen Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 40 f.

107 Siehe Anmerkung 38.

108 Der ewige Landfriede von 1495, unter Kaiser Maximilian I. auf dem Reichstag zu Worms verabschiedet. Sämtliche (aus alter germanischer Befugnis entsprossenen) Faustrechte (als „Selbsthilfe mit der gewaffneten Hand“) und alle Fehden (nämlich: Privatkriege) wurden für ungesetzlich und jeder Landfriedensbruch als Straftat erklärt.

109 In Harnisch bringen = hier wohl schon im übertragenen Sinne gemeint: sich zum Krieg bereiten, aufrüsten. Harnisch (ein Wort keltischer Herkunft) = Rüstung als den Körper umhüllendes, schützendes (Eisen)Blech. Die Kugeln aus den Schußwaffen durchdrangen das Blech, so daß das Gewerbe der Harnischmacher ab etwa 1530 einging.

110 Der Friedensvertrag von Münster und Osnabrück 1648. Er beendete den dreißigjährigen Konfessionskrieg in Deutschland, in dessen Verlauf Frankreich und Schweden auf Seiten der deutschen Protestanten kämpften.

111 Siehe hierzu ausführlicher Johann Heinrich Jung-Stilling: Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs akademische Festreden (Anm. 92), S. 116 f., S. 130 f.

112 Siehe Anmerkung 38.

113 Jung-Stilling schreibt hier zwar nicht nieder, welchen Beruf er mit „ – “ meint: zweifelsohne aber Metzen, Dirnen, Huren, Prostituierte.

115 Schwindelgeist = Verwirrung im Kopfe, so daß die Sinne schwinden und sich alles zu drehen scheint; gleichgewichtsloser Taumel; also nicht: Schwindel = Betrug.

114 Acht Jahre, nachdem Jung-Stilling dies schrieb, brach die Französische Revolution aus. Der „weise König“ Ludwig XVI. (reg. 1774–1792) war nicht willens und wohl auch nicht fähig, wie sein Vorgänger Heinrich IV. (der erste König aus dem Hause Bourbon; er regierte von 1589 bis 1610) durch kluge Politik die ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme seiner Tage zu lösen. Am 21. Januar 1792 wurde er öffentlich hingerichtet.

116 Jung-Stilling lernte von seinem Vater das Schneiderhandwerk und die Knopfmacherei. Er kannte die Kundschaft im ländlichen Bereich sehr genau. Auch hatte er zeitlebens einen besonderen Blick für die Garderobe seiner Mitmenschen; siehe auch Anm. 71.

117 Siehe Anmerkung 93. – Grundfeste = Unterbau, Fundament; Feste von fest = unbeweglich, unveränderlich.

118 Siehe Anmerkung 27.

119 Hypothetisch = voraussetzungsgemäß; das heißt: eine solches einschränkendes Zugeständnis ist aufgrund der Erfahrung eine nicht statthafte Annahme.

120 Jung-Stilling will sagen, daß ein vermögender Geheimrat aus dem Adel sich (aufgrund seiner Einkünfte aus Grundbesitz und vielleicht auch aus Gewerbekapital) wohl einigen Prachtaufwand ohne größeren Schaden leisten könnte, nicht aber ein bloß von seinem Einkommen abhängiger, vermögensloser Beamter.

121 Patron = Gönner, Beschützer; vom lateinischen PATRONUS in gleicher Bedeutung.

Zur Zeit von Jung-Stilling wurden Stellen bei den Behörden noch nicht regelmäßig ausgeschrieben. Man besetzte sie vielmehr auf Empfehlung (meist eines höheren Beamten) hin. Dieses Patronagewesen machte es nötig, daß sich junge Männer bei den einflußreichen Hofbeamten einschmeicheln mußten, was seinerseits wieder zu höchst unerfreulichen Nebenerscheinungen in den Residenz- und Verwaltungsstädten führte.

122 Auszeichnen = hier: von anderen abheben, hervortun.

123 Ein Zitat aus der Bibel, siehe Luk 16, 3. – Graben steht hier allgemein für körperliche Arbeit; siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutscher Wörterbuch, Bd. 4, I, 5. Leipzig (Hirzel) 1958, Sp. 1547.

124 Siehe hierzu die Geschichte der Familie Holden bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 4), S. 89 ff.

125 Ertrag = hier geldlich verstanden: die Einkünfte; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 25.

126 Jung-Stilling verteidigt aber grundsätzlich die Beamten gegen den Vorwurf, sie hätten einen zu hohen Lebensstandard, würden nur Gebackenes und Gesottenes essen und seien Verschwender; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaftliche Mißstände. Eine Blütenlese aus dem „Volkslehrer“. Berlin (Duncker & Humblot) 1990, S. 69 f.

127 Auflagen = Abgaben, Steuern.

128 Ackeraufwand = Investitionen in den landwirtschaftlichen Betrieb; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 4.

129 Das heißt: es gibt keine Möglichkeit mehr, Geld zu leihen, weil es am Angebot von Leihkapital fehlt.

130 Siehe Anmerkung 25.

131 Wegschätzen = bewerten (lassen) und versteigern.

132 Zur Zeit von Jung-Stilling gab es mehrere Auswanderungswellen nach Nordamerika. Selbst seine Familie im Siegerland blieb von dem herrschenden Emigrationsfieber nicht verschont. Nur der Umstand, daß sie alle vor der Überfahrt auf dem Meer weidliche Angst hatten, hielt sie vom Wegzug nach Amerika ab. – Siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaftliche Mißstände. Eine Blütenlese aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 126), S. 153.

133 Zerlappt = zerlumpt; von Lappen = niederhängendes Stück Zeug, Stoffabfall, Gewebefetzen.

134 Jung-Stilling denkt hier sicherlich vor allem an seine Heimat. Der Landesfürst aus dem Hause Nassau-Oranien stand in holländischen Diensten, und im Wiener Kongreß 1815 verzichtete er ganz auf seine Stammlande zugunsten der niederländischen Krone. Noch heute hält das Geschlecht Nassau-Oranien den Thron der Niederlande besetzt.

135 Notwendig ist nach Jung-Stilling jener Teil des Aufwandes (= der Ausgaben), der sich als Hausaufwand (= Konsum) auf wesentliche und nützliche Bedürfnisse bezieht sowie als Gewerbeaufwand (= Investition) der Erhaltung und Stärkung der Ertragsfähigkeit der Erwerbsquelle (= des Unternehmens) dient. – Siehe die Definitionen im Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 4 (Aufwand) und S. 8 (Bedürfnis).

136 Siehe ähnliche Gedanken bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Aus Wirtschaft und Gesellschaft. Ausgewählte kleinere Abhandlungen. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992, S. 93 ff. (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 3).

137 Feierlich = hier: ausdrucksvoll, wohlgefällig.

138 Beruf = hier: Bestimmung, Zweck; vgl. Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 32; siehe dort auch S. 29 zur „wahren Ehre“ und ihren Stufen.

 

    • Originalquelle: Untersuchung der Frage: Ob denn der Caffee durch keine Gesetzgebende Gewalt abgeschaft werden könne? – das ist: ob er das wahre Noli me tangere sey? In: Staatswirthschaftliche Ideen. Von D. Johann Heinrich Jung, Hofrath und Professor in Marburg. Erstes Heft. Marburg, in der neuen Akademischen Buchhandlung 1798, S. 92 bis 101.

139 Die Ausdrücke Arabische Bohnen und (mehr volkstümlich, spaßhaft-beschönigend) Kirschkerne bezeichnen zu Zeiten von Jung-Stilling die Rohware, also die noch ungerösteten Kaffeebohnen. – Das Wort Kaffee leitet sich aus dem arabischen kahwah her. Es drang in das Arabische wahrscheinlich aus Afrika ein, wo in den Landschaften Enarea und Caffa der Kaffee wild wuchs.

140 Despotismus = Gewaltherrschaft, Zwangsregiment; vom griechischen despotes: Gebieter.

141 Sarazenen = Mohammedaner, Araber; vom lateinischen SARACENI: Morgenländer und im Latein ein arabisches Lehnwort, von scharki: östlich.

142 Gesundheits-Gelehrten = die Professoren der Medizin; die an Universitäten die wissenschaftliche Heilkunde lehrenden Ärzte.

143 Hippokratischer Senat = (akademische) Ärzteschaft; hergeleitet von dem berühmten griechischen Arzt Hippokrates (460–377 v. Christus), dem „Vater der Medizin“.

Jung-Stilling studierte in Straßburg Medizin, wirkte sieben Jahre als Arzt, Geburtshelfer und Augenarzt im heutigen Wuppertal und bis an sein Lebensende als Augenarzt. An die 3 000 Menschen operierte er und verhalf ihnen wieder zum Sehen. An der Universität Marburg hielt er zur Zeit, als er diesen Aufsatz veröffentlichte (1798), auch Übungen zur operativen Augenheilkunde an der Medizinischen Fakultät ab. Er gehörte also in jedem Falle dem „Hippokratischen Senat“ an.

Siehe auch Gerd Propach: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) als Arzt. Köln (Institut für Geschichte der Medizin) 1983, Gerhard Berneaud-Kötz: Kausaltheorien zur Starentstehung vor 250 Jahren. Eine Auswertung der Krankengeschichten und Operationsprotokolle von Johann Heinrich Jung-Stilling, Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1995, S. 45 ff. sowie Klaus Pfeifer: Jung-Stilling-Lexikon Medizin. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1996, S. 12 ff.

144 Man nahm an, daß im menschlichen Blut ein brennbarer Bestandteil sei: das Phlogiston. Dieses wird durch Kaffee entflammt. Dadurch kommt es zur Schädigung des menschlichen Körpers. Kaffee nährt mithin nicht, er schädigt vielmehr.

Siehe genauer Johann Heinrich Jung-Stilling: Beweis für den Bürger und Landmann, daß der Kaffee für die Gesundheit, für die Haushaltung und für das ganze Land ein höchstschädliches Getränk sei. Seinen nassauischen Landsleuten gewidmet, in: Dillenburgische Intelligenz-Nachrichten 1782, 30.–33. Stück (Neudruck Siegen [Jung-Stilling-Gesellschaft] 1990).

145 Üppigkeit oder Luxus = bei Jung-Stilling die Befriedigung des in jedem Menschen angelegten Strebens nach der persönlichen Glückseligkeit (nach der eigenen Vervollkommnung als dem eigentlichen Lebenssinn) durch Mittel, die diesen Endzweck nicht erreichen. Daher führt Luxus notwendig zum Verfehlen der Selbstverwirklichung. Er leitet den einzelnen wie auch die Gesellschaft wachsend in die Enttäuschung und in das Unglück. Luxus ist deshalb bei Jung-Stilling (ganz im Einklang mit der aristotelischen und christlichen Lehre vom Wesen der Person) in erster Linie eine das menschliche Ziel betreffende Sache, und erst in zweiter Linie eine ökonomische Angelegenheit. – Siehe Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 8, S. 10, S. 96.

146 Echte, den Menschen dauerhaft befriedigende Lust und Freude kann nur aus Dingen fließen, welche dem Lebenssinn des einzelnen (also dessen Vervollkommnung) förderlich sind. Wird jedoch die Geschmackslust durch Kaffeetrinken erregt, so ist dies eine falsche Lust, weil das Mittel (der Kaffee) zur Selbstverwirklichung des einzelnen untauglich ist.

Man muß auch bei allen wirtschaftspolitischen Empfehlungen von Jung-Stilling stets diese, seinem Denken fest zugrunde liegende Teleologie (Lehre vom Endzweck aller Dinge) beachten. Sie ist heute außerhalb der christlichen Auffassung vom Menschen und seiner Bestimmung kaum mehr verständlich, und zumal bei den Ökonomen nicht. – Siehe erklärend zur menschlichen Endbestimmung nach Jung-Stilling auch Haltaus Unverzagt: Hat Jung-Stilling Recht? Protokolle nachtodlicher Begegnungen. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1992, S. 47 ff. (Jung-Stilling-Schriften, Bd. 2) sowie Gerhard Merk: Das ideale politische System nach Jung-Stilling, in: Gertraud Putz et al. (Hrsg.): Politik und christliche Verantwortung. Innsbruck, Wien (Tyrolia) 1992, S. 117 ff.

147 Staatswirtschaftslehre = ältere Bezeichnung für die Volkswirtschaftslehre, die auch den noch älteren Namen „Kameralwissenschaft“ ablöste; siehe erklärend und begründend Johann Heinrich Jung-Stilling: Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen (Anm. 58). S. 19 f.

148 Dieser Lehrsatz war in der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre unbestritten. Den Nationalreichtum sah man letzten Endes in der Masse an Gold und Silber begründet. Alles, was diesen Metallvorrat mindert (vor allem die Einfuhr ausländischer Waren), galt als gesamtwirtschaftlich schädlich. War doch mit Edelmetall jederzeit sofort alles zu kaufen – selbst militärische Hilfe im Falle eines Krieges („point d`argent, point des Suisses“: ohne Geld kommen keine Schweizer Reisläufer [=Mietsoldaten; vom mittelhochdeutschen reise: Feldzug], hieß ein damals bekanntes Sprichwort). Gerade aber solcherart Zahlungen für Bündnisse waren damals ein äußerst wichtiger Bestandteil der Politik aller europäischen Staaten.

Mithin betrachtete man in der ökonomischen Wissenschaft den Edelmetall-abfluß in das Ausland für Zwecke des privaten Verbrauchs als besonders nachteilig. Hinzu traten noch beschäftigungspolitische Überlegungen (die Verminderung des Edelmetalls [= Geld!] führt zu Arbeitslosigkeit), die aber auch bei Jung-Stilling nicht an erster Stelle stehen.

149 Aufgabe des Staates ist es, den einzelnen in der Erreichung seines zeitlichen und ewigen Glückes zu unterstützen. Jung-Stilling nennt dies Beglückungs-Geschäft; Geschäft = etwas zu Schaffendes, eine obliegende Aufgabe; zu jener Zeit lediglich von Staatstätigkeiten und letztwilligen Verfügungen (Geschäftsmann = Testamentsvollstrecker), aber noch nicht vom Handel gesagt. – Siehe auch Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 57 f., S. 155 f. sowie die in Anm. 146 genannte Studie über das ideale politische System nach Jung-Stilling.

150 Gutsbesitzer = Vermögensbesitzer; Eigentümer von Boden (selbständige Landwirte) oder von Sachkapital (Gebäuden, Werkstätten, Maschinen). – Fast jeder Fabrikant außerhalb der großen Städte hatte um jene Zeit auch noch landwirtschaftlichen Besitz, so wie der Bergische Fabrikant Peter Johannes Flender, bei dem Jung-Stilling sieben Jahre arbeitete; siehe S. 11 ff.

151 Beglückende Bedürfnisse = bei Jung-Stilling die wesentlichen und die erhöhenden Bedürfnisse zusammengenommen. Die
– wesentlichen dienen der reinen Lebenshaltung, die
– erhöhenden Bedürfnisse der geistigen Vervollkommnung. Beide zusammen (und nur diese!) befriedigen das angeborene Verlangen des Menschen nach Glück und persönlicher Erfüllung.
– Siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 8.

152 Jung-Stilling lebte (mit kurzer Unterbrechung durch sein Medizinstudium 1770/71 zu Straßburg) von 1762 bis 1778 im Herzogtum Berg. – Siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 187–368 zu den einzelnen Stationen.

153 Es galt im Herzogtum Berg vor 1815 (als das Land zu Preußen kam): 1 Maß = 4 Schoppen = 1 kölnische Kanne; dies entspricht 2 Liter im heutigen System.

154 1 Lot (im Herzogtum Berg vor 1815) = 15,6 Gramm. Nach 1815 rechnete man in preußischem Gewicht: 1 Lot = 16,667 Gramm.

155 Andere Ratschläge Jung-Stillings zur Speisefolge bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaft, Leben und Beruf. Geschichten aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 4), S. 29 f.

156 1 Stüber = 1/60 Taler, eine niederrheinische Münze. – Es galt 1 Reichstaler = 90 Kreuzer, so daß 1 Stüber = 1,5 Kreuzer. Die 16 Gramm Kaffee (1 Lot) kosteten also 9 Kreuzer. — Der Tagesverdienst eines Arbeiters betrug um 1795 höchstens 35 Kreuzer, und dafür konnte man etwa 65 Gramm Kaffee kaufen.

157 Jung-Stilling will sagen, daß anderenorts mehr als höchstens 1 Lot Kaffee je Maß Wasser veranschlagt wird; man also im Bergischen noch sparsam mit dem Kaffee umgeht.

158 After- und Titularkaffee = Kaffee-Ersatz. After = verkehrt, unecht, schlecht; titular = nur dem Namen nach, vom lateinischen TITULUS: Name, Benennung. – Zur Zeit von Jung-Stilling gab es an die zehn Arten von Kaffee-Ersatz, die in vielen Schriften beschrieben und empfohlen wurden.

159 Sie erschien nicht, weil auch kein zweites Heft der „Staatswirthschaftlichen Ideen“ herauskam. Infolge der politischen Ereignisse leerte sich die Universität Marburg. Jung-Stilling gab daraufhin 1803 sein akademisches Lehramt auf und verlegte seinen Wohnsitz in das neu entstandene Großherzogtum Baden. Dort wirkte er bis zu seinem Hinschied 1817 als Berater bei Hofe. – Siehe hierzu ausführlich Gerhard Schwinge: Jung-Stilling am Hofe Karl Friedrichs in Karlsruhe. Zu seinem 170. Todestag, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Bd. 135 (1987), S. 183 ff.

160 Gemeint ist der Preußenkönig dieses Namens, den Jung-Stilling zum „größten Manne des Jahrhunderts“ erhebt. – Jung-Stilling stand Preußen und England völlig unkritisch gegenüber, wowider er (ab 1787, dem Jahr seines Dienstantritts in der Landgrafschaft Hessen-Kassel, nun auch öffentlich) alles Französische befeindete. Siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs akademische Festreden ( Anm. 92), S. 130.

161 Landgraf Friedrich II. (reg. 1760–1785) war der Vater des zur Zeit der Niederschrift und Veröffentlichung dieser Abhandlung regierenden Landgrafen Wilhelm IX.; siehe auch ADB 7, 524. — Der Landgraf von Hessen-Kassel amtete als ihr Schutzherr zugleich auch als Rektor der Universität Marburg; die Geschäfte vor Ort besorgte der Pro-Rektor. Jung-Stilling hatte dieses Amt im Jahre 1792 unter ganz besonders schwierigen Umständen inne; „denn die allgemeine Stimmung war damals revolutionär und günstig für Frankreich“, siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 485.

162 Wohlstand = hier: das Übliche und Gebräuchliche, die Regel, der allgemeine Lebensstandard.

163 Wohl in Anlehnung an den hundertäugigen Riesen Argus aus der griechischen Mythologie von Jung-Stilling hier schöpferisch gebildet. In dieser Zusammensetzung sonst nicht belegt; siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 2. Leipzig (Hirzel) 1877), Sp. 1926.

164 Siehe hierzu auch Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 54 („Gesetzes-Realität“).

165 Gewürzt mit dem NITIMUR IN VETIUM = mit dem Hauch des Verbotenen umgeben (wörtlich: wir stützen uns auf etwas Verbotenes; im Lateinischen eine stehende Redewendung), und mit der Ergänzung: SEMPER CUPIMUS NEGATA (stets begehren wir Verbotenes) auch bei Ovid (Amores, Buch 3, Kap. 4, § 17) ausgesprochen.

166 Jung-Stilling selbst stellt in seiner in Anm. 144 genannten Arbeit die Ausgaben für den Kaffee (für seine nassauischen Landsleute als „durch die Bank alle miteinander große Liebhaber eines wohlgespickten, dicken Beutels“) genau in Rechnung. Dieser Teil seiner Ausführung verdient zur Kenntnis der seinerzeit gültigen Preise für Kaffee, Milch, Butter, usw. im Fürstentum Nassau-Oranien einige Aufmerksamkeit.

167 Polizei-Operation = hier: verfügten Maßnahme. – Der Begriff Polizei bedeutet zur Zeit Jung-Stillings (im hier gebrauchten weiteren Sinne) die Leitung, Einrichtung und Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft gesamthaft; siehe Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 113. Im engeren Sinne (wie zuvor im Text) versteht man darunter den Personenkreis, der mit diesen Aufgaben betraut ist.

168 Kaffee-Visiten = Kaffeebesuche, Kaffeekränzchen, also Zusammenkünfte, bei denen Kaffee getrunken wird. Visite vom lateinischen VISITARE: besuchen.

169 Geschäft = hier: die Anordnung. Jung-Stilling bringt an dieser Stelle eine zur damaligen Zeit bereits kaum mehr gebrauchte und nur noch im Bibeldeutschen (etwa Apg 7, 53) benutzte Bedeutung des Wortes.

170 Honoratioren = die Vornehmen, die Personen der höheren Stände; vom lateinischen HONORATIORES: die mehr Geehrten.

171 Aufklärung = hier: wahre Aufklärung als die Beachtung jener Regeln, durch die der Mensch glücklich und vollkommen wird; siehe Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 4.

172 Zeug = hier: Kleiderstoff als Gewirk aus Flachs, Wolle, Seide usw., Textilien (dies ein späterer Ausdruck und um 1790 noch nicht in der deutschen Sprache).

173 Frauen mußten auch um 1800 die Arme ganz bedeckt halten. Aber auch ein nackter Männerarm – selbst bei Handwerkern – galt als anstößig. Jung-Stilling berichtet, daß er seinen Vater nie im Leben mit entblößtem Arm gesehen habe; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaftliche Mißstände. Eine Blütenlese aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 126), S. 65, S. 78.

174 Das Wort Hose war zur Zeit von Jung-Stilling (so wie etwa heute das norddeutsche Buchse) als niedriges Wort verpönt.

175 Drillich = mit drei Fäden gewebtes Tuch; eingedeutscht aus dem lateinischen TRILIX: dreifädig

176 Schalkhaft, hohnneckend gemeint. Zu Jung-Stillings Tagen wollte eine starke Strömung „zurück zur Natur“. Wortführer war der Genfer Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Jung-Stilling bezeichnet dessen Ideen wohl zu Recht als Träume; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 480; vgl. auch Otto W. Hahn: Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung. Sein Leben und sein literarisches Werk 1778 bis 1787. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris (Peter Lang) 1988, S. 215.

177 Jung-Stilling spricht hier auf die damals auch in Deutschland allenthalben vorgetragene Forderung der Französischen Revolution von 1789 an, die in diesen drei Begriffen verkürzt (als Parole, als Schachtruf) zusammengefaßt wurde. – Siehe mehr dazu bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Ueber den Revolutions-Geist unserer Zeit zur Belehrung der bürgerlichen Stände. Marburg (Neue Akademische Buchhandlung) 1793, insbes. S. 28 ff.

178 Revolutionen = hier: im neutralen Sinne gemeint als Veränderungen, Bewegungen; vom lateinischen REVOLVERE: rollen.

Jung-Stilling spricht hier die damalige Umgestaltung aller gewachsenen Verhältnisse in Europa durch die vorwärtsdrängenden französischen Armeen an. Als er diesen Beitrag 1798 veröffentlichte, war nämlich fast ganz Europa von Frankreich erobert. Napoleon Bonaparte war gerade in Nordafrika siegreich, wo er die Ägypter unterworfen und die Türken bei Jaffa geschlagen hatte; die 3 000 türkischen Kriegsgefangenen ließ er erschießen.

179 Die Seemächte England und Niederlande waren durch die Kriegsereignisse vom Warenaustausch mit ihren Kolonien abgeschnitten. Sie konnten damit auch keinen Kaffee mehr einführen, dessen Preis nun ins Unermeßliche stieg.

180 Zyphyr (ein griechisches Wort) = (1) Nordwestwind, (2) um jene Zeit ein französischer Armeeteil, aus Straffälligen, Pack und Gesindel (zéphyr = corps formé de militaires condamnés et soumis à un régime rigoureux) zusammengesetzt. Jung-Stilling hat hier sicher die zweite Bedeutung im Sinn, zumal auch die Zeitungen jener Tage viel von den Gräueltaten der „Zephyre“, den Angehörigen dieser Truppe, berichteten.

181 Jung-Stilling will sagen: da Frankreich die Herrschaft über ganz Europa und Nordafrika innehat, könnte Venedig (das Frankreich im Friede von Campo Formio 1797 an Österreich abtrat) nun wieder zu seiner alten Bedeutung als Handelsplatz für Kolonialwaren (Reis, Zucker, Tee, Kaffee, Gewürze, Baumwolle, Farbhölzer) zurückfinden.

182 Seit dem grand événement: der Französischen Revolution von 1789.

183 Jung-Stilling beschäftigte sich um diese Zeit sehr eingehend mit Fragen der Endzeit. Schon seit 1795 (also drei Jahre vor Erscheinen dieses Artikels über den Kaffee) hatte er mit der Volksschrift „Der graue Mann“ begonnen, und auch sein „Heimweh“ war gerade herausgekommen. – Siehe auch Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens (Anm. 2), S. 144 ff.

184 Sieben Sterne = Siebengestirn, die Plejaden (eine Sterngruppe im Stier mit mehreren hundert Sternen, von denen man mit dem freien Auge 6 bis 9 der hellsten sehen kann. – Band des Orions = Jakobsstab: drei Sterne im Sternbild des Orions, nördlich von Stier und Zwillingen. — Jung-Stilling beschäftigte sich schon sehr früh mit der Astronomie und arbeitete bezügliche Werke im Selbststudium durch, siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 102, S. 122 f.

185 Morgenstern = die Planeten Venus und Merkur, wenn sie westlich von der Sonne stehen und vor dieser aufgehen.

186 Wagen = Sternbild des Nordhimmels: der große Bär, von zahlreichen schwachen und 7 hellen Sternen gebildet.

 

      • Originalquelle: Rezept gegen die Spielsucht. Vätern und Erziehern zum Versuch vorgelegt. In: Eudämonia, oder deutsches Volksglück, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht, Bd. 5 (1797), S. 215 bis 222. — Der Beitrag ist mit „P + x“ unterzeichnet. Dies ist das Zeichen, unter dem Jung-Stilling in dieser Zeitschrift schrieb; siehe Gustav Adolf Benrath: Jung-Stillings Notizbuch aus den Jahren 1778–1813, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, Bd. 39 (1990), S. 109. – Siehe zur Eudämonia auch GV (alt), Bd. 35, S. 141, rechte Spalte. Die Zeitschrift erschien als Reprint 1972 bei Kraus (Nendeln/Lichtenstein).

187 Siehe zur Spielsucht auch Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft (Anm. 8), S. 132 sowie Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 154 f.

188 Jung-Stilling denkt hier wohl an das Sprichwort: „Am Spielen geht ein Volk zugrunde“.

189 Volkes Stimme ist Gottes Stimme: ein geflügeltes Wort aus der lateinischen Sprache und wohl auf den griechischen Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.) zurückgehend; siehe Horst Beyer und Anneliese Beyer: Sprichwörterlexikon. München (Beck) 1985, S. 642.

190 Wen genau Jung-Stilling hier ausschließen will, ist auch später nicht näher erläutert. Wahrscheinlich denkt er aber nicht an eine bestimmte Volksschicht, etwa die rohe, ungebildete Masse: RUDIS INDIGESTAQUE MOLES in den Worten von Ovid (Metamorphosen, Buch 1, Kapitel 7), und von da im Lateinischen sprichwörtlich. Vielmehr dürfte er das Volk der Franzosen im Auge haben. Denn die grande nation à la tête de la civilisation gefiel sich in jenen Tagen durch eine Schreckensherrschaft (la terreur) im Innern; König Ludwig XVI. war bereits am 21. Januar 1793 auf der Fallbeilmaschine öffentlich geköpft worden.

Jung-Stilling war ob des Terrors in Frankreich auf das äußerste beunruhigt. Zur Hinrichtung des Königs veröffentlichte er auf vier Seiten ein gefühlvolles, eindringliches Gedicht: Der Tod Ludwigs des Sechszehnten Königs von Frankreich, besungen von Johann Heinrich Jung. Marburg, den 31. Jänner 1793.

191 Schlangengang = „verschlungen heimlicher Gang, den man zur Ausführung böser Absichten gehet“, erklärt Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 4. Braunschweig (Schulbuchhandlung) 1810, S. 166. – Der Ausdruck findet sich nicht im Wörterbuch der Brüder Grimm.

192 Ohne Zweifel ist hier der preußische Heerführer Gebhard Leberecht von Blücher (1742–1819) gemeint. Ihm machte man seinerzeit den Vorwurf, er habe bei der Schlacht von Kaiserslautern 1794 bzw. bei dem (für Preußen siegreichen) Gefecht um Kirrweiler im gleichen Jahr mehr gespielt als gekämpft. – „Bestraft“ schien er aus der Sicht des Jahres 1797 dadurch, daß Blücher nach dem Basler Friede 1795 das Kommando bei der damaligen Demarkationslinie in Norddeutschland erhielt: eine für einen hochdekorierten Frontoffizier nicht gerade angesehene Stellung; siehe auch Carl Blasendorff: Gebhard Leberecht von Blücher. Berlin (Weidmannische Buchhandlung) 1887.

Jung-Stilling konnte 1797 nicht wissen, daß bereits vor dem Friede von Basel Preußen entschlossen war, von der Koalition gegen Napoleon zurückzutreten, um damit Frankreich die Möglichkeit eines Vernichtungsfeldzuges gegen Österreich zu bieten; die Niederlagen im Westen also von Berlin aus nicht als Katastrophe eingeschätzt wurde. Die preußische Politik unter Karl August von Hardenberg (1750–1822) setzte langfristig auf ein enges Zusammengehen von Preußen und Frankreich gegen England und Österreich.

Auch war den Zeitgenossen natürlich die geheime Klausel des Vertrags von Basel nicht bekannt, wonach Preußen das linke Rheinufer als französische Grenze anerkennt, also auch das kurpfälzische Kaiserslautern (in dem Jung-Stilling von 1778 bis 1784 wohnte und lehrte) mit Billigung Preußens ein „Schauplatz der Erpressungen und Räubereien“ bleiben durfte. Jung-Stilling wäre ob all dessen entsetzt gewesen: zeigt er sich doch ab 1787 offen franzosenfeindlich und allem Preußischen kritiklos zugetan; siehe auch Johann Heinrich Jung-Stilling: Wirtschaftslehre und Landeswohlstand. Sechs akademische Festreden (Anm. 92), S. 90, S. 131.

193 Gemeint ist das Mittel, vom Laster der Spielsucht loszukommen.

194 Subaltern = untergeordnet, abhängig (vom lateinischen SUB ALTERUM: unter einem anderen) und damals noch ohne die heutige Nebenbedeutung (inkompetent, ohne Wissen um das große Ganze).

195 Jung-Stilling vermählte sich am 17. Juni 1771 in Wuppertal-Ronsdorf mit seiner ersten Frau Christine Heyder (1751–1781); siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 283 f. Diese Heirat hat er später bedauert; siehe ebendort S. 397 f., S. 686.

196 Ordure = Schmutz, Unflat, Zoten; ein französisches Wort. – Jung-Stilling will sagen: die Eudämonia ist ja keine der anrüchigen Zeitschriften, in der Schreiber sich ihrer Zoten entledigen, und die deshalb von jungen Menschen zwecks Nährung der Begierde gelesen werden.

197 Jung-Stilling studierte 1770–1771 an der Universität Straßburg Medizin und erwarb dort den Doktorgrad.

Im Dreißigjährigen Krieg kämpfte Frankreich auf Seiten der deutschen Protestanten. Dafür erhielt es im Westfälischen Friedensschluß 1648 das Elsaß, soweit es dem Hause Österreich gehörte. Am 30. September 1681 wurde dann auch die freie Reichsstadt Straßburg unter König Ludwig XIV. Frankreich angegliedert. – Gemäß den Übergabe-Bedingungen mit dem Magistrat blieb die Universität unangetastet, das heißt: sie blieb ausschließlich deutsch und (weil aus den Einkünften des protestantischen Thomas-Stiftes finanziert) ausschließlich protestantisch mit einer Evangelisch-Theologischen Fakultät.

Die erst 1621 gegründete Hochschule war in erster Linie eine elsässische Landes-Universität. Sie zog aber auch nach 1681 weiterhin viele Deutsche an, so unter anderem Johann Wolfgang Goethe und Johann Gottfried Herder, die Jung-Stilling beide in Straßburg kennenlernte. Die Unterrichtssprache war (wie an anderen Universitäten zu jener Zeit auch) regelmäßig Latein. Siehe näheres bei August Schricker: Zur Geschichte der Universität Straßburg. Festschrift zur Eröffnung der Universität Straßburg am 1. Mai 1872. Straßburg (Schmidt) 1872.

198 Siehe hierzu näher Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 262 ff. zur Studienzeit in Straßburg.

199 Jung-Stilling meint hier das 1766 immatrikulierte elsässische Brüderpaar Johannes Godofredus Roederer (1749–1815) und Friedrich Jacobus Roederer sowie den 1770 eingeschriebenen jüngeren Bruder Johann David Roederer (1752–1808) (freundliche Auskunft von Herr Wolfgang Rasch, Wiesbaden). — Siehe August Stöber: Johann Gottfried Röderer von Straßburg und seine Freunde. Biographische Mittheilungen nebst Briefen an ihn von Goethe, Kayser, Schlosser etc., 2. Aufl. Colmar (Barth) 1874.

200 Initiieren = einführen, einweihen; vom lateinischen INITIARE in gleicher Bedeutung. – Jung-Stilling will hier sagen, daß die Brüder Roederer sämtliche Tricks, Schliche und Kniffe aller Spielarten sehr gut kannten.

201 Das Wort „Wechsel“ bedeutete damals in der Studentensprache die (monatlichen) Einkünfte überhaupt, auch wenn diese nicht in Form eines Wechsels im engeren Sinne (als Urkunde, durch die jemand aufgefordert wird, dem Inhaber der Urkunde einen bestimmten Betrag zu zahlen), sondern in anderer Form dem Studenten zugingen.

202 Wahrscheinlich Friedrich Jakob Roederer. Ob dieser Stillings-Freund auch derjenige ist, der ihm in Straßburg 50 Gulden lieh? Jung-Stilling konnte diesen Kredit erst 1801 an den Bruder zurückzahlen. Denn der Darlehnsgeber war inzwischen bereits verstorben; siehe näher Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 552.

203 Bevor die Brüder von daheim weg zum Studium nach Straßburg gingen.

204 Skrupulös = hier: gewissenhaft, peinlich; vom lateinischen SCRUPULOSUS: bedenklich, ängstlich, peinlich, übervorsichtig.

205 Witzig = hier: Verstand oder (und) Klugheit erfordernd; vom deutschen Zeitwort wissen hergeleitet.

206 Das heißt: alles, was die Neigungen, Wünsche und Freuden der drei Söhne betraf; Rubrik vom lateinischen RUBRICA: Abschnitt, Gattung.

207 Kleid = Kleidungsstück; die engere Bedeutung (äußere Frauenbekleidung) liegt dem Begriff zur Zeit von Jung-Stilling noch nicht bei.

208 Lustreise = Vergnügungsfahrt; das Wort Lust hat damals noch die weitere Bedeutung von Freude, Frohsinn.

209 Moral = hier: Tugend, ehrenvoller Lebenswandel.

 

      • Originalquelle: Sonderbare Gedanken von dem Steigen und Fallen der Familien, die ihr auch wissen müßt. In: Der Volkslehrer. Ersten Jahrgangs Sechstes Stück. 1781. Herbstmond, S. 355 bis 379.

Die von Jung-Stilling als alleinigem Verfasser von 1781 bis 1784 herausgegebene und die unteren Volksklassen bedienende Zeitschrift befindet sich vollständig in der Universitätsbibliothek Salzburg (Signatur: 162.073), steht aber für die Fernleihe nicht zur Verfügung. Eine Kopie des Salzburger Exemplars auf Mikrofilm befindet sich im Siegerlandmuseum (Bibliothek, Oberes Schloß), 57072 Siegen (Deutschland)

210 Jung-Stilling wurde am 12. September 1740 geboren.

211 Im ersten Heft vom Ostermond 1781 stellt sich Jung-Stilling den Kollegen der „vornehmeren“ Zeitschriften und seinem einfachen Leserpublikum (den „ehrlichen Bauern- und Handwerksleuten mit Weibern und Kindern“) vor.

212 Siehe Anmerkung 1.

213 Merkwürdig = hier: gut zu beobachten, deutlich, wichtig. Die heutige Bedeutung des Wortes (nämlich: ungewöhnlich, absonderlich) lag dem Begriff zur Zeit von Jung-Stilling noch nicht bei.

214 Unser Dorf = die (von Bergen umgebene, in einem Seitental liegende) Gemeinde Grund im Fürstentum Nassau-Siegen, in der Jung-Stilling geboren wurde und aufwuchs. – Der Ort ist heute Teil der Stadt Hilchenbach im Kreis Siegen-Wittgenstein des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen der Bundesrepublik Deutschland.

215 Winterseite = Nordseite.

216 Hantierung = Handwerk, Arbeit.

217 Haushaltung = hier: Wirtschaftsführung der Familie einschließlich der Landwirtschaft. Die Arbeit auf den Feldern sowie im Viehstall der (teil)selbstversorgenden bäuerlichen Betriebe gehörte im Siegerland (wie anderswo um diese Zeit auch) hauptsächlich zum Aufgabenkreis der Kinder und weiblichen Familienmitglieder.

218 Wohl eine Anspielung auf das Sprichwort „Schuld bringt Ungeduld“, wobei Ungeduld hier schroffe Art meint; siehe Horst und Anneliese Beyer: Sprichwörterlexikon. München (Beck) 1989, S. 520.

219 Bruch = hier: Gebrechen, Mangel im Sinne des lateinischen DEFECTUS; siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2. Leipzig (Hirzel) 1860, Sp. 409, Bedeutung 16. – Der Bruch war doppelt, weil zu dem trägen Mann jetzt noch die vielen zu versorgenden Kinder kamen.

220 Die Arbeit des Kuhhirten, Schweinehirten und Schulmeisters lag im sozialen Ansehen jener Zeit im unteren Rang; siehe auch Anmerkung 51.

221 Güter = hier: landwirtschaftlichen Besitz.

222 Die Heirat junger (auch bereits volljähriger) Erwachsener war im Fürstentum Nassau-Siegen ohne die Zustimmung sowohl der Eltern der Braut als auch von Vater und Mutter des Bräutigams grundsätzlich nicht möglich. Im Falle unehelicher Schwangerschaft jedoch konnte die Eheschließung auch gegen den Willen der Eltern in einfacher, nichtfeierlicher Weise vorgenommen werden. – Freilich war damit eine lebenslange Ächtung des Paares durch die Dorfgemeinschaft verbunden, was sich in den verhältnismäßig eng geschlossenen kleinen Ortschaften sehr stark auswirkte. Auch blieb der Mann zeitlebens von allen Ehrenämter ausgeschlossen.

So kam es dazu, daß junge Leute der Mittelschicht um des Erhalts der Ehrbarkeit wegen eher eine Abtreibung vornehmen ließen, während andrerseits Paare der Unterschicht durch eine absichtlich herbeigeführte außereheliche Schwangerschaft ihre Hochzeit erzwangen. – Siehe auch Johann Heinrich Jung-Stilling: Gesellschaftliche Mißstände. Eine Blütenlese aus dem „Volkslehrer“ (Anm. 126), S. 161 ff.

223 Es war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches, wenn Kinder armer, kinderreicher Dorfbewohner ab etwa dem 8. Altersjahr als Knechte und Mägde in den Haushalt reicherer Familien eintraten. Selbst die Sprößlinge aus kinderreichen Fürstenfamilien mußten häufig bei reicheren Verwandten auf diese Weise dienen; siehe Treugott Stillingsfreund: Erscheinungen im Siegerland. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1987, S. 69, S. 76 (Fürst Johann Moritz von Nassau-Siegen, dessen Vater 25 Kinder hatte, erzählt hier, wie er als Zehnjähriger zur „Bedienung“ seiner gleichaltrigen Vettern [sprich: als Prügelknabe] nach Kassel abgeschoben wurde).

224 Trocken = hier: gefälliger Lebhaftigkeit entbehrend, gewinnender Annehmlichkeit ermangelnd. Trockene Miene = steifer Gesichtsausdruck, ernstes Aussehen.

225 Die Spanier waren um diese Zeit (ob zu Recht?) sprichwörtlich wegen ihres würdevollen Auftretens und steif-förmlichen Benehmens. Spanische grandezza galt lange in der Mode sowie in den Ausdrucksformen, im guten Benehmen auch in Deutschland als vorbildlich.

226 Ungarische Husaren = hier als Gattungsbezeichnung gemeint (also keine ungarischen Bürger): leicht bewaffnete und leicht gekleidete Reiter der nassauischen Grenzwache. – Das Wort Husar leitet sich vom ungarischen husz: zwanzig her (weil unter König Matthias I. im 15. Jahrhundert von 20 Häusern ein Mann als Reiter gestellt werden mußte).

227 Läppisch = albern, dumm, nach der Art eines Laffen.

228 Pastor = der damals seit 1725 amtende Pfarrer des Kirchspiels Hilchenbach, Johannes Seelbach (1687–1768); siehe Lothar Irle: Siegerländer Persönlichkeiten- und Geschlechter-Lexikon. Siegen (Heimatverein) 1974, S. 315.

Hausbesuchung = die für das Fürstentum Nassau-Siegen geltende (reformierte) nassauische Kirchenordnung schrieb dem Pfarrer vor, mindestens einmal im Jahr eine jede Familie seines Pfarrbezirks zu Hause aufzusuchen. Die Niederschrift über die Besuche war zu den Akten zu nehmen und auf Verlangen der Kirchenbehörde vorzulegen.

229 Siehe hierzu Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 78.

230 Knallhütte = baufälliges altes Haus. Das Wort nahm Jung-Stilling ohne Zweifel erst in Kaiserslautern auf. Denn es ist ein typisch pfälzischer Ausdruck und sonst in keinem Wörterbuch nachgewiesen. – Siehe Pfälzer Wörterbuch, Bd. 4. Stuttgart (Franz Steiner) 1981–1986, Sp. 330.

Vgl. auch Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 371 über die damalige Baukunst (sprich: Knallhütten) in Kaiserslautern, nämlich: „alte unregelmäßige Häuser, niedrige Zimmer mit Balken in die Creuz und Quere, kleine Fenster mit runden oder secheckigten Scheiben, Thüren, die nirgends schlossen, Oefen von erschrecklicher Größe…“; Jung-Stilling war darob ziemlich deprimiert.

231 Artig = hier: auf diese Art, auf nämlichem Weg. Art vom lateinischen ARS: Kunst; Regel.

232 Siehe Ex 20, 5; Num 14, 18; Dtn 5, 9.

233 Flecken = Ansiedlung bedeutender als ein Dorf, mit gewissen bürgerlichen Gerechtsamen ausgestattet, aber noch ohne die (Freiheits)Rechte einer Stadt.

Gemeint ist an dieser Stelle und im folgenden die heutige Stadt Hilchenbach im Kreis Siegen-Wittgenstein des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, die 1687 vom Dorf zu einem Flecken aufgestiegen war; siehe im einzelnen dazu Karl Friedrich Schenck: Statistik des vormaligen Fürstenthums Siegen. Siegen (Vorländer) 1820 (Reprint Kreuztal [verlag die wielandschmiede] 1981), S. 88 f. – Dort besuchte Jung-Stilling von 1750 bis 1755 die Lateinschule. Hilchenbach war gleichzeitig Kirchort für sein Heimatdorf Grund (das selbst keine eigene Kirche hatte). Jung-Stilling nennt Hilchenbach in seiner Lebensgeschichte Florenburg und in seinem Roman „Theobald oder die Schwärmer“ aus dem Jahre 1785 Hochborn. Vor der Kirche befindet sich heute ein Jung-Stilling-Denkmal.

Weil Hilchenbach mit den umliegenden Dörfern gesamthaft einen einzigen Sprengel bildete, kannten sich alle Bewohner ziemlich gut. Der Köhler und Landwirt Johann Eberhard Jung (1680–1751), Großvater von Jung-Stilling, hatte in der Pfarrei das Amt eines Kirchenältesten (von der Gemeinde gewählter Vertreter zur Mithilfe in pfarrlichen Belangen) inne; siehe Julius Paulus, Wilhelm Wittekindt, Robert Herwig: Ebert Jung. Der Kohlenbrenner und Kirchenälteste im Grund. Jung-Stillings Großvater. Siegen (Schneider) 1955 sowie sehr belehrend, weil ausnehmend tief einfühlend in das Leben der Zeit Jakob Henrich: Ebert Stilling. Ein Bühnenspiel in acht Auftritten, 2. Aufl. Siegen (Vorländer) 1949 zur Charakterisierung dieses Mannes. Von daher und angesichts der scharfen Beobachtungsgabe des frühreifen, gewitzigten Jung-Stilling, ist an der Echtheit der geschilderten Familien-Schicksale kaum zu zweifeln.

234 Großmutter = die Mutter seines Vaters, Margarethe Jung-Helmes (1686–1765). Sie entstammt dem Ort Helberhausen im Kirchspiel Hilchenbach.

Beinebens schreibt Jung-Stilling über Vorfahren mütterlicherseits so gut wie gar nichts, sieht man von der bezeichnenden Charakterisierung seiner Mutter Dorothea Fischer (1718–1742) als “Bettelmensch” durch den Nachbarn Stähler in Grund (Lebensgeschichte [Anm. 2], S. 4) einmal ab. Die Ursache liegt zweifellos darin, daß die Familie Fischer aus verschiedenen Gründen (wie uneheliche Geburt, Vagabundismus) sehr geringes soziales Ansehen genoß. – Siehe hierzu näher Ortwin Brückel: Jung-Stillings Herkunft, in: Erich Mertens (Hrsg.): Auf den Spuren von Jung-Stilling. Studien zu Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817). Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1998, S. 98 ff.

235 Rentmeister = hier: Beamter vor Ort, der die Abgaben an den Staat (also nicht auch die Zahlungen der Gemeinde) berechnet und einnimmt. Diese nannte man auch (vom lateinischen REDDERE: als Ertrag eingehen). Das Amt des Rentmeisters hieß Rentei (Rentenei) und unterstand in der Regel der Rentkammer (vergleichbar dem heutigen Finanzministerium) in der Landeshauptstadt.

Weil es im Fürstentum Nassau-Siegen an die 50 Abgabearten gab (diese sind mit vielen Erläuterungen zu ihrer Erhebungs-Geschichte aufgezählt bei Karl Friedrich Schenck: Statistik des vormaligen Fürstenthums Siegen [Anm. 233], S. 61 ff. und finanzhistorisch über das Siegerland hinaus von einigem Interesse [wie etwa Ärarien-Gelder, Mühlenwasserzins, Scherenschleiferpacht, Lumpensammlerpacht, Jagdhunde-Futtergeld, Schafhalterabgabe, Hochzeittisch-Steuer, Strohzehnter usw.]), weil ferner die abgabetechnischen Bestimmungen in vielem noch ziemlich allgemein gehalten waren und es eine rasch durchgreifende Finanzgerichtsbarkeit nicht gab, gestaltete sich der Ermessens-Spielraum des Rentmeisters entsprechend breit. Er galt daher weithin als ein willkürlich handelnder Bedrücker.

236 Der von 1679–1691 regierende Wilhelm Moritz Fürst von Nassau-Siegen aus der reformierten Linie; er war niederländischer General.

237 Im Fürstentum Nassau-Siegen herrschte Schulzwang für Mädchen bis zum 13. und für Knaben bis zum 14. Altersjahr. Die Gemeinden hatten auf ihre Kosten die schulpflichtigen Kinder (in der Regel an zwei Tagen der Woche) unterrichten zu lassen. Lehrgebiete waren Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturgeschichte und Erdkunde, Religion bildete ein durchgehendes Unterrichtsfach; siehe Karl Friedrich Schenck: Statistik des vormaligen Fürstenthums Siegen (Anm. 233), S. 36.

Aufsicht über das Schulwesen vor Ort führte der Pfarrer. Lehrer waren entweder junge Burschen (wie der 15jährige, gerade aus der Lateinschule entlassene Jung-Stilling; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte [Anm. 2], S. 91 ff.) oder am Ort ansässige bewanderte Handwerker bzw. Bauern. – Siehe auch Hermann Müller: Florenburgs Schulen. Ihre Geschichte, dargestellt nach den vorhandenen Unterlagen. Hilchenbach (Selbstverlag der Ev. Kirchengemeinde) 1957.

238 Wahrscheinlich übertrug man ihm die Haubergskasse. Hauberge nennt man die genossenschaftlich betriebenen Niederwälder des Siegerlandes. Sie dienten (nach schriftlich genau festgelegten forstwirtschaftlichen, rechtlichen und organisatorischen Regeln) der Holzkohle-Versorgung; siehe Hugo Wingen: Energie aus dem Hauberg. Siegen (Höpner) 1982.

Der Bedarf der eisenverarbeitenden Industrie des Siegerlandes war sehr hoch. Er wird für das Jahr 1787 mit 12 000 Wagen angegeben, wobei 1 Wagen Holzkohle = 0,54 Kubikmeter. – Siehe Johann Philipp Becher: Mineralogische Beschreibung der Oranien-Nassauischen Lande nebst einer Geschichte des Siegenschen Hütten- und Hammerwesens, 2. Aufl. Dillenburg (Seel-Weidenbach) 1902, S. 264.

239 Dienen = hier: sich als Dienstboten verdingen. Das Wort dienen leitet sich vom althochdeutschen thius: Diener, Knecht her.

240 Damast (nach der syrischen Hauptstadt Damaskus benannt) = zu jener Zeit: gemustertes Gewebe aus Baumwolle oder Seide (Seiden-Damast), das aus Verknnüpfen der Schuß- und Kettenfäden in wechselnder Bindung entsteht. Baumwoll-Damast kostete um 1780 etwa das Zwölffache einer gleichen Menge Stoffes aus Leinen oder Schafwolle.

Der Einfuhrzoll für aus Italien eingeführte Ware betrug selbst in Österreich nach dem erleichterten Tarif von 1725 noch immer 50 Reichstaler vom Zentner; siehe Vectigal und Mauth=Ordnung. So Von Ihro Röm. Käyserl. auch zu Hispanien/Hungarn und Böheim/ Königl Majestätt Carolo VI. Ertz=Hertzogen zu Oesterreich/ usw. Unsern allergnädigisten Herrn verneuert worden. Wienn (Andreas Heyinger) 1726, S. 4.

241 Bezahlt = hier: die Geschwister ausbezahlt und damit ihre Ansprüche an das Erbe abgefunden.

242 Kommode = bequem, annehmlich: ein lateinisches Wort.

243 Niedlich = hier: lusterweckend, lecker, wohlschmeckend; vom althochdeutschen niot: Verlangen, Lust.

244 Ehrgeizig = hier: zu sehr auf seinen guten Ruf bedacht. Geiz = Gier als starkes Verlangen nach etwas, in diesem Falle: nach Ehre als Ansehen bei den Mitmenschen.

245 Schöffe (von schöpfen: bewirken, tun) = Beisitzer bei Gericht (als ein das Urteil Mitschaffender).

246 Eine Perücke (Haarkappe als Kopfbedeckung von fremdem Haar) trugen um 1750 nur Männer der höheren Stände. Daher fiel der Hilchenbacher Schöffe als hausierender Viehhändler mit seinem ungewöhnlichen Kopfputz auf.

247 Holländische Waren = Kolonialwaren, nämlich aus den niederländischen Ansiedlungen in Amerika und Asien eingeführte Rohprodukte wie vor allem Zucker, Reis, Baumwolle, Tee, Kaffee und Gewürze.

Jung-Stilling kannte den Kolonialwarenhandel sehr gut. Denn sein Prinzipal Peter Johannes Flender in Kräwinklerbrücke, in dessen Haus er sieben Jahre zubrachte, war einer der bedeutendsten Großhändler holländischer Waren im Westen Deutschlands.

248 Aus dem Fundament = von den Anfangsgründen an.

249 Der Beruf des Fuhrmanns war zu jener Zeit geschätzt und brachte auch ein gutes Einkommen. Denn das Siegerland hatte einen sehr hohen Bedarf an Transportleistungen seitens der metallverarbeitenden Industrie. Jährlich waren etwa gut 70 000 gewerbliche Fuhren allein innert des Fürstentums Nassau-Siegen erforderlich; hinzu traten noch die Ferntransporte sowie die landwirtschaftlichen Fuhren. Die Straßen waren deshalb auch verhältnismäßig gut ausgebaut. Als das Gebiet 1815 an Preußen kam, verlangte die neue Herrschaft für diese Binnentransporte eine Wegesteuer, was zum Niedergang der Siegerländer Industrie beitrug.

Siehe näheres hierzu bei Karl Friedrich Schenck: Statistik des vormaligen Fürstenthums Siegen (Anm. 233), S. 438 f.(dort auch die Begründung, warum man mit schmalen und mit 13 cm dicken Nägeln beschlagenen Rädern an den Wagen fuhr).

250 Zehrung (Auszehrung; lateinisch: TABES, TABIS, f.) = in der alten Medizin ein Oberbegriff für alle Krankheiten, die zu einem schleichenden Zerfall der Körpersubstanz und dadurch zum Tode führen.

251 Arm = hier und zur damaligen Zeit überhaupt: ganz ohne Geld und Gut, so daß man sich nicht selbst ernähren kann und auf die Hilfe anderer angewiesen ist. – Bettelarm = die Hilfe anderer (Verwandter, Freunde, Gemeinde) fehlt, so daß man Almosen begehrend von Tür zu Tür gehen muß. — Heute nennt man arm auch Menschen, die zu den untersten Einkommensschichten gehören, sich wohl aber noch selbst durch das Leben bringen können.

252 Schrappen = hier: jemanden empfindlich übervorteilen; ein aus dem niederländischen scrapen: schröpfen im 16. Jahrhundert aufgenommener Ausdruck.

253 Gottseligkeit = in Gott genug habend, in der Gnade Gottes beglückt sein.

254 Das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“ ist aus der Bibel (Spr 16, 18).

255 Das Fürstenhaus Nassau-Siegen war 1743 ausgestorben. Erbe wurde Wilhelm IV. Karl Heinrich Friso, Prinz von Nassau-Oranien, dem auch Nassau-Dillenburg und Nassau-Hadamar zugefallen waren. Als Regierungssitz für die nassauischen Länder wählte man Dillenburg.

Bereits 1748 jedoch erkor man den neuen Landesherrn zum Generalstatthalter der Vereinigten Provinzen der Niederlande. Sein Enkel wurde 1815 als Wilhelm I. König der Niederlande; dessen Nachkommen besetzen noch heute den Thron. Die deutschen Erblande trat er an Preußen ab.

Die neue preußische Herrschaft bedrückte durch hohe Steuerlasten das (infolge der Kriegsereignisse schon arg gebeutelte) Siegerland derart, daß das Wirtschaftsleben fast zum Erliegen kam. – Siehe näheres bei Karl Friedrich Schenck: Statistik des vormaligen Fürstenthums Siegen (Anm. 233), S. 414 ff.

256 Künstlich = hier: zur Handwerkskunst geschickt (also ohne tadelnde Bedeutung im Sinne von: das nicht Echte, nicht Natürliche, nicht Wahre).

257 Siehe zum Begriff der Demut bei Jung-Stilling das Jung-Stilling-Lexikon Religion (Anm. 9), S. 25 und zum Begriff der Vorsehung ebenda, S. 178.

258 Schulkinder und junge, ledige Erwachsene mußten an Sonn- und Festtagen zu einer Unterweisung im Glauben und in der Sittenlehre eigens zur Kirche kommen. Diese Pflicht zur Christenlehre hielt sich an manchen Orten noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

259 Katechismus = Darstellung der Glaubenslehre in Form von Fragen mit Antworten; vom griechischen katechein: entgegentönen (wegen des Nachsprechens der Kinder), unterrichten.

260 Kindbett = Niederkunft: das Gebären eines Kindes durch die Mutter.

261 Also in Hilchenbach zwischen 1740 und 1750.

262 Beinebens schämte sich auch Jung-Stilling zuweilen der Nadel! Siehe Johann Heinrich Jung: Lebensgeschichte (Anm. 2), S. 103 sowie Rainer Vinke: Jung-Stilling und die Aufklärung (Anm. 51), S. 54.

263 Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehörten fahrende Händler (Hausierer, Kolporteure) mit Rückenkasten oder Rückenkorb (Kiepe) zum gewohnten Bild auf den Straßen und Wegen europäischer Landschaften. Man sah sie auch in Städten, ja sogar selbst in Großstädten. Sie gingen von Tür zu Tür und boten vor allem Zutaten zum Nähen (Kurzwaren; vom französischen coudre: nähen), Kämme, Brillen, Schmuck, Arzneien und dergleichen kleinere Artikel an. Oft trugen (Träger heißt im französischen porteur) sie Waren auch noch um den Hals (französisch: col; daher: Kolporteur).

Über die Umsatzanteile der Hausierer am Endwarenhandel gehen die Schätzungen der Wirtschaftshistoriker auseinander. Unstreitig ist aber, daß der Hausierhandel auf dem flachen Land (außerhalb der Städte und ihres Umkreises) noch zu Jung-Stillings Tagen bei einzelnen Warengattungen wie gerade Nähzubehör, Kämme und Schmuck der bedeutendste Träger des Absatzes beim Endverbraucher war.

264 Um 1760 betrug das Verdienst eines Handwerkers im Westen Deutschlands höchstens 30 Kreuzer pro Tag; wobei 90 Kreuzer = 1 Reichstaler. Bei damals etwa 305 Arbeitstagen konnte damit ein durch das Jahr beschäftigter Handwerker ein Bruttoeinkommen von ungefähr 100 Taler erreichen. Dabei handelt es sich um das reine Arbeitsentgelt, von dem noch die Abgaben an die Gemeinde und die Landessteuern zu zahlen waren. Der Bürgermeister einer Stadt erhielt um die gleiche Zeit ebenfalls etwa 100 Taler Jahresgehalt.

Der junge Bertram hatte (in welcher Zeit ist hier nicht angegeben; Jung-Stilling schreibt nur „bald“) durch seinen Handel also so viel verdient, wie ein vollbeschäftigter Handwerker oder ein Bürgermeister brutto in fünf Jahren.

265 Dornener Stock = ein nur Jung-Stilling eigener Ausdruck und sonst in dieser Zusammensetzung (auch mundartlich) nicht nachgewiesen; siehe Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2. Leipzig (Hirzel) 1860, Sp. 1294. Dornen meint hier wohl rohes, unbearbeitetes Holz und ist als Gegensatz gemeint zu einem (verhältnismäßig teuren) gedrechselten, geschliffenen, lackierten und vielleicht noch mit Metall beschlagenen Stock.

266 Notdurft = hier: Bedarf an nötigen (dringend erforderlichen, unentbehrlichen) Dingen.

267 Kontor = im engeren Sinne der Geschäftsraum eines Kaufmanns; in weiterer Bedeutung zur Zeit von Jung-Stilling auch ein Handelshaus gesamthaft. Das Wort kam um 1500 aus dem italienischen contore: Schreibstube des Kaufmanns in die deutsche Sprache.

268 Staat = hier und im folgenden: Aufwand, (unnötige) Umstände; vom lateinischen STATUS in gleicher Bedeutung.

269 Geht man auch hier wieder vom Jahres-Bruttoeinkommen eines Handwerkers oder vom Gehalt eines Bürgermeisters um diese Zeit (beidesmal etwa 100 Reichstaler) aus, so kostete der Neubau so viel, wie die beiden in 80 Jahren hätten verdienen können.

270 Das heißt: es waren Schwestern auszusteuern (nämlich so mit Heiratsgut zu versorgen, daß sie eine „gute Partie“ wurden, sie damit in reiche Kaufmannsfamilien einheiraten konnten und auf diese Weise auch die Geschäftsbeziehungen des ältesten Bruders dauerhaft erweiterten) und wohl auch jüngere Brüder mit deren (Pflicht)Erbteil abzufinden.

271 Hinter sich gehen = zum Nachteil geraten; hinter ist die zweite Steigerungsform (Komparativ) von hin: fort, hinweg.

272 Gastereien = Partys; Visiten = hier: Vergnügungsfahrten.

273 Den Aufstieg des Schuhmachers Peter Adolf Clarenbach (1661–1736) schilderte Jung-Stilling bereits 1779 sehr ausführlich; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen (Anm. 58), S. 138 ff.

274 Es handelt sich um die heutige Stadt Remscheid; siehe Johann Heinrich Jung-Stilling: Sachgerechtes Wirtschaften. Sechs Vorlesungen (Anm. 58), S.140 sowie Erich Mertens: Jung-Stilling im Bergischen Land. Siegen (Jung-Stilling-Gesellschaft) 1995 (Jung-Stilling-Studien, Bd. 3).

275 Fürst Friedrich Wilhelm Adolf von Nassau-Siegen (reg. 1691–1722) benötigte das Kapital für die Fertigstellung des von seinem Großonkel Johann Moritz (1604–1679) begonnenen Unteren Schlosses zu Siegen. — Rat = zur Beratung angestellter Beamter, hier: der fürstliche Finanzvorsteher.

276 Flor = Blüte, Wohlstand, gutes Gediehen; vom lateinischen FLOS: Blüte.

277 Gemeint ist hier der Tochtersohn von Peter Adolf Clarenbach, der Fabrikant und Großhändler Peter Johannes Flender (1727–1807), in dessen Diensten Jung-Stilling von 1763 bis 1770 stand; siehe Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens (Anm. 2), S. 43 ff.

Zu der verzweigten Nachkommenschaft von Peter Adolf Clarenbach siehe die Übersichten bei Arden Ernst Jung: Briefe zum Stand der Eisenindustrie des Siegerlandes und des Bergischen Landes im 18. Jahrhundert. Siegen (Forschungsstelle Siegerland) 1983, S.91 ff. (beinebens eine Fundgrube für die Wirtschaftsgeschichte jener Zeit).

278 Tatsächlich trifft diese Vorhersage von Jung-Stilling sogar bis auf unsere Tage zu! Die unmittelbaren Nachfahren von Peter Johannes Flender blieben mit Wohl-stand gesegnet und auch Jung-Stilling treu verbunden, wie man aus dem „Verzeichnis der Spender“ dieser Schriftenreihe unschwer erkennen kann.

279 Gemeint ist hier Peter Adolf Clarenbach.

280 Zu Rat halten = hier: aus wirtschaftlicher Überlegung entsprossene Vorsorge treiben.

 

281 Gottesfurcht = die ehrerbietige Scheu des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer als dem Urquell des Lebens, verbunden mit kindlicher Besorgnis, ihm zu mißfallen. Die Gottesfurcht in diesem Sinne wurde zur Zeit von Jung-Stilling als der für den Normalfall stärkste Antrieb zu sittlich gutem Handeln und als hochwichtig für die religiöse Erziehung angesehen.

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