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Das “Heimweh” von Jung-Stilling

DAS “HEIMWEH” VON JUNG-STILLING

von

Dr. theol. Otto W. Hahn,
Karlsruhe

Leicht veränderte, autorisierte Online-Fassung aus Michael Frost (Hrsg.): Blicke auf Jung-Stilling. Festschrift zum 60. Geburtstag von Gerhard Merk. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1991, Seite 115 bis 134. – Die gewerbliche Nutzung des Textes bedarf der schriftlichen Zustimmung des Copyright-Inhabers, der Jung-Stilling-Gesellschaft e.V., Siegen (Deutschland)

In den Jahren 1794 bis 1796 veröffentlichte Johann Heinrich Jung-Stilling sein Hauptwerk, den Roman “Das Heimweh” (4 Teile, ergänzt mit dem “Schlüssel zum Heimweh”). Jung-Stilling wollte mit dieser umfangreichen Schrift den mit vielerlei Bewährungsproben durchsetzten Weg des Christen als Pilgerschaft zur himmlischen Heimat darstellen, und zwar in Gestalt einer allegorischen Beschreibung der Reise eines jungen Mannes, des Christian Eugenius von Ostenheim, in den Orient. Damit griff Jung-Stilling auf ein genuin biblisches Motiv zurück.

A. Das Pilgermotiv

Nach dem Neuen Testament ist das Christsein wesentlich als Pilgerschaft zu verstehen. Jesu Ruf in seine Nachfolge bringt den Menschen in eine Bewegung, deren Ziel jenseits der sichtbaren und vergänglichen Welt liegt: “Unsere Bürgerschaft ist der Himmel” (Philipper 3, 20). Diese zum Himmel gewandte Haltung des Jüngers Jesu ist jedoch weder von Weltmüdigkeit noch von Weltflucht motiviert, wie man sie immer wieder missdeutet und immer wieder auch missverständlich gelebt hat. Sie bedeutet vielmehr eine geistliche – und damit auch missionarische und diakonische – Existenz, die der Welt und dem Menschen gibt, was der Welt und des Menschen ist; aber auch Gott gibt, was Gottes ist, deren innerstes Anliegen und letztes Ziel jedenfalls nicht in der Diesseitigkeit aufgeht.

Das neutestamentliche Pilgermotiv ist im Alten Testament vorgebildet. In den Vätergeschichten wird gezeigt, wie der Patriarchen unter Gottes Verheissung zu Fremdlingen und Pilgern werden, bis sie im Land der Verheissung zu ihrem Ziel gelangen. In der Exodusgeschichte wie in der ganzen Exodustradition des Alten Testaments wird Israel als wanderndes Gottesvolk vorgestellt, das aus dem Land der Sklaverei aufbricht, unterwegs Gottes Schutz und Versorgung sowie in auswegloser Lage Gottes wunderbare Hilfe erlebt, bis es unter Gottes Geleit ins Gelobte Land einzieht und dort seine “Ruhe” und sein “Erbteil” erlangt. Schliesslich ertönt in den Wallfahrtspsalmen die Sehnsucht des Frommen nach der Heiligen Stadt und nach Gott selbst: “Ich bin ein Pilger bei dir wie alle meine Väter” (Psalm 39, 13). Und endlich halten die Exilpropheten das Heimweh des gefangenen Gottesvolkes wach und rufen es zur Heimkehr auf.

Im Neuen Testament werden die Nachfolger Jesu ausdrücklich “Pilger” genannt. Der 1. Petrusbrief wendet sich an die “Fremdlinge und Pilgrime” (1. Petrus 1, 1; 2, 11). Der Hebräerbrief greift die Pilgerschaft der Väter und Mütter des Alten Bundes auf, versteht sich als einen Weg zum “himmlischen Vaterland” (Hebräer 11, 8–16) und deutet sie als normatives Vorbild für die Christen, die auch “keine bleibende Stadt” haben, “sondern die zukünftige suchen” (Hebräer 13, 14). Der Apostel Paulus versteht die Pilgerschaft der Christen als einen Weg aus der Ferne in die Heimat (2. Korinther 5, 1–9; Philipper 3, 20).

Das biblische Urbild der geistlichen Pilgerschaft blieb durch die ganze Kirchengeschichte hindurch wirksam. Wo es recht verstanden wurde, hielt es den Christen nicht von der Welt und dem dienenden Einsatz in der Welt fern, bewahrte ihn aber vor einer Vergötzung der Welt und seiner selbst. Die alte Kirche kannte die Wandermönche und die Wanderbischöfe – Gestalten, durch welche das Pilgermotiv unter den Christen lebendig blieb. Die iro-schottischen Mönche verliessen im frühen Mittelalter um Christi willen ihre Heimat und brachten das Evangelium auf den Kontinent (PEREGRINATIO PROPTER CHRISTUM). Auch das seit der alten Kirche übliche und im Mittelalter immer mehr zunehmende Wallfahrtswesen konnte den Christen, der im Begriff war, sich in dieser Welt bequem einzurichten, wachrütteln und an seine Bestimmung als HOMO VIATOR erinnern.

Martin Luther verlor bei aller Betonung der christlichen Glaubensbewährung in den Ordnungen der Welt nie das ewige Ziel des Christen aus dem Blick. In der Kirchenpostille mahnt er die Christen, “dies Leben auf Erden nicht anders anzusehen denn als ein Waller oder Pilgrim das Land, da er durchreiset, und seine Herberge, da er über Nacht lieget, … darum denket und richtet euch, als Pilgrim auf Erden, in ein ander Land und Eigentum, da ihr sollet Herren sein und bleibend Wesen haben, da kein Unfried, Unglück sein wird, wie ihr hier in dieser Herberg müsset leiden”.

Die Theologen und Liederdichter der Reformation und der nachreformatorischen Zeit hielten an dem Bewusstsein von Christenleben als einer Pilgerschaft fest. Das irdische Leben wurde als “Jammertal” verstanden, durch das hindurch die “Heimfahrt” in rechte Vaterland führt. In einer besonders ansprechenden, zu Herzen gehenden Weise gestalteten zwei Dichter des 17. Jahrhunderts das Pilgermotiv: Johann Matthäus Meyfart mit dem Lied “Jerusalem, du hochgebaute Stadt” (1626) und Paul Gerhardt mit dem Lied “Ich bin ein Gast auf Erden” (1666).

Um diese Zeit schuf in England John Bunyan, der Kesselflicker und Laienprediger, in einer Gefängniszelle, in der er wegen Übertretung des Predigtverbots 13 Jahre lang ausharren musste, ein zeitlos schönes literarisches Kunstwerk mit seiner Erbauungsschrift “The Pilgrim’s Progress” (1678), mit der er dem Pilgermotiv den literarisch klassischen, geradezu vollendeten Ausdruck verlieh, so dass diese Erbauungsschrift zurecht zu den am weitesten verbreiteten Büchern der Weltliteratur zählt.

John Bunyan unternahm mit der “Pilgerreise” den Versuch, möglichst alle Aussagen der Heiligen Schrift, die sich in unmittelbarer Weise auf die Zueignung und Aneignung des Heils beziehen, zu ordnen und zu einer Schilderung des Heilsweges zu verarbeiten, der als Weg im buchstäblichen Sinn symbolhaft und exemplarisch in Form einer Pilgerschaft beschrieben wird. Dies alles geschieht in einer sprachlich, psychologisch und seelsorgerisch solch meisterhaften Weise, dass die Übertragung der Symbole und Begriffsallegorien in den Alltag des Christenlebens jedem Leser problemlos möglich ist. In theologisch-inhaltlicher Hinsicht steht Bunyan auf dem Boden der Reformation, insofern als ein gesetzliches Missverständnis des Heilsweges als normierender Heilsordnung oder als eines von unten nach oben zu verwirklichenden Erlösungsprozesses nahezu ausgeschlossen ist. Besonders einprägsam ist die “Pilgerreise” durch ihre Strukturierung in Hauptstationen des Heilsweges. Durch den Halleschen Pietismus fand Bunyans “Pilgerreise” Eingang in Deutschland und bekam auch hier eine breite und tiefe Wirkungsgeschichte wie wenige andere Bücher.

In den pietistischen Versammlungen wurde der Pilgergedanke in Verkündigung und Lied kräftig betont. Friedrich Adolf Lampes Lied “Mein Leben ist ein Pilgrimstand” (1719), Graf Zinzendorfs Lied “Jesu, geh voran auf der Lebensbahn” (1725) und Gerhard Tersteegens Lied “Kommt Kinder, lasst uns gehen” (1738) sind nur die bekanntesten in einer ganzen Reihe pietistischer Pilgerlieder. Zinzendorf gestaltete seine Brüdergemeine bewusst zu einer Pilgergemeinde. Doch auch aus den anderen pietistischen Versammlungen zogen Missionare in alle Welt und Helfer zu dem Lazarus vor der eigenen Tür und bewiesen damit, dass das Pilgermotiv, recht verstanden, nicht weltflüchtig macht, sondern missionarische und diakonische Kraft in sich trägt.

Auf der anderen Seite ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dass das Bewusstsein von der Fremdlingschaft und Pilgrimschaft des Christen und die Erkenntnis des im Neuen Testament bezeugten Heilsweges in der christlichen Kirche durchaus nicht kontinuierlich festgehalten wurde. Im Gegenteil: es gab Zeiten, wie in der Orthodoxie, in der sich die Kirche in der Gefahr der Erstarrung bewegte, indem sie zwar das transzendente Ziel des Christen als dogmatischen Topos noch beibehielt, aber dessen diesseitige praktische Folgen in Verkündung und Lehre, Mission und Diakonie übersah. Und vor allem bewegten sich breite Strömungen in der evangelischen Theologie seit dem 18. Jahrhundert auf dem Kurs einer inhaltlichen Vermengung von Evangelium und Politik mit dem Ziel einer immanenten Verwirklichung des Reiches Gottes, indem sie das soteriologische und eschatologische Vokabular der Kirche zwar noch gebrauchten, es aber mit menschlichen Ideen füllten und so die Gott selbst vorbehaltenen Aktivitäten und die seinem ewigen Reich zugeschriebenen Werte auf menschliches Handeln und irdische Ideale übertrugen. Die Pilgerschaft des Christen wurde damit säkularisiert. Man verstand sie nicht mehr als eine Bewegung zum ewigen Reich Gottes, sondern zum irdischen Paradies hin. Solche Gedanken lagen in der Luft, als Jung-Stilling im Jahre 1740 geboren wurde.

B. Die Entstehung des “Heimweh”-Romans

Als ein Knabe von sieben bis acht Jahren fand Jung-Stilling in der “Reise eines Christen nach der seligen Ewigkeit von Johann Bunian” eine “unaussprechlich angenehme Lektüre”, so berichtet es Jung-Stilling selbst in seinem “Schlüssel zum Heimweh”. Und bereits als Achtjähriger versuchte er auch, “ein solches Buniansbuch” zu schreiben. Aber sein Grossvater korrigierte ihn dabei liebevoll und zeigte ihm, dass er im Grunde lediglich Bunyan kopiere.

Ein “IPSE FECIT” versuchte Jung-Stilling als Student in Strassburg (1770–1772) und später noch einmal als Professor der Staatswirtschaft in Heidelberg (1784–1787). Aber jedes Mal misslang ihm das Werk, es wollte und konnte nicht gelingen – “und zwar immer aus dem natürlichen Grunde, dass ich die Waffen zu einem Kampf, und die Kunst zu überwinden, unmöglich schildern und beschreiben konnte, ehe ich jene kannte und dies wusste”.1 Jung-Stilling war also in jenen Jahren selbst noch ein “Halbgeborener”, wie er später im “Heimweh” diesen Zustand charakterisierte.

Seit seiner Studienzeit in Strassburg und dann als Arzt in Elberfeld, als Professor und Schriftsteller in Kaiserslautern und Heidelberg und auch noch in den Anfangsjahren seiner Wirksamkeit in Marburg, also ungefähr 1770 bis 1790, verfolgte Jung-Stilling die theologische Richtung der frommen Aufklärung. Auf seinen bis dahin durchschrittenen Lebensweg zurückblickend, sprach Jung-Stilling im Jahre 1796 von vielen “bedauernswürdigen und unbeschreiblich leichtsinnigen Abirrungen” seines Lebens, insbesondere von seiner Bekanntschaft von “Freigeistern” in Strassburg, die ihn seelisch und geistlich gelähmt habe. Zwanzig Jahre habe er “ohne gründliche Überzeugung der Wahrheit” gelebt.2

In dieser Zeit schrieb Jung-Stilling vier Romane (zwischen 1779 und 1785). In ihnen klingt das Motiv der Pilgerreise zwar immer wieder an, nur ist es inhaltlich fast vollständig in sein Gegenteil verkehrt.3 Die Helden in Jung-Stillings Romanen finden durch Pädagogik und Einsicht zum gottgefälligen Leben; sie sind nicht beunruhigt um das Heil der Seele, sie bangen nicht um ihre Rechtfertigung vor Gott, sie brauchen nicht um Gottes Gnade zu flehen, sie erleben keine Busse und keine Wiedergeburt, sondern eine kontinuierliche Entwicklung vom Guten zum Besseren bis zur Vollkommenheit, da ihre Grundlagen gut sind. Die “Pilgerschaft” der Helden besteht in ihrer Entwicklung zu tüchtigen Staatsbürgern, die an einem Paradies auf Erden arbeiten. Die Quintessenz der ganzen Bibel bestand für Jung-Stilling in jenen Jahren in der “Moral Jesu”, welche die christlichen Staatsbürger zur moralischen Vollkommenheit führen und damit die Grundlage für ein blühendes Staatswesen legen soll.

Erst die geistliche Wende, die Jung-Stilling um 1790 erlebte, macht ihn fähig, ein Werk anderen Inhalts zu schreiben.4 Jung-Stilling erfuhr in dieser Zeit eine allmähliche, grundlegende Veränderung in seinem Denken und Leben. Damit wurde auch sein bisher säkulares Bild der Pilgerschaft und die entsprechende Zielsetzung seiner Arbeit entscheidend korrigiert. Rückblickend auf diesen Veränderungsprozess, schrieb Jung-Stilling im Jahre 1801: “Ich ward von der Zeit an ein ganz anderer Mensch … Zu nichts habe ich Lust, als zum einen, das not ist, ganz für den Herrn zu leben und zu sterben.”5

Unter den verschiedenen Stationen der geistlichen Wende Jung-Stillings waren zwei Erlebnisse entscheidend. Zunächst die Lektüre von Kants “Kritik der reinen Vernunft” im Winterhalbjahr 1788/89, wodurch Jung-Stilling endgültig klar wurde, dass der Mensch mit den Massstäben und dem logischen Verfahren seiner Vernunft nur Erkenntnisse innerhalb von Raum und Zeit gewinnen kann und sich infolgedessen die göttlichen, ewigen Dinge dem Zugriff der Vernunft entziehen – eine für Jung-Stilling ungemein befriedigende Erkenntnis. Schliesslich halfen ihm Gespräche mit dem Rüsselsheimer Pfarrer Georg Ludwig Sartorius im Herbst 1789 endgültig “auf den rechten Weg”.6 Von da an bekannte er sich ungebrochen, klar und tapfer zur biblischen Botschaft. Die Heilige Schrift wurde ihm jetzt “zur einzigen Glaubens- und Erkenntnisquelle”.

Unter dem Eindruck der Französischen Revolution von 1789 begann Jung-Stilling sich intensiv mit der biblischen Eschatologie zu beschäftigen. Dadurch gewann er eine veränderte Sicht der Welt und ihrer Geschichte. Aus der optimistischen Zukunftserwartung der frühen Schriften mit dem Ziel der Umgestaltung der Welt zu einem Paradies wurde eine geistliche Aufbruchstimmung angesichts der nahen Zukunft des Herrn.

So fand der Verleger Krieger, als er im Sommer 1793 Jung-Stilling im Marburg besuchte, um ihn um etwas “Ästhetisches” zu bitten, diesen in einer geistigen Verfassung vor, die für die Abfassung eines im Vergleich zu seiner bisherigen Schriftstellerei ganz anderen, neuartigen Werkes wie geschaffen war.

Während des Gespräches mit dem Verleger fiel Jung-Stilling “die alte Idee der Christenreise” wieder ein, deren Verwirklichung ihm bisher misslungen war. Er nahm sich vor, diesen über 50 Jahre alten Gedanken jetzt endlich zu verwirklichen und sagte dem Verleger zu. Denn “mein eigener Weg, die vielen Erfahrungen an andern und glücklich gekämpfter Kampf, dies alles machte mir die Ausführung leicht”.

So hatte Jung-Stilling schnell eine klare Konzeption für sein neues Buch. Und da er sich erst kurz mit Laurence Sterns Roman “Tristram Shandy” und mit Theodor Gottlieb von Hippels autobiographischem Roman “Lebensläufe in ansteigender Linie A.B.C.” beschäftigt hatte und von deren Stil angetan war, orientierte er sich in der formalen Gestaltung seines Buches an diesen. Das Motiv für die Wahl des Buchtitels schliesslich – womit Jung-Stilling übrigens den Begriff “Heimweh” in die deutsche Umgangssprache einbrachte – bildete folgende Überlegung:

“Meine und aller rechtschaffenen Christen Empfindung in den gegenwärtigen Zeiten hat viel Ähnliches mit dem natürlichen Heimweh; man möchte sich fertigmachen und nach Hause reisen; denn wahrlich, es wird einem schwer, länger in diesem Lande der Fremdlingschaft auszuhalten, wo man alles dulden will und dulden soll, nur die Christen nicht; wo man wohl ungeneckt Christentum lästern, aber nicht frei mehr bekennen darf, und wo man Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Ziel hat, die Christen aber davon ausschließen will: sollte man da nicht das Heimweh im höchsten Grade bekommen? In diesem Gefühl kam nun einige Zeit vorher, ehe ich zu schreiben anfing, ein Student zu mir; wir sprachen und verstanden uns; er präsentierte mir sein Stammbuch, und da er bei mir war, um auf immer Abschied zu nehmen, so verband ich diese Idee mit meiner herrschenden, setzte mich und schrieb: selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen! Nachher gefiel mir diese Sentenz so wohl, daß ich beschloß, mein jetzt zu schreibendes Werk ‘das Heimweh’ zu nennen und mit obiger Sentenz den Anfang zu machen!”7

Seinen Gemütszustand während der Abfassung des Romans empfand Jung-Stilling “schlechterdings unbeschreiblich”; “sein Geist war wie in ätherische Kreise emporgehoben; ihn durchwehte ein Geist der Ruhe und des Friedens, und er genoss die Wonne, die mit Worten nicht beschrieben werden kann. Wenn er anfieng zu arbeiten, so strahlten Ideen seiner Seele vorüber, die ihn so belebten, dass er kaum so schnell schreiben konnte, als es der Ideengang erforderte; … in dem Zustande zwischen Schlafen und Wachen stellten sich seinem innern Sinn ganz überirrdisch schöne, gleichsam paradiesische Landschaftsaussichten vor … Mit dieser Vorstellung war dann allemal ein Gefühl verbunden, gegen welches alle sinnlichen Vergnügen wie nichts zu achten sind – es war eine selige Zeit! – dieser Zustand dauerte genau so lang, als Stilling am Heimweh schrieb, nämlich von August 1793 bis in den December 1794, also volle fünf viertel Jahr … Es war eine erhöhte Empfindung der Nähe des Herrn, der der Geist ist; dies Licht strahlte in seine Seelenkräfte, und erleuchtete die Imagination und die Vernunft. In diesem Licht sollte Stilling das Heimweh schreiben”.8 Und F.H.C. Schwarz, Jung-Stillings Schwiegersohn, der seinen Schwiegervater während der Zeit der Abfassung des “Heimwehs” erlebte, charakterisierte dessen Zustand damals so: “Sein Heimatgefühl sah überall nach oben”.9

C. Der Zweck des “Heimweh”-Romans

Das “Heimweh” “soll blosse allegorische Vorstellung des Heiligungsweges des Christen von seiner Bekehrung bis zu seiner Vollendung sein” – so beschrieb Jung-Stilling selbst den Zweck des Buches und äusserte die Hoffnung, dass es “ein nützliches und angenehmes Erbauungsbuch”10 werde. Jung-Stilling sah sich beauftragt, “den Heimwehkranken, denen es bei dem Wirrwarr von Wegen, die alle nach Haus führen sollen, schwer wird, den rechten zu treffen”,11 den wahren, von der Bibel gewiesenen Weg nach Hause zu zeigen. Die den Heilsweg blockierende aufklärerische Modephilosophie musste er dabei bekämpfen und “einen Sinaitischen Blitz auf die stolze Dame schleudern, die auf ihrem wiehernden Gaul hoch einhertrabt und den Leuten die Köpfe verdreht”.12

Damit verband Jung-Stilling jedoch zugleich die Absicht, den geistlichen Erziehungs- und Entwicklungsgang der “Kreuzritter”, der Führer der christlichen Gemeinde, vorzubilden, solche “zu wecken und anzuwerben” und diese im Umgang mit den “Verteidigungswaffen” gegen die “antichristliche Macht” der Zeit anzuleiten.13 “Endlich kam bei dem Schreiben des Heimwehs noch eine dritte Idee hinzu”,14 nämlich den durch die Anfechtungen der Zeit hindurchführenden Weg der christlichen Gemeinde zu ihrem irdischen und ewigen Ziel zu beschreiben. Jung-Stilling ging dabei von der Überzeugung aus, dass “die Vorsehung im Ganzen der Kirche Gottes, wie im Einzelnen, einerlei Maxime beobachtet”, so dass er durchaus alle Resultate, die er “aus der langwierigen Betrachtung des prophetischen Worts gezogen hatte, wohl mit der Christenreise verbinden könnte”.15

Diese dreifach gegliederte Ausrichtung des Werkes sollte insgesamt dem grossen Ziel der Erweckung dienen, also die schlafende Christenheit wachrütteln, sie vor dem grossen Abfall warnen und alle Christen, die sich erwecken lassen, zum missionarischen Gegenangriff gegen die antichristliche Macht anleiten, um die verstörte Kirche zu erneuern und zu retten, was noch zu retten ist. Dieses Anliegen wird im “Heimweh” durch eindrucksvolle Bilder verdeutlicht.

(1) Bilder aus dem Alten Testament, z.B.: “das öde Jerusalem soll wieder schön werden”; der Christ soll “Zedern auf dem Libanon fällen und davon zu Jerusalem einen neuen Tempel bauen”; “unter den vielen hunderttausend Schlafenden im nördlichen und westlichen Europa regte sich’s hin und wieder, wie auf Ezechiels Knochenfeld”.

(2) Bilder aus dem Neuen Testament, z.B.: “einige rissen sich auf, liessen sichs gesagt sein, und eilten, ihre Lampen zu schmücken und dem Bräutigam entgegenzugehen”; “euch sendet der Herr aus, überall zu sammeln … dringt aus Wachen und Beten und auf das Bereithalten der Lampen… !”; nur diejenigen Christen, die sich vom Herrn entsprechend zubereiten lassen, “dürfen den neuen Tempel bauen”; “da gehen wir nun umher und laden Krüppel, Lahme, Blinde und Landstreicher ein”; Christen sollen “dem Geheimnis der grossen Hure aus allen Kräften entgegenwirken und das Geheimnis des Reiches Gottes aus allen Kräften fördern”. Und Jung-Stilling betet: “Mein Herr und mein Gott, mache doch mein Heimwehbuch zu einem St. Peters-Netze und mich zu deinem Seelenfänger!”

(3) Bilder und Formulierungen aus dem missionarischen Bereich, z.B.: “o möchtet ihr aufmerken, ihr, die ihr noch auf dem Scheidewege steht… Allen, allen werde ich zurufen: hierhier, hierher! diesen Weg müsst ihr gehen und nicht jenen!”; “o, alle ihr Leser der Geschichte des Heimwehs! — o werdet Christen!” Und wer sich entschieden zu Christus hält, der soll sich üben im “Missionsgeschäft” bzw. “Bekehrungsgeschäft”.

(4) Bilder aus dem militärischen Bereich, z.B.: “wenn Urania (- die himmlische Wahrheit) einmal den Besen wegwirft und die Fahne ergreift”, werden sich ihre Feinde “dereinst gewaltig verwundern” darüber, wie sie kämpfen und siegen wird; Jung-Stilling nimmt sich vor: “Kämpfen und mit zu Felde ziehen, ja das will ich”; “kämpfen bis aufs Blut” und “in allen Weltteilen heldenmütige Krieger” anwerben.

(5) Bilder aus dem medizinischen Bereich, z.B.: alle schweren Prüfungen, alle Leiden, die Jung-Stilling zu bestehen hat, sollen in ihrer Auswirkung der Förderung des Reiches Gottes dienen — “dieser betränte und mit meinen Seufzern beseelte Staub müsse der Erzeuger einer Pflanze werden, deren Heilkräfte der Braut ihrem Bräutigam, zärtliche Eltern ihr Kind und einem Heer von Notleidenden ihren Wohltäter … zurückrufen”; Gott schenkt denen, die für sein Reich kämpfen, manches “Stärkungsmittel” und auch die Arznei, die “zur Gesundheit der Heiden” dient. Schliesslich soll vom “Heimweh” eine gesunde Ansteckung ausgehen: “du gutes liebes Heimweh — ach möchtest du doch alle, die dies lesen, anstecken!”

(6) Bilder aus dem landwirtschaftlichen Bereich; z.B.: Jung-Stilling erlebt eine Ermunterung für seine Erweckertätigkeit durch die “Erinnerung aus Garbenbringen zur Zeit der Ernte” und durch den Zuspruch: “sei versichert, dass alle diese verdorrten Bäume, sei’s durch Okulieren oder durch fruchtbares Wetter, wieder ausschlagen und dereinst noch recht viele edle Früchte tragen werden”.

(7) Bilder aus dem forstwirtschaftlichen Bereich, z.B.: Solyma soll als die “Pflanzenschule des Reiches Gottes auf Erden gebaut werden”.

Jedes von Jung-Stilling gebrauchte Bild soll einen bestimmten Aspekt aus dem grossen Ziel der Erweckung der Christenheit veranschaulichen.

D. Die Charakterisierung der Zeit im “Heimweh”-Roman

 

I. Beschreibung der eigenen Lage und die der Weggenossen

Wieder sind es Bilder aus verschiedenen Bereichen, die Jung-Stilling zur Illustration heranzieht, und zwar

(1) aus dem Bereich der Meteorologie: es herrscht “rauhes Wetter”, “kaltes Wetter”; kein Wunder also, dass eine “allgemeine Erkältung” die Menschen erfasst hat; Jung-Stilling mahnt: “verseht euch mit Brot, warmer Kleidung und Feuernahrung auf den Winter, der Winter wird sehr kalt werden!”. In dieser ‘Witterung’ erkennt Jung-Stilling für sich selbst nur eine einzige Aufgabe: “Ich armer unbedeutender Bücherschreiber, der aber diesen grossen verkannten König der Menschen in dieser kalten Herbstabendstunden so inbrünstig liebt, wie einer in der Welt, sage in eben dem Sinn: ich bin gekommen, alle meine Brüder und Schwestern mit dem Heimweh anzustecken, was wollte ich lieber, als sie hätten’s schon”. Aber nicht nur “rauh” und “kalt”, auch ganz anders kann sich die Zeit darstellen: “es ist schwül am grossen Abend der Welt…, der ganze occidentalische Horizont ist eine einzige Gewitternacht…; wer feine Sinne hat, der sieht schon von weitem Blitze und hört das zweifelhafte Grollen des fernen Donners”; die “schreckliche Nacht” des Unglaubens bricht herein.

(2) aus dem Bereich der Geographie: Eugenius fühlt sich einsam, als sei er in der Wüste; er ist ein Fremder in seiner Umgebung, als sei er in Sibirien.

(3) aus dem Bereich der Politik: man “unterdrückt mit Gewalt” die Überzeugung der Jünger Jesu.

(4) aus dem Bereich der Landwirtschaft: die Ernte für das Reich Gottes nimmt ab, die Erntearbeiter empfinden, dass ihre Arbeit immer beschwerlicher und unergiebiger wird.

(5) aus der Bibel: es ist eine Zeit der “Sprachverwirrung”, man versteht die Gläubigen nicht. Es sind “Ahabs- und Isebels-Zeiten” bzw. “Herodes- und Pilatus-Zeiten”, also Zeitumstände, in denen Christus “wieder gekreuzigt wird”, weil man statt mit ihm mit den Göttern der Zeit leben will; in dieser Zeit sind die Gläubigen unbequem, sie stören, werden verachtet und verfolgt.

6) aus dem Bereich der Psychologie: “das Herz blutet” Jung-Stilling, wenn er die Zeichen der Zeit beobachtet und bei seiner “Tränenlampe” sein Heimweh schreibt. “Es geht mit der christlichen Religion wie mit einer alten Kleidermode, man schämt sich, damit in Gesellschaft zu erscheinen”, “man wird schon angefeindet, wenn man Christentum nach seinem Sinne und nach den Lehren der Apostel bekennt, sucht man aber vollends dieses Bekenntnis durch Lehre und Schriften auszubreiten, dann speit der Drache Gift, und sein Tier möchte aus der Haut fahren”.

Dies alles aber, was der Kreuzritter mit seinen Freunden erleben und erleiden muss, ist einen Widerspiegelung der Lage der Kirche.

II. Beschreibung der Situation der Kirche

In einer eindrucksvollen Szene schildert Jung-Stilling den erbarmungswürdigen Zustand der Kirche: Eugenius trifft auf seinem Weg nach Osten einen Bettler am Weg, der wie ein deutscher Schäfer gekleidet ist (der wahre geistliche Lehrstand). Dieser spielt auf seiner Flöte (das wahre alte Evangelium) Trauerlieder. Eugenius kommt mit dem Bettler ins Gespräch. Der erzählt seine und seiner Familie (das Häuflein der wahren Gläubigen unter dem Druck des Zeitgeistes) Geschichte. Früher hatte die Familie glückliche Tage. Doch sie wurde in die Fremde, in Elend geschickt. Auch der Schwiegervater (der allgemeine Kirchenglauben) wurde mit verbannt und verstummte unter diesen schweren Erlebnissen. Und Kunigunde, die Frau des Bettlers (die Gemeinde des Herrn), fiel in tiefe Schwermut, ja geriet ins Delirium, weil man ihr die Kinder raubte und nach den Vorstellungen der Zeit zwangsweise umerzog. Mit innerster Beteiligung und Bewegung setzt sich Eugenius zu Kunigunde auf die Erde nieder tröstet sie: “Ich möchte dir so gerne helfen… Gott kann und wird dir auch helfen, — ermuntre dich doch, liebes Weib! — siehe, du sollst auch deinen Kinder, wenn Gott will, wieder bekommen.”

Die Lage der protestantischen Kirche ist besonders bedrohlich: “die Protestanten sind der Wahrheit näher, sie haben die Kraft der zukünftigen Welt geschmeckt, wehe ihnen, wenn sie abfallen, und sie fallen wirklich ab”.

Die Ursache für diesen Abfall und den damit verbundenen erbärmlichen Zustand der Kirche liegt bei den Theologen. Die meisten Theologen “haben die Brille der spekulativen Vernunft auf der Nase, durch welche sie Hebräisch und Griechisch wie das Wasser weglesen können; da bleibt dann kein Tropfen Spiritus zurück, den ein anderer ehrlicher Mann anzünden könnte”. So fördern also diejenigen, die eigentlich das Licht bringen sollten, noch die allgemeine Dunkelheit. In ihren Amtsgeschäften gleichen sie “blinden Blindenleitern”. Ebenso bleiben sie ihren Zeitgenossen die Nahrung der Seele schuldig. Sie gleichen dem “dummen Salz”. Und was sie servieren, ist dementsprechend: “Uns ekelt vor dieser losen Speise, vor der dürren und kraftlosen Speise.” Muss es einen da noch wundern, wenn ein “allgemeiner Kirchenekel” und schliesslich ein “allgemeiner Religions- und Sittenbankrott” entsteht? Neumodische Geistliche bleiben den Menschen aber nicht nur das Evangelium als das Licht auf dem Weg und als die Nahrung der Seele schuldig, sondern sie verkehren darüber hinaus ihre Berufung in deren Gegenteil: “sie kochen Gift und Galle”, und die Jugend verschluckt dieses Gift mit grosser Begierde.

Ja, einige verfolgten Christus sogar regelrecht. “Ach wollte Gott, dass nur keine Professoren und Religionslehrer unter den Kreuzigern wären!” “O wie schwer wird’s besonders so vielen akademischen Lehrern der Gottesgelehrtheit werden, wider den Stachel zu lenken! — Der eine erkühnt sich, scherzenden Spott über den Heiligen Geist auf dem Katheder zu sagen; er würde das wahrlich nicht tun, wenn sein eigener Geist heilig wäre; der andere erklärt den Geist der Weissagung für Dichtergenie. Mit diesen bösen und verführerischen Menschen wird’s je länger je ärger, sie verführen und werden verführt, sie lernen immerdar und können nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Sie sind Taubenkrämer und Wechsler, die Christus bald wieder aus dem Tempel hinausgeisseln wird. Aber das ist zum Erbarmen, dass so viele gute Jünglinge von ihnen verführt und zu Volkslehrern gebildet werden, die dann entweder Stroh-Moral predigen oder gar zu schrecklichen Heuchlern werden.”

III. Beobachtung der “Modephilosophie”

Das Hauptmittel, dessen sich die Finsternis im Kampf gegen das Licht unter den gegebenen Zeitumständen bedient, ist die aufklärerische “Modephilosophie”, die das Denken der Zeit bis hinein in die Kirche beherrscht. Um ihrer Faszination nicht zu erliegen, muss man sie genau kennen. Jung-Stilling bemüht sich deswegen besonders darum, die Modephilosophie zu kennzeichnen und sie als Zeichen der Zeit zu begreifen.

(1) Die Aktivität und die Argumentation der Modephilosophie. Mit imponierendem Gehabe und blendender Attraktivität tritt die Modephilosophie auf und “verdreht den Leuten die Köpfe”. Sie erweckt den Eindruck, als wäre sie eine “Morgenländerin”, also eine göttliche Gesandte, die die ewigen Wahrheiten zeitgemäss vertritt. Sie “hält alles für natürlich und alles Natürliche für gut”. Für sie gibt es ein “Einwirken der unsichtbaren Welt auf die sichtbare”. Solch ein Gedanke ist für sie lächerlich. Sie lehrt, dass Christus nur Mensch war und dass die Geschichte Jesu offenkundig Fehler enthalte. Nach ihrer Überzeugung kommt es auch nicht auf die in der Bibel berichtete Geschichte an, sondern auf deren Extrakt, die Moral. Aber merkwürdig — bei aller Betonung der Moral kennt der Anhänger der Modephilosophie “keine Schranken, er tut, was er will”.

Die Modephilosophie betont zwar ständig das Ideal der Toleranz; den nach der Bibel lebenden Christen begegnet sie jedoch ausgesprochen intolerant. Sie findet deren unmittelbar aus der Bibel abgeleiteten Massstäbe unerträglich, weil ihr eigener allein objektiver Erkenntnisgrund die Natur und ihr einziger subjektiver Erkenntnisgrund die Vernunft ist. Ihre Intoleranz gegenüber den beim Wort der Schrift verharrenden Christen steigert sich sogar zur Aggression: wie ein Raubtier verfolgt sie die Gemeinde Jesu und sucht von ihren Gliedern wegzuschleppen, wen sie nur ergreifen kann.

(2) Ihre Taktik. Die Modephilosophie bedient sich der “Verführungsmethode des Schlangengeistes: erst erregt er Zweifel, ob man auch das Gebot Gottes recht verstehe, dann erklärt er es nach einem der Sinnlichkeit gefälligen Verstande, und nun erregt er Stolz und Begierde des Genusses, und so ist der Fall fast unvermeidlich”.

(3) Ihr Wesen. Sie besitzt eine äusserlich angenehme Erscheinung, ist ordentlich, reinlich, schön, grundgescheit und redselig. Und doch: sie ist neumodisch aufgemachte Dienerin des Antichristen, die Hauptverführerin der Menschheit, die mächtigste Gegnerin der biblischen Wahrheit und der von ihr lebenden christlichen Gemeinde, sie bereitet dem apokalyptischen Tier den Weg.

(4) Ihr Ziel. Sie sucht mit allen Kräften die biblische Wahrheit zu verdrängen, die Christen zu verderben, das Reich Gottes zu verhindern.

(5) Ihre Verbündeten. Der wichtigste und erfolgreichste Verbündete der Modephilosophie ist die neumodische Geistlichkeit. Wie sie es von ihrer Herrin lernt, so tritt sie überaus freundlich, höflich, tolerant und gelehrt in Erscheinung. Aber diese attraktiven Äusserlichkeiten sind lediglich ein Lockmittel, um die Menschen mit den Mitteln der Religion der Modephilosophie zuzuführen.

So scheinheilig das Auftreten der neumodischen Geistlichkeit ist, so künstlich ist auch das Licht ihrer Theologie. Sie lässt das Bild des Erlösers zwar strahlend aufleuchten, doch bei genauerem Hinsehen erkennt man das künstliche Gebilde und die raffiniert hinter dem scheinbaren Bild Christi versteckten selbstgeschaffenen Ideale. Der neumodischen Geistlichkeit auf die Schliche zu kommen, ist sehr schwer; denn formal stimmt alles, was sie sagt und tut, mit der Bibel überein. Man muss sie, um sie zu enttarnen, nach dem Geheimnis der Wiedergeburt fragen; davon weiss sie nichts. Bei aller vorgetäuschten Christlichkeit liefert sie den Menschen letztlich sich selber und seiner gefallenen Natur aus. Dahin zielt ihr Betrug.

Die zweite Verbündete und zugleich die Herzensfreundin der Modephilosophie ist “Fräulein von Nischlin” (sinnlich, Sinnlichkeit). Deren Helfershelfer überfallen den Kreuzritter und bringen ihn gewaltsam auf ihre Burg. Sie versucht, ihn für sich zu gewinnen, indem sie seine Heimwehreise als mühselig darstellt und ihm dagegen den Lebensgenuss anpreist: Was man hier und heute geniesst, das habe man schon; was man dagegen nach dem Tod gewinnt, wisse man ja nicht genau. Aber auch mit gutem religiösen Brauch und mit sittlicher Schönheit versucht Fräulein von Nischlin den Kreuzritter zu verführen.

Auch die schönen Künste weiss sie zu ihren Zwecken zu nutzen. Selbst die Wohltätigkeit muss ihr assistieren. Fast wäre der Kreuzritter ihr Opfer geworden, hätte er ihr nicht im letzten Augenblick scharf ins Gesicht gesehen und ihre primitiven und gefährlichen Züge entdeckt und gemerkt, dass ihre vermeintliche sittliche Schönheit bloss Schminke ist und sich hinter den ästhetischen und sozialen Idealen ein “ganzes Drachennest von Lastern” verbirgt.

Der dritte Verbündete der Modephilosophie ist ein besonders raffinierter Geselle: Herr Saphienta (Phantasie – Schwärmerei). Saphienta ist ein “Herzensfreund” der Fräulein von Nischlin. Er ist mit ihr aufgewachsen, hat also mit derselben Kinderstube auch dieselbe Grundprägung und -ausrichtung, selbst wenn er sich noch so religiös gibt. Er ist in seiner Art freundlich und gewinnend und in seinen Angeboten geradezu fesselnd, besonders durch sein Geheimwissen über Vergangenheit, Zukunft und Jenseits, über die Geheimnisse der Natur und des Kosmos. Schwärmerei und Sektiererei sind sein Element.

Da er im Unterschied zu Fräulein von Nischlin die Heimwehreise des Kreuzritters für gut erklärt, gewinnt er leichter dessen Vertrauen. Er bietet sogar an, den Kreuzritter ein Stück des Weges zu begleiten und dann “zu treuen Händen” weiterzuempfehlen. In Wahrheit wollte er ihn allerdings, wie sich später herausstellt an Sklavenhändler ausliefern. Bis zum Zielort Solyma verfolgt Saphienta den Kreuzritter, ja selbst dort bleibt er ihm noch auf den Fersen, um ihm möglichst zum Straucheln zu bringen. Saphienta “ist ein Satan, der sich in einen Engel des Lichtes vergestaltet und dann der Seele grosse Dinge vorprahlt”. Er will über Gott verfügen, Gott gleichsam in den Griff bekommen. Aber der von Saphienta vorgeführte Gott ist im Grunde derselbe Götze, den auch die neumodische Geistlichkeit anbetet: die menschliche Vernunft. Die Mittel zu seiner Bekämpfung sind: die Botschaft der ganzen Bibel und das reformatorische Bekenntnis.

IV. Positionsbestimmung im Rahmen der Heilsgeschichte (Naherwartung)

Der in so erschreckendem Masse sich vollziehende Abfall der Christenheit ist für Jung-Stilling ein eindeutiges Zeichen der Endzeit und der nahen Zukunft des Herrn. Der “goldene Uhrzeiger”, der die Zeit innerhalb der Heilsgeschichte anzeigt, steht auf 11! Das grosse göttliche Gericht steht vor der Tür. Der gekreuzigte und in der Gegenwart wieder neu bekämpfte Christus wird bald öffentlich in all seiner Majestät erscheinen. “Die Zeit ist nahe, und dein Heimweh ist sehr natürlich!” — bekommt der Kreuzritter gesagt.

Aber wer das Heimweh hat, kann es in der gegenwärtigen Situation nicht durch Flucht, sondern nur so bewähren, dass er im “letzten Kampfe” mitkämpft. Die Heimwehreise entzieht den Kreuzritter also nicht den Problemen der Gegenwart, sondern sie führt ihn mitten hinein in den Kampf für Christus. Die Untertanen Christi bekommen über Eilboten den Befehl, dass alle Aufträge mit gesteigerter Eile auszuführen seien. Während die Finsternis ihre ganze letzte Macht sammelt und zum grossen Kampf gegen das Reich des Lichts rüstet, gilt ebenso für die Kämpfer des Lichts die Parole: “Beschleunigt eure Geschäfte!” Und sie können es trotz aller Bedrohung mutig und siegesgewiss tun.

Denn wer seinen Blick erhebt, der erkennt: “der Morgenstern ist aufgegangen! Die Morgenröte glänzt über alle Berge.” Und auch wer sich sorgfältig umschaut, sieht: “der Feigenbaum blüht, und die schöne Jahreszeit beginnt.” Freilich, bis es vollends Sommer ist, gibt es noch harte Proben zu durchstehen. Ein weiteres Bild soll den Ernst der Lage veranschaulichen: “Deswegen ist es nun auch Zeit, dass wir unsere Türpfosten mit dem Blut des Osterlamms bestreichen, damit der Engel des Todes bei uns vorübergehen möge — und dann muss sich auch jeder zum Wegziehen nach Solyma bereithalten, damit er nicht zurückbleibe und dort in den ägyptischen Plagen umkomme”.16

Bei dieser geistlichen Positionsbestimmung wollte sich Jung-Stilling allein vom “Geist der Weissagung”, vom Geist der Heiligen Schrift, leiten lassen und sich dabei von der Art des Zeitgeistes, der alle Weissagungen leugnet, ebenso absetzen wie von der Art der Schwarmgeister, die die biblische Offenbarung nach eigenem Ermessen auf die Geschichte übertragen, so wie man “Leder über einen Leisten” schlägt. So zu handeln, ist “schnurgerade dem Willen Gottes … entgegen”, denn “wir können und dürfen die Zukunft nicht erraten”. Wohl aber sollen wir die Weissagungen der Heiligen Schrift “studieren und beherzigen …, um jederzeit zu sehen, wieviel Uhr es ist …; die Weissagungen sind des Christen Sonnenuhr und Kalender”. die Weissagungen zu beachten, bringt dem Christen einen dreifachen Gewinn: er wird in der Überzeugung der Wahrheit gefestigt, vor Irrtum und Verführung geschützt und auf die Ereignisse der nächsten Zukunft vorbereitet, so dass er entsprechende Massnahmen ergreifen kann. Insofern ist Jung-Stilling theologischer Weg zu einer zeitlichen bzw. heilgeschichtlichen Positionsbestimmung durchaus als reformatorisch zu bezeichnen (sola scriptura). Jedoch blieb Jung-Stilling seinen Prinzipien nicht immer ganz treu.17

E. Die Folgerungen aus der Beurteilung der Lage

 

I. Der Kampf gegen die Modephilosophie.

Den Kampf gegen die Modephilosophie zu kämpfen, um noch möglichst vielen Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen, ist zwar eines jeden Christen Aufgabe, speziell aber doch die der “Kreuzritter”, der Führer der christlichen Gemeinde. Für diesen Kampf müssen sie gründlich erzogen und gebildet werden. Dazu gehört insbesondere — was für die übrigen Christen nicht notwendig ist — die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Philosophie.

“Das Tier aus dem Abgrund aber oder der Unglaube … muss durch die erleuchtete Vernunft bekämpft werden …; denn mit eben den Waffen, womit man angegriffen wird, muss man sich auch verteidigen”. In der Argumentation des Kreuzritters muss deutlich werden, dass Glaube und Vernunft zusammengehören, ja dass die Vernunft im Glauben ihre Erfüllung findet. “Das eigentliche Geschäft der Kreuzritter unserer Zeit besteht in zwei Hauptstücken: erstlich müssen sie die Wahrheit der Religion in ihrem reinsten ursprünglichen Lichte aus Vernunft und Offenbarung dartun und gegen die ganze Macht der falschen Aufklärung verteidigen, und zweitens: durch dieses Mittel sowohl als durch weise Leitung, aber in genauer Abhängigkeit von der Vorsehung ohne Eigenliebe und Selbstgesuch, dem Reiche Jesu Christi soviel treue und bewährte Untertanen anwerben, als nur möglich ist, und diese dann alle durch die Lehre von der Versöhnung als dem einzigen wahren Vereinigungsmittel zur Einigkeit des Geistes zu bringen und darinnen zu erhalten suchen.”

II. Der Aufbau eines neuen Kirchentums

Wie der einzelne Christ, so muss auch die ganze Kirche die Heimwehreise nach Solyma unternehmen, d.h. sie muss einen weiten Weg zurücklegen, um aus den beklagenswerten gegenwärtigen Verhältnissen zu ihrem Ziel, den wahren Verhältnissen der christlichen Kirche, zu gelangen. Im Aufbau des Kirchentums von Solyma sind die für die christliche Gemeinde zu erstrebenden Verhältnisse abgebildet, nicht im Sinne eines Ideals, sondern des vom Wesen der Kirche her eigentlich selbstverständlichen Zustands.

Das Leben in Solyma ist vollständig der Leitung des “Parakleten” und den apostolischen Grundwahrheiten zu unterordnen. “Alles ruht auf guten Kirchenlehrern”. Darum dürfen in Solyma nur solche Männer Pfarrer werden, die die Versöhnungslehre am eifrigsten treiben und deren Leben und Wandel am vollkommensten ihrer Lehre entspricht. In Solyma wird eine eigene theologische Hochschule gegründet, um gute Pfarrer zu gewinnen. Dort dürfen nur solche Theologen Professoren sein, die in der theologia crucis gegründet und in der praxis pietatis geübt sind (vgl. die “Pia Desideria” von Philipp Jakob Spener).

Drei Elemente kennzeichnen die gesunde Lehre: das abgrundtiefe Elend des natürlichen Menschen; die unaussprechliche Liebe Gottes in Christi Leben, Leiden, Streben und Auferstehen; die innige Liebe zu Christus und zu den Menschen (vgl. Aufbau des Heidelberger Katechismus!). Um Schwärmerei abzuwehren, sollen in Solyma folgende Regeln gelten:
(a) die Gemeinde muss sich mit der lauteren Milch des Wortes Gottes zufrieden geben;
(b) nicht Gedanken und Gefühle, sondern die Gebote Gottes sollen Richtschnur christlichen Handelns sein;
c) Busse und Sündenbekenntnis sollen täglich geübt werden;
d) bereits die Anzeichen von Schwärmerei sollen der Gemeindeleitung berichtet werden;
(e) gefährdete Menschen müssen seelsorgerisch treu begleitet werden;
(f) niemand darf quietistisch-mystische Beschaulichkeit pflegen, sondern jeder soll sich fleissig einsetzen für die Sache des Herrn;
(g) die Gemeinde muss ein Leitungsamt mit öffentlicher Ordination und Verpflichtung auf Schrift und Bekenntnis einrichten;
(h) die Leitung muss mit besonderer Sorgfalt auf die Einigkeit im Geist und das Wachstum in der Heiligung achten;
(i) die Gemeinde braucht auch Gemeindezucht, die liebevoll und vergebungsbereit, aber auch streng und konsequent bis zum Ausschluss von Gemeindegliedern geübt werden soll.

Als Modell für das Leben der Gemeinde in Solyma dient die Herrnhuter Brüdergemeine — wegen ihrer “Kirchendisziplin und ihrer Erziehungsmethode”.

III. Aufbau eines neuen Staatswesens

Jung-Stilling wollte mit seinem “Heimweh” keine Utopie entwerfen, vielmehr sollte alles realisierbar sein — für die einzelnen Christen ebenso wie für die Kirche und für den Staat. Darum skizzierte er im vierten Teil des “Heimweh”-Romans im Gegensatz zur Losung der Französischen Revolution den Aufbau eines neuen, von den göttlichen Ordnungen her geprägten Staatswesens. Die gerechte Verteilung des Besitzes, überhaupt die soziale Gerechtigkeit, hat dabei eine herausragende Funktion.

Die Orientierungslinien für eine vor Gott verantwortliche Politik zeichnet der geübte Kameralwissenschaftler Jung-Stilling sehr genau: Gesetze für die Landwirtschaft (interessant z.B. ein Gesetz gegen die Konzentration des Besitzes und für die Einführung des Halljahres – jedes Gut muss alle 50 Jahre wieder an den ursprünglichen Besitzer zurückfallen); Verordnungen über den Städtebau (ganz modern z.B. die Anweisungen: jedes Haus muss von einer Grünfläche umgeben sein, die Proportionen zwischen bebauten und unbebauten Flächen müssen stimmen, am Rand der Strasse soll möglichst ein Bach fliessen, die Stadtverwaltung soll in kleinere Verwaltungseinheiten gegliedert werden); eine Fürstenethik (“wenn ein Fürst keinen anderen Zweck hat als Glück und Wohlstand jedes seiner Untertanen, wenn all sein Dichten und Trachten dahin geht, sie alle vor dem Luxus zu bewahren, und sie auf den Weg ihrer wahren Bestimmung, auf den Pfad der Heiligung zu leiten, und wenn ihm nun jeder seiner Untertanen folgt, werden sie dann nicht alle glücklich und wohlhabend werden?”); ein Universitätsstatut (die Universität soll nahe beim Tempel liegen, in keiner Disziplin darf es einen Lehrer geben, der nicht “wahrer Christ” wäre, mit jedem Studium muss “praktische Religionslehre” verbunden werden); ein Beamtenstatut (“überhaupt siehe bei der Besetzung aller Ämter in deinem Staat auf wahre Gottesfurcht! Ein bloss fähiger kann in Solyma so wenig ein Amt bekommen, als ein bloss gottesfürchtiger Mann, – Heiligkeit und Berufskenntnis gehören da unbedingt zusammen”); eine Militärverfassung (die Soldaten müssen täglich ihren Sold erhalten, keine verheirateten Männer dürfen als Soldaten dienen); eine Neukonzeption des Volksschulwesens (“lieber Gott! wie kann man bei wenigen Talern Besoldung erwarten, dass sich zu diesem und dem ganzen Schulunterricht fähige Männer mit diesem so äusserst mühsamen Geschäft befassen sollen?”); eine Neuordnung des Medizinalwesens (“höre Jüngling, willst du ein Arzt werden, so werde zuvor ein Christ. Wenn du nun kein Christ bist, so bist du ein Egoist…, und da gnade Gott den Kranken!”) gehört dazu.

Das von Jung-Stillings “Heimweh” verfolgte Ziel der Erweckung sollte demnach nicht bei der Rettung des einzelnen und nicht allein bei der Neuorientierung der Kirche stehenbleiben, sondern darüber hinaus auf die ganze Breite des gesellschaftlichen Lebens einwirken.

F. Die Wirkung des Romans

Es ist Jung-Stillings Verdienst, dass er in einer Zeit des allgemeinen Abfalls vom Glauben die Zuversicht auf den Sieg Jesu Christi und seines kommenden Reiches weckte; dass er in einer Zeit, in der man der Kirche Jesu Christi den Untergang bescheinigte, dazu aufrief, das entchristlichte Volk wieder zum Glauben zu rufen und das Evangelium in die Welt zu tragen, anstatt vor dieser Aufgabe zu resignieren. Die Wiederbelebung dieser gemeinhin für überholt und überwunden gehaltenen Glaubenshaltung und Glaubensziele erregte nach Jung-Stillings eigenen Worten eine “starke und weit um sich greifende Sensation”.

Im Jahr 1804 berichtet er von dem “beispiellosen Beyfall, den dies Buch hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach Amerika, wo es häufig gelesen wird. In Asien, wo es christlich gesinnte Deutsche giebt, wurde das Heimweh bekannt und gelesen. Aus Dännemark, Schweden und Russland bis nach Astrakan, bekam Stilling Zeugnisse dieses Beyfalls. Aus sämtlichen Provinzen Deutschlands erhielt Stilling aus allen Ständen vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die ihm den lautesten Beyfall bezeigten; nicht wenige gelehrte Zweifler wurden dadurch überzeugt, und für das wahre Christhentum gewonnen … Es wirkt wie ein Ferment in allen vier Welttheilen… ” Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, und in manchen fernen Ländern bildeten sich unter der Lektüre dieses Buches und zur Besprechung seiner Themen regelrechte “Stillingsgemeinden”. Die Wirkungen dieses Buches waren wohl grösser, als man normalerweise annimmt, und seine Bedeutung höher, als man ihm gemeinhin zugestehen möchte. Das “Heimweh” wurde zur Programmschrift der Erweckung in Deutschland und wirkt noch weit darüber hinaus.

Jung-Stilling ahnte aber auch: “Es wird einmal eine Zeit kommen, wo einer etwa in einem Winkel oder in einer alten Büchersammlung, die verauktioniert werden soll , ein verlegenes, längst vergessenes Buch von vier Teilen finden und den Titel ‘Das Heimweh von Heinrich Stilling’ lesen wird…, so wird er sagen: Es gab doch auch damals Leute, die in jenen dunklen, trüben und verworrenen Zeiten in die Zukunft sahen und ein anderes ahnen konnten. Ja! Ja! Lieber Urenkel! Wer du auch sein magst, wir haben ein festes prophetisches Wort, und ihr tut wohl, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort… “.

Und selbst an bissiger Kritik hat es Jung-Stilling bereits nach dem Erscheinen seines “Heimweh”-Romans nicht gefehlt. Eine “abenteuerliche Geburt” nennt eine Rezensent im Jahre 1796 Jung-Stillings Roman.18 “Schwärmerisch, geistleer, sachenarm, märchenhaft, läppisch, zwecklos, unsinnig” sei sein Inhalt. “Mit der besten Absicht von der Welt und in der Hoffnung, doch irgend eine brauchbare Seite ausfindig zu machen, hat Rec. die beiden dicken Bände geduldig durchblättert; weil es ihm ganz unwahrscheinlich schien, dass ein mit reger Einbildungskraft ausgestatteter, im Darstellen geübter und mit mancherlei Kenntnissen versehener Kopf so in den Tag hineinsudeln sollte. Und doch ist gewiss, dass unter allen schwärmerischen Produkten, womit man seither uns heimgesucht hat, Vorliegendes für eines der langweiligsten, dürresten und mithin abgeschmacktesten gelten kann.”

Ein anderer Rezensent findet in Jung-Stillings “Heimweh” nichts als “mystische Gefühlsphilosophie und sinnliche Religionsbegriffe”, Produkt einer “überspannten Imagination”. Was der Verfasser über die eigentliche Probleme des menschlichen Lebens zu sagen hat, sei “äusserst schwach und unbedeutend”, die Anlage und Ausführung des Romans sei “dürftig”, dennoch sei eine “gewisse, zuweilen sich zur Belebung erhebende Wärme des Stoffes hin und wieder nicht zu verkennen”. Herablassend spöttelt der Rezensent: “Vielleicht erbauen sich im 20. Jahrhundert die Kolonisten in Neuholland … an dem Heimweh unseres … Stilling”.19

Und wieder ein anderer Kritiker lässt Jung-Stilling wissen, dass er im “Heimweh” nichts als “geistlichen Hochmut” fand, geistig und theologisch so unerträglich Kost, dass er nie mehr “auch nur ein Blatt” von Jung-Stilling zu lesen gedenke.20 Und er resümiert:

“Es huldige dem Stilling, wer da wolle,
er ist und bleibt ein Menschenfeind,
Verwünschung dem, dem unsere Erdenscholle
Ein Schauplatz von Verdammten scheint.

Des Weltbaus Weiten haben wir gemessen,
der Sterne Bahn sehn wir frei,
und sollten dennoch uns soweit vergessen,
daß Stillings Träume Wahrheit sey?

Ins Irrenhaus mit allen solchen Schächern,
die hinterm Schild der Bibel stehn,
und so doch selbst zu heilgen Sündenrächern
der Menschheit wagen aufzublähn.”

Schliesslich fand ein berühmter Literaturkritiker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Georg Gottfried Gervinus, die Schilderung der Heimwehreise in Jung-Stillings Roman nur “peinlich und gespenstig” und beklagt, dass Jung-Stilling “immer mehr in die Blödheit seiner Jugend” zurückfällt.21

Aber aller Kritik und allem Spott zum Trotz nahm das Buch, das Jung-Stilling unter Gebet und Flehen geschrieben hatte, seinen Lauf zu hoch und niedrig, zu alt und jung, im Inland und Ausland, zeigte vielen unter den Anfechtungen der Zeit leidenden Menschen den Glaubensweg und wirkte somit kräftig zur Förderung des Reiches Gottes. Es hat wirklich reiche Frucht getragen.

In vielen Teilen ist Jung-Stillings “Heimweh” aktuell geblieben, in anderen gar noch aktueller geworden als es damals war. Und insgesamt kann es auch heute noch als gültige Wegbeschreibung für die Pilgerschaft des Christen dienen.22 Vor allem aber gilt heute wie damals Jung-Stillings Leitspruch:

“Selig sind, die das Heimweh haben,
denn sie sollen nach Hause kommen”.

Anmerkungen

1 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Fünfter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 267.

2 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Fünfter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 266.

3 Vgl. die ausführliche Analyse der Romane “Die Geschichte des Herrn von Morgenthau” (1779), “Die Geschichte Florentins von Fahlendorn” (178–83), “Leben der Theodore von der Linden” (1783) sowie “Theobald oder die Schwärmer” (1784–85) bei Otto W. Hahn: Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung. Sein Leben und sein literarisches Werk 1778 bis 1787. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris (Peter Lang) 1988, S. 173–376 sowie S. 429–494 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, Bd. 344) sowie Hans Grellmann: Die Technik der empfindsamen Erziehungsromane Jung-Stillings, neu hrsg. von Erich Mertens. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1993.

4 Vgl. die Beschreibung dieser Wende bei Otto W. Hahn: Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung, S. 495–512 (hier am ausführlichsten); auch bei Otto W. Hahn: Jung-Stillings Weg zur Erweckung, in: Badische Landesbibliothek (Hrsg.): Jung-Stilling. Arzt, Kameralist, Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung (Ausstellungs-Katalog). Karlsruhe (Badische Landesbibliothek) 1990, S. 165–182 sowie bei Otto W. Hahn: Johann Heinrich Jung-Stilling. Wuppertal, Zürich (R. Brockhaus) 1990, S. 114–131 (R. Brockhaus Taschenbuch Bd. 1108).

5 Auszug eines Briefes Jung-Stillings vom 7. Januar 1801 an Wilhelm Berger, abgedruckt bei Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe, mit Anmerkungen, hrsg. von Gustav Adolf Benrath, 3. Aufl. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1992, S. 689.

6 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 5), S. 452.

7 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Fünfter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 269 f.

8 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte (Anm. 5), S. 491 f.

9 Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Frühlingstage, in: Christoperpe. Ein Taschenbuch für christliche Leser auf das Jahr 1836, S. 167.

10 Brief Jung-Stillings vom 15. Juni 1796 aus Marburg an den Markgrafen Karl Friedrich von Baden. Generallandesarchiv Karlsruhe, Grossherzogliches Familienarchiv 5, Correspondenz Band 31, Nr.2. – Vgl. auch Brief Jung-Stillings vom 16. Oktober 1796 an Karl Friedrich Adolf Steinkopf (Universitätsbibliothek Basel, ACG DV/16/138): “Das Heimweh enthält das reine System der Heiligung unter allegorischen Bildern.” – Vgl. ferner Brief Jung-Stillings vom 23. November 1809 an Christian Friedrich Spittler (Staatsarchiv Basel, Spittler-Archiv; PA 635; V 19): das Heimweh hat “zum Zweck”, dass es “einen wahren Christen vorstellt”.

11 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Vierter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 8.

12 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Vierter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 8.

13 Brief Jung-Stillings vom 15. Juni 1796 an Karl Friedrich von Baden (s. Anm. 10).

14 Brief Jung-Stillings vom 15. Juni 1796 an Karl Friedrich von Baden (s. Anm. 10).

15 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Fünfter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 268.

16 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Grossherzoglich Badischer geheimer Hofrath, sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten, Fünfter Band. Stuttgart (J. Scheible’s Buchhandlung) 1835, S. 250. — Auf die in der Literatur mehrfach geäusserte Behauptung, Jung-Stilling habe mit seinem “Heimweh”-Roman die grosse schwäbische Auswanderungsbewegung ausgelöst, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. die kurze Stellungnahme bei Otto W. Hahn: Johann Heinrich Jung-Stilling (Anm. 4), S. 158–164.

17 Vgl. beispielsweise Jung-Stillings Erklärung zu Offenbarung 16, 1 ff. (die Schale des ersten Engels wurde im Jahre 1789 ausgegossen) und zu Offenbarung 20, 1 ff. (die Gefangennahme des Satans geschieht voraussichtlich im Jahre 1836) in seinem (ohne Verfassernamen erschienenen) Buch: Die Siegsgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnüzigen Erklärung der Offenbarung Johannis. Nürnberg (Raw’sche Buchhandlung) 1799, S. 445, S. 538.

18 Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Kiel, Bd. 28 (1796), S. 166. Nicht weniger ablehnend: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Kiel, Bd. 29 (1797), S. 315–317.

19 Johann Erich Biester (Hrsg.): Berlinische Monatsschrift, Bd. 27 (1795), S. 316 ff.

20 Fragment betr. Jung-Stilling, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Giessen, Signatur Hs. 105 b, “exp. an Jung nach Karlsruhe den 12. August 1814.”

21 Intelligenz-Blatt für die Kreise Siegen, Wittgenstein und Altenkirchen, Siegen, 23. Februar 1844, S. 63. — In Stillings “Theorie der Geister=Kunde” (1808) sieht Gervinus Jung-Stilling “völlig zu jenen Volksklassen gleichsam herabgesunken, aus denen er sich anfangs emporgehoben hatte”, indem er dort “den trivialen Köhlerglauben” in ein System bringe.

22 Zur 200. Wiederkehr der Erstauflage erschien im Verlag am Goetheanum zu Dornach eine vollständige, ungekürzte Ausgabe, hrsg., eingeleitet und mit Anm. sowie einem Glossar versehen von Martina Maria Sam. Leider fehlt dem hervorragend ausgestatteten Band ein Stichwortverzeichnis.

Consider the lilies of the field, whose bloom is brief. We are as they. Like them we fade away, as does the leaf.

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